1930, am Vorabend ihrer Hochzeit, stahlen sich Anni und Arkadiusz davon und eilten zu ihrem neuen Zuhause. Dort sang und tanzte meine Schwester für Arkadiusz in einem Kleid mit beigefarbenen Rüschen, das sie nur zu einem Zweck angezogen hatte: damit er es von ihrem Körper streifte. Das Kratzen des rauen Stoffes auf ihrer Haut fühlte sich an, als schäle sie sich aus überflüssigem Früher und schlüpfe in ein frisches, straffes Jetzt. Nur einmal unterbrach sie ihren wiegenden Tanz und hielt inne, weil sie dachte, sie hätte eine fremde und doch vertraute Stimme gehört. Mich. Sie atmete Arkadiusz’ Geruch, den er bei jedem Durchtauchen des Moorsees erneuerte, und sein Atem verriet ihr, dass tief in ihm viel Gutes schlummerte. Nackt sang sie seinen Namen, und so viele Möglichkeiten es gab, diesen auszusprechen, gab es auch Gründe, Arkadiusz Kamil Driajes zu lieben.
Als Fremden hatte sie ihn nach Segendorf gebracht, in Erwartung des Üblichen: Argwohn-Blicke, Klöble-Rufe, Mistgabel-Drohgebärden.
Zu Recht. Keine fünf Minuten nach Überschreiten der Dorfgrenze spuckte die Wirtin vor Arkadiusz auf den Boden, der Hufschmied Schwaiger applaudierte, und ein erbost dreinblickender Jemand winkte Anni zu sich. Und was machte Arkadiusz? Er ließ Annis Hand los, steuerte den Jemand an und ergriff, ehe der wusste, wie ihm geschah, seine Hand. Arkadiusz schüttelte sie fest, mit seiner dienerhaft-gekrümmten Körperhaltung, und gratulierte dem Jemand zu dessen traumhafter Bauernhütte. Da Anni wusste, wie hässlich Prügeleien in Segendorf endeten, kniff sie die Augen zu. Als kein wütender Aufschrei folgte, wagte sie einen zweiten Blick: Der Hufschmied Schwaiger applaudierte nicht mehr, der Jemand hielt noch immer Arkadiusz’ Hand, und sein Gesichtsausdruck war für einen solchen Tag, an-dem-ein-Pole-ohne-Vorwarnung-mit-der-Stieftochter-händchenhaltend-Segendorf betrat, ausgesprochen freundlich, auch skeptisch, ja – aber in seinen Augenwinkeln, da blitzte Sympathie auf.
In dieser Nacht erlaubte er Arkadiusz, auf einem Haufen Stroh im Schuppen zu übernachten, und in der darauf vor dem Kamin in der Stube.
Das war noch lange nicht alles. Im Dezember kippten Markus und Konsorten einen Eimer Schweineblut über Arkadiusz’ Kopf aus und fanden das ziemlich komisch; schon im Januar halfen sie ihm, die Ruine unseres alten Hauses abzureißen – eine Demonstration seines Luftanhaltetricks hatte Eindruck hinterlassen. Im März setzte kaum das Tauwetter ein, da sägte, bohrte und hämmerte der halbe Ort an einem neuen Zuhause für das künftige Brautpaar.
Für Arkadiusz war alles eine Sache der Geduld. Segendorfer waren nichts anderes als Fische in einem zugefrorenen See; um sie zu fangen, musste man nur lange genug das Eisloch bewachen. Er grüßte und grüßte und grüßte, lächelte und lächelte und lächelte, bat und bat und bat und fragte und fragte und fragte. Tage-, manchmal wochenlang schenkte man ihm keine Beachtung und er hielt einfach die Luft an. Wenn er etwas beim Circus Rusch gelernt hatte, dann dies: weitermachen. Der Vorrat an menschlicher Geduld war begrenzt, außer bei ihm, irgendwann erreichte er immer den Punkt, an dem man zurückgrüßte, lächelte, ihm einen Gefallen tat, antwortete. Und dann schnappte er zu und fing den Fisch.
Für Anni dagegen war und blieb Arkadiusz in gewisser Weise ein Wechsling. Als solcher konnte er jede Form annehmen, die ihm einen Vorteil verschaffte: Für die Witwe des Bauern Obermüller war er der Bauer Obermüller und für die Jemands ein gut erzogener Lakai. Für Anni selbst war Arkadiusz mal unsere Mutter oder unser Vater, solange er sie an sich drückte, mal ich, wenn sie herumtobten, mal ein bockiger Sohn, sobald sie versuchte, ihm Lesen und Schreiben beizubringen, mal ein vierunddreißigjähriger, reifer Mann.
Für jemanden wiederum, der ein wenig tiefer blicken konnte, war Arkadiusz bloß ein Fremder, der von den Segendorfern toleriert wurde, weil sie froh waren, Anni, die Tochter der Habom-Geschwister, der Mörder Nick Haboms, die in ihrem eigenen Haus verbrannt waren, endlich loszuwerden, ein vierzehnjähriges Mädchen, das fanatisch seinen Körper reinigte, Markus um ein Stück Kopfhaut beraubt hatte, durch die Wildnis wanderte, mit der Klöble Mina spielte. Eine schlechte Partie für jedes Mannsbild. Gut, wenn ihre Liebe einen von außerhalb traf.
Welche Variante auch immer zutrifft, sicher ist nur, dass jede zu der Nacht vor ihrer Hochzeit führt, in der Anni für Arkadiusz in ihrer neu gezimmerten Stube sang und tanzte und sich ihm zum ersten Mal ganz ohne lästige Kleidung zeigte. Dank der großzügig verteilten Liebsten Besitze aus ihrem alten Zuhause wirkte das Zimmer wie seit Langem bewohnt. Grünes Leuchten war der Ausgleich für so viel Verbranntes: Überall drängten sich Blumentöpfe, hingen Zweige von Balken oder kletterten an ihnen hinauf, streckten sich Blätter den Fenstern entgegen, verströmten süßlichen Duft und begleiteten mit Zittern Annis Tanz, die sich wie eine ungeschickte Ballerina auf der Stelle drehte und Arkadiusz’ Namen sang. Ihm fielen die schiefen Töne gar nicht auf, solange er ihren Fischmund betrachten, ihr Haar riechen, einen Schatten auf ihre weiße Haut werfen konnte, hörte sich nichts falsch an. Und es fühlte sich auch nicht falsch an, dass er seiner Familie noch immer nicht zu Hilfe geeilt war; in Segendorf zu bleiben, sagte er sich, bedeutete ja, er könne in der Umgebung weiter nach dem Gold suchen. Auch wenn der eigentliche Grund, wie er sehr wohl wusste, ein anderer war: Arkadiusz war glücklich mit seinem Leben wie nie zuvor, und indem er Anni heiratete, würde er diesen Zustand ausdehnen, ihren Tanz unendlich machen.
Nun stand sie vor ihm, so nah, dass ihr Atem sein Gesicht streifte. Splitternackt wuchs sie über ihn hinaus. Sie sah ihn an, sah ihn mit funkel-glitzer-leuchtenden Augen an, und als er die Hand nach ihr ausstreckte, klopfte es an der Tür, und Anni wich zurück. Sie runzelte die Stirn, wickelte sich in eine Strickdecke und zog die Tür auf. Arkadiusz konnte mich draußen im Dunkeln sicher nicht erkennen, aber er beobachtete etwas, das er seit Monaten nicht mehr gesehen hatte:
Anni schüttelte den Kopf.