In dieser Nacht fand Albert keinen Schlaf. Er betrachtete einen fingernagelgroßen, sternförmigen Leuchtaufkleber auf dem Balken über dem Bett. Den hatte er, als er jünger war, jeden Abend so lange angesehen, bis ihm die Augen zugefallen waren; er hatte es als tröstlich empfunden, dass dieses winzige Licht für ihn leuchtete, trotzig gegen die Schwärze einer Nacht auf dem Land anleuchtete.
Aus einer Schublade im Bettkästchen entnahm er einen angegilbten Zeitungsartikel. Die zweite Aprilausgabe des Oberlandboten von 1977. Gleich auf Seite 1 begann ein Bericht von Frederick A. Driajes, den Albert als Kind oft vor dem Schlafengehen gelesen hatte. Er trug den Titel:
Der Tag, an dem der Bus die Haltestelle angegriffen hat
An dem Tag, an dem der Bus die Haltestelle angegriffen hat, war der Regen so stark wie sonst nie. Jeder Tropfen war einzeln! Ich warte nie in dem Haus aus Holz, das man gebaut hat, damit die Leute nicht naß werden. Da drin hängt ein großes Bild von einem Clown von einem Zirkus, der Rusch heißt. Seine Augen sind schwarz und glänzen und man kann alle seine Zähne sehen. Ich warte lieber im Regen. Dafür habe ich ja meinen Poncho! Die Haltestelle von Königsdorf ist genau bei der Hauptstraße. Jeder, der durch Königsdorf fährt, fährt da vorbei. Die Autos haben alle Farben. Aber ich zähle nur die, die grün sind wie meine Augen. Einmal habe ich fast fünfzig grüne gezählt – das sind schon fast über fünfzig grüne Autos! Da ist auch noch ein Schild. Auf dem steht 479. Weiter weg steht der Glockenturm von der Kirche. Wenn es zwölfmal gongt, ist es zwölf Uhr und ich gehe nach Hause zum Mittagessen. Der 479, der um 6:30 Uhr kommt, war der Bus, der die Haltestelle angegriffen hat. Er ist aber schon um 6:15 Uhr gekommen! Der 479 ist bestimmt dreihundert Kilometer schnell gerast. Weil ich jeden Tag an der Haltestelle warte, kann ich das gut rechnen. Selbst wenn ich noch nie mit einem Bus gefahren bin. Ich werde nie mit einem Bus fahren. In einem Bus kann man tot werden.
Außer mir war da auch noch der Herr Strigl. Der Herr Strigl ist ein kleiner Mann mit Schnurrbart. Er arbeitet als Fahrlehrer. Aber er hat zu schnell gearbeitet und muß jetzt mit dem Bus fahren. Auch die Frau Winkler hat auf den Bus gewartet mit ihrem kleinen Kind. Mama sagt, die Frau Winkler ist ambrosisch. Wenn man einen ambrosischen Menschen sieht, dann ist das, wie wenn man gar nichts anderes sieht. Man kann nichts anderes sehen. Und wenn man doch etwas anderes sieht, dann sieht das wie gar nichts aus. Und dann hat auch noch ein Mann in einem Mantel auf den Bus gewartet. Mama kennt ihn nicht. Ich habe immer komische Sachen über ihn gedacht. Der Mann war wie die Spinne in meinem Zimmer. Ich stelle mir immer vor, daß sie über mein Gesicht geht, wenn ich schlafe. So war das auch mit dem Mann im Mantel. Ich habe nicht gedacht, daß er nachts über mein Gesicht geht, ich habe nur gedacht, daß er etwas macht, was ich nicht mag. Er hat nie gelächelt. Er war immer neben dem Bild von dem Clown und er hat nie geredet.
Am liebsten will ich den Punkt festhalten, bevor der Bus die Haltestelle angegriffen hat. Damit es nicht weitergeht und der Bus nie kommt. Aber die Zeit ist nichts Richtiges. Die Zeit ist nicht so wie der Flitzer oder mein Lexikon. Die Zeit kann man nicht anfassen. Die Zeit kann man nicht hören. Man kann sie auch nicht riechen. Oder schmecken. Oder sehen. Nicht richtig. Eine Uhr ist ja eine Uhr und nicht die Zeit selber. Deswegen kann man die Zeit nicht festhalten. Aber ich kann sie in kleine Stücke machen. Das habe ich auch gemacht, als der Bus die Haltestelle angegriffen hat. Und wenn ich die Augen zuhabe, dann kann ich das immer wieder machen. Ich sehe dann alles, ich sehe die ganzen kleinen Stücke von der Zeit. Ich sehe den Bus, der kommt ganz langsam zu mir, auch wenn er in echt ganz schnell war, seine Räder drehen sich und seine Scheiben glänzen vom Wasser vom Regen und seine Scheinwerfer sind viel weißer als normal. Ich sehe das Bild, auf dem der Clown mit seinem Mund lacht, wie wenn er Luft schlucken will. Ich sehe, daß der Bus sich so komisch nach rechts und links bewegt. Ich sehe die Frau Winkler, die ihren Babywagen packt, aber ihn nicht schieben kann, weil, der Mann im Mantel will weglaufen und knallt gegen den Babywagen. Ich sehe den Herrn Strigl, der den Mann mit dem Mantel voll anschreit. Ich sehe viele schwarze Vögel am Himmel. Ich sehe das Kind von der Frau Winkler, das im Babywagen mit den Händen fast kleine Fäuste macht. Ich sehe den Glockenturm.
Nur am Anfang und dann nicht mehr denke ich, dass ich jemanden totmachen muß. Das ist ein Gefühl, das ist weit weg von ambrosisch. Dafür gibt es überhaupt gar kein Wort. Der Mann im Mantel schubst die Frau Winkler, damit er wegrennen kann. Der Herr Strigl faßt die Frau Winkler an und zieht sie weg. Der Bus sieht schon doppelt so groß aus wie der normale Bus und die Scheinwerfer sind hell wie eine Sonne und noch eine Sonne. Der Mann im Mantel läuft vor dem Bus weg. Hinter dem Fenster vom Bus sitzt Ludwig, mit dem hab ich schon gespielt, wie ich klein war. Der Clown auf dem Poster sieht so echt aus, wie ein häßlicher Mensch sieht er aus, und lacht und benutzt lauter Wörter, die man gar nicht benutzen darf. Auf dem Glockenturm haben sich die Zeiger noch gar nicht bewegt. Mein Mund schmeckt ganz schlecht und mein Magen tut weh. Der Herr Strigl macht ein Gesicht, das gar nicht wie er aussieht, weil die Frau Winkler nicht will, dass er sie zieht, weil sie ja zu dem Babywagen will. Der Mann im Mantel läuft in das Häuschen von der Bushaltestelle. Der Bus macht ein Geräusch, das schon fast so hoch ist, daß es nur Hunde hören können, aber ich kann es noch hören. Die Wörter, die der Clown benutzt, sind sehr schlimm, sie machen mir ein hartes Gefühl in meinem Bauch, das ich noch nie gehabt habe, und seine Augen glänzen ganz schwarz. Das Kind von der Frau Winkler hat keine Fäuste mehr, es zappelt wie eigentlich oft. Die Vögel am Himmel fliegen immer noch. Der Herr Strigl hört nicht auf, die Frau Winkler zu ziehen. Woher das kommt, weiß ich nicht, aber ich höre Mari oder Marine oder Mina. Mir ist schlecht. Die Augen von der Frau Winkler sind rot und naß vom Regen, aber vielleicht weint sie auch, und sie schlägt den Herrn Strigl, weil der sie nicht loslässt.
Ich will jetzt etwas tun, wie mein Paps, ich will nicht nichts sein, ich will der Frau Winkler und ihrem Kind und dem Herrn Strigl sagen, daß sie weglaufen müssen, und das Plakat von dem Clown will ich kaputt machen, und sogar dem Mann im Mantel will ich helfen, aber ich weiß, ich kann nur ganz wenig machen, weil, der Bus ist viel zu schnell und alles ist schon viel zu spät.
Aber ich merke, daß ich den Poncho nicht mehr anhabe, der liegt neben mir, und dann denke ich, daß ich ohne Poncho vielleicht schneller sein kann, und dann renne ich los. Der Herr Strigl will mit der Hand, mit der er die Frau Winkler nicht festhält, mein Hemd nehmen, und ich glaube, er will eigentlich nett sein. Der Clown macht Harr-Harr-Harr, er macht Harr-Harr-Harr, und das klingt wie Kater Karlo. Die schwarzen Vögel tun so, wie wenn der Bus die Haltestelle gar nicht angreift, weil, sie wollen kreisen, weil, Mama sagt, sie warten auf noch mehr Vögel. Ich schlage dem Herrn Strigl ins Gesicht, damit er die Frau Winkler losläßt, und ich spüre alle meine Finger und dabei fühle ich mich ganz kurz ambrosisch, dabei weiß ich, daß man sich sehr schlecht fühlen muß, wenn man so was macht. Die Frau Winkler wird jetzt frei und fällt auf den Boden. Das Fenster vom Bus geht kaputt und Ludwig fliegt durch, wie wenn er fliegen kann, und die vielen kleinen Glasteile glitzern schön. Die Augen von dem Herrn Strigl werden groß. Der Bus ist viel langsamer jetzt, und wo seine Räder sind, da spritzt er etwas, das sieht aus wie kleine Stückchen Feuer, aber der Bus ist immer noch viel zu schnell für ein Kind und für mich und für den Herrn Strigl und für den Mann im Mantel. Der grosse Zeiger auf dem Glockenturm bewegt sich, glaube ich, ein bißchen. Der Mann im Mantel versteckt sich in dem Haus aus Holz. Ich nehme das Kind von der Frau Winkler aus dem Babywagen und es schreit so, daß mir die Ohren wehtun, und es fühlt sich an wie ein kleiner Hund und ich wünsche mir, ich wünsche mir, daß mein Paps hier ist und mir hilft und uns wegträgt. Es ist sehr schwer, nicht nichts zu sein. Ludwig fliegt gegen das Rohr an dem Häuschen von der Haltestelle, wo das Wasser vom Dach durchgeht, und die vielen kleinen Glasteile vom Fenster vom Bus, das es jetzt nicht mehr gibt, sehen aus wie Hagel. Der Herr Strigl steht nur da und schaut zum Bus und sieht aus wie ein Baum, der nicht weiß, was passiert, wenn der Bus ihn trifft. Harr-Harr-Harr, macht der Clown. Ich schreie zu dem Herrn Strigl, er soll weggehen, aber er bleibt stehen, wie wenn jemand das mit ihm gemacht hat, was Menschen in der Wüste mit Schlangen machen. Die Frau Winkler, die am Boden liegt, streckt ihre Arme nach mir aus. Der Mann im Mantel ist in einer Ecke von dem Haus aus Holz und ich schreie zu ihm, daß er weggehen soll, Mann im Mantel, schreie ich, geh weg, schreie ich, der Bus kommt, aber der Mann im Mantel macht nichts. Der große Zeiger am Glockenturm bewegt sich jetzt. Ludwig fällt neben dem Häuschen von der Haltestelle auf den Boden und sein Hals sieht so rot aus wie echtes Blut, aber sein Mund ist ein großes Lächeln. Ich fühle mich, wie wenn ich keine Kraft mehr habe, und ich stelle mir vor, daß nicht ich in mir drin bin, nein, mein Paps ist in mir drin, und er hat mit den vielen Muskeln noch sehr viel Kraft, so viel, daß er alle retten kann, bevor der große Zeiger am Glockenturm stehen bleibt. Und dann bin ich mein Paps und das ist ein ganz schlimmes Gefühl, weil, ich merke, wie wenig mein Paps da ist, und dann springe ich, und der Bus bläst dicke Luft, die mich zur Seite drückt. Der Bus kommt und fällt schief und nimmt den Herrn Strigl mit und den Babywagen und versteckt den Mann im Mantel. Das ist ein Quietschen, das mir in die Ohren haut, und jetzt greift der Bus die Haltestelle an, und den Clown, und das Harr-Harr-Harr hört endlich auf, und der Bus macht das Holz von der Haltestelle kaputt und bleibt hinten stecken und es stinkt wie an der Tankstelle, und das Holz macht Geräusche, wie wenn es ihm nicht gutgeht, und dann fällt das Holz über dem Bus zusammen, weil es total kaputt ist, und dann ist da noch ein Schlangengeräusch, und dann wird es leise, und ich höre die Frau Winkler, sie weint, und ich gebe ihr ihr kleines Kind, und ich sehe den Bus und die Haltestelle, die es nicht mehr gibt, und auch Ludwig und den Herrn Strigl und den Mann im Mantel gibt es nicht mehr, und das tut mir leid, es tut mir leid, ich bin gar nicht wie mein Paps, ich bin nichts, das ist sehr wahr, ich bin nichts und das ist die ganze Geschichte, das ist alles, und mehr habe ich nicht gesehen, und das tut mir leid, es tut mir leid, und ich will die ganzen Sachen alle nie wieder sagen, und auch nicht erzählen, nein.
Wenn Albert den Bericht heute, als Neunzehnjähriger, las, erkannte er darin einiges wieder, was ihn an Fred störte, vor allem seine Art zu übertreiben und Dinge so darzustellen, dass man nie verlässlich sagen konnte, ob das nun an seiner geistigen Behinderung, seinem Charakter oder an einer Kombination von beidem lag.
In seiner Kindheit aber, daran erinnerte er sich sehr gut, hatte er Fred dafür, dass man ihn einen Helden nannte, über alles geliebt. Damals hielt er Fred für einen noch größeren Helden als He-Man oder Raphael, den Turtle mit rotem Bandana, der nach einem anderen Raphael benannt worden war, für den Schwester Simone schwärmte. In Sankt Helena gab Albert mit Fred an und zog damit den Neid und die Feindseligkeit von Waisenknaben auf sich, die nicht nur keinen Helden als Vater hatten; die hatten nicht einmal einen Vater. Warum er in Sankt Helena lebe, wenn Fred so toll sei, fragten sie und wackelten hämisch mit den Köpfen – Albert ignorierte das. Schwester Alfonsa hatte ihn auf solche Situationen vorbereitet; er folgte ihrem Rat, streckte den anderen Kindern nicht die Zunge raus und sagte sich, die wollten, weil sie niemanden hatten, so wie er sein, die seien nur neidisch und von einfachem Gemüt. Und das half Albert, der als Einziger von den Jüngeren im Waisenhaus wusste, was Gemüt bedeutete. In Sankt Helena bevorzugte Albert die untere Matratze im Stockbett, einerseits, weil er kein Freund von Höhen war, andererseits, damit er am Lattenrost über sich das befestigen konnte, was er als Letztes vor dem Einschlafen sehen wollte: Freds Bericht. Schon damals hatte er zu Fred nie Vater gesagt. Als Einjähriger hatte er ihn Ped, dann mit zwei Fed und danach für einige Monate stolzspuckend Fred genannt. Das hatte ihm Anni so beigebracht. Und nach deren Tod wollte Schwester Alfonsa, dass es dabei blieb. Was Albert verwirrte. Oft wollte er ihn Papa rufen, mit einem langgezogenen zweiten a, das den Rachen weit und den Kopf frei machte. Fred wellte seine Zunge und klang wie eine verstimmte Türklingel. Dennoch vertraute er der Ordensschwester, denn trotz seiner Verstandesreife war er immer noch klein genug, um zu glauben, dass Erwachsene, zu denen er auch Fred zählte, alles wussten und stets das Richtige taten.
Erst mit fünf erkannte er seinen Irrtum.
Bei einem Besuch in Königsdorf lagen sie, wie so oft, auf der Chaiselongue im Wohnzimmer vor dem Fernsehgerät (nicht dem Fernseher, wusste Albert schon mit fünf Jahren; nur Menschen konnten Fernseher sein, und solche, die ein Fernsehgerät als Fernseher bezeichneten, hatten schon zu lange vor ebendiesem gesessen). Albert erinnerte sich nicht mehr daran, welches Programm damals lief. Darauf hatte er nie Wert gelegt, ihm ging es immer allein darum, sich an Fred zu schmiegen und dessen nie erlöschende Wärme zu spüren, wie auch an jenem Abend, an dem Albert, weil er aufs Klo musste, sich von Fred löste, der den Blick für keine Sekunde vom Fernsehgerät abwendete. Nachdem Albert auf der Toilette die Spülung gedrückt hatte, wartete er Fred zuliebe, bis sie keine Wassergeräusche mehr von sich gab, ehe er die Tür wieder öffnete. Als er zurück ins Wohnzimmer hopste, nah dran am Wunschlos-glücklich-Sein, sah er es.
Noch bevor Albert Schwester Alfonsa zum ersten Mal im Schach schlagen sollte, noch bevor er seine Deutschlehrerin mit aus Zitaten deutscher Schriftsteller komponierten Aufsätzen beeindrucken sollte (ohne je erwischt zu werden), noch bevor er damit beginnen sollte, die englische Originalversion seines Lieblingsbuches, The Hobbit or There and Back Again, auswendig zu lernen, noch bevor er einen streunenden Hund Maxmoritz taufen und dressieren sollte, Wurst aus der Küche zu klauen, noch bevor er, gelangweilt vom inflationären Gebrauch von Kindergartenschimpfwörtern wie etwa Doofian oder Kackarsch, seine Neider als Kretins bezeichnen sollte, noch bevor er Kretins, die bei Schulprüfungen durch die Bank weg schlechter als er abschnitten, erläutern sollte, dass Einstein nie ein schlechter Schüler gewesen war, sondern nur Schweizer – noch bevor all dies geschah, begriff Albert zum ersten Mal, wie wenig sein Vater begriff.
Fred lag unverändert auf der Chaiselongue, sein Blick aber erreichte nicht das, was im Fernsehgerät lief. Die Doppeldeutigkeit hätte Schwester Alfonsa entzückt: Fred schaute fern. Mit der konzentrierten, aber eindeutig verzweifelten Miene eines auf einer Insel Gestrandeten, der den Horizont nach Schiffen absucht, betrachtete Fred den Bildschirm.
Die ersten von Albert an Schwester Alfonsa gerichteten Worte nach diesem Besuch bei Fred waren: »Ist er verrückt?«
Beim Schmunzeln verbarg sie wie so oft die Zähne und begrüßte ihn mit einer ihrer groben Umarmungen – von Zahnspangen und Zärtlichkeit hatte man in ihrer Kindheit wenig gehalten. Für ihre undurchschaubare Mimik war sie weit über die Mauern von Sankt Helena hinaus bekannt. Albert hatte selbst miterlebt, wie ein draufgängerischer Waisenjunge – er hieß Rupert – ihr Schmunzeln einmal fälschlicherweise für ein unterdrücktes Lächeln gehalten hatte, als er auf das instabile Dach der Gartenhütte geklettert war, begleitet von Alfonsas Rufen, er solle ruhig weiterkraxeln, das habe überhaupt keine Konsequenzen, sie halte das für eine ausgezeichnete Idee, alle Jungs sollten den Versuch wagen, sich den Hals zu brechen. Fünfzig Vaterunser brachten Rupert dem Verständnis von Ironie deutlich näher. Man konnte meinen, alles, was Schwester Alfonsa von sich gab, sei emotionslos. Aber Albert spürte schon als Kind, das war nur die halbe Wahrheit. Manchmal kam es ihm vor, als hätte sie sich nach Sankt Helena verirrt. Etwas an ihr passte nicht dorthin. Was das genau war, konnte er nicht sagen. Aber er hatte eine Ahnung, dass es damit zu tun hatte, wie selten sie die Gebäude verließ und wie oft sie Frank Sinatra hörte.
»Ist Fred verrückt?«
Diesmal betonte Albert seine Frage so, als erwartete er ein Ja. Schwester Alfonsa schloss die Tür zu ihrem Büro und führte ihn zu einem Tischchen, auf dem ein Schachbrett aus gebeiztem Buchsbaum wartete. Links und rechts davon standen Holzhocker. Seit Kurzem brachte sie ihm Schachspielen bei – eine Ehre, die sie bloß alle paar Jahre einem Waisenkind zuteilwerden ließ, das ihrer Meinung nach das größte Potential mitbrachte oder, wie sie es formulierte, »helle genug« schien. Auf Schachfiguren wurde in Alfonsas Unterricht verzichtet. Einem klugen Kopf mussten ihrer Ansicht nach Dame-Spielsteine ausreichen, den Rest erledigte das Gedächtnis.
Albert zögerte, er hatte wenig Lust zu spielen, spürte aber, dass ihm keine andere Wahl blieb, wenn er ihre Meinung hören wollte. Durch ein winziges Fenster fiel mattes Tageslicht, es war einer dieser trüben Herbsttage. Albert nahm Platz. Seine Füße berührten den Boden nicht. Für einen Moment schwebte seine Hand über seiner knochenweißen Truppe, bevor er die Partie auf klassische Weise eröffnete (Bauer auf e4). Die Ordensschwester spiegelte seinen Zug (Bauer auf e5) und setzte sich dann.
»Du denkst, dein Vater ist verrückt?«
»Ja.«
»Vielleicht sind wir das auch.«
»Gar nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
Albert machte seinen nächsten Zug (Springer auf f3), den sie wiederum nachahmte (Springer auf f6).
»Na gut«, sagte sie, »gehen wir davon aus, dass wir nicht verrückt sind und Fred schon. Ist das dann nicht bloß unsere These?«
Albert runzelte die Stirn (Springer schlägt Bauer), Schwester Alfonsa runzelte nicht (dasselbe).
»Was ist eine These?«
»Ein Anfang.« Sie schmunzelte. »In unserer Gesellschaft bestimmen die Stärkeren über die Schwächeren. Ein cleveres Kerlchen wie du legt fest: Fred ist verrückt. Und da Fred kaum in der Lage ist, das zu widerlegen, folgert man, du hast recht.«
»Ich hab recht.« (Bauer d3)
»Also schuldig, bis Unschuld bewiesen ist.« (Bauer d6) »Und wenn wir falsch liegen?«
»…«
(Bauer schlägt Springer, das Gleiche noch mal.)
»Was, wenn wir verrückt sind? Was, wenn die ganze Welt von Verrückten beherrscht wird, die jeden Gesunden wie Fred wegsperren, damit man ihnen nicht auf die Schliche kommt?«
»Das geht nicht.«
»Sagt wer?«
»Ich.«
»Alle Kinder sind verrückt.«
»Warum?«
»Das habe ich als die Stärkere von uns beiden soeben festgelegt.«
»Ich bin nicht verrückt!«
»Jetzt schon.«
Albert knallte den Spielstein neben das Schachbrett. »Ich mag nicht mehr!«
»War doch nur ein Beispiel.« Sie wuschelte ihm durchs Haar. »Willst du ehrlich wissen, was ich denke?«
Er nickte und schielte sie von unten an, um auszudrücken, dass er in den Arm genommen werden wollte.
»Ihr beide seid vollkommen verrückt.«
Keine Doppeldeutigkeit intendiert. Albert mochte weniger als die Hälfte von dem verstehen, was sie von sich gab, auch sein Talent hatte Grenzen, aber sein Gefühl verriet ihm, diesmal sprach sie mit Bewunderung. Sie sprach von vollkommener Verrücktheit.
»Das ist gut«, sagte er und schickte sicherheitshalber noch ein »Oder?« hinterher.
»Das ist besonders«, sagte sie, »und der Grund dafür, dass du ihn nur Fred nennen kannst. Ein richtiger Vater wird er nie sein.«
»Ich kann’s ihm erklären!«
Schwester Alfonsas Schmunzeln: »Das kann niemand. Nicht einmal du.«
Eine Woche später riss Albert zum ersten Mal aus. Im Monat darauf türmte er gleich vier Mal. Danach wiederholten sich seine Fluchtversuche mit verlässlicher Regelmäßigkeit. Im Durchschnitt kam er auf zwanzig pro Jahr. Anfangs scheiterte er an den Busfahrern, die keinen Knirps, besonders keinen neunmalklugen, ohne die Begleitung eines Erwachsenen mitnehmen wollten. Des Öfteren verpfiffen ihn andere Waisenknaben. Doch selbst wenn ihm die Flucht gelang, ließen sich die Ordensschwestern kaum aus der Ruhe bringen; sie wussten ja, wohin er jedes Mal floh. Und warum.
»Ich bin dein Sohn«, sagte Albert zu Fred.
»Du bist Albert«, sagte Fred zu Albert.
»Und ich bin dein Sohn«, sagte Albert. »Und du bist mein Vater.«
»Ich bin Fred.«
»Und mein Vater.«
Fred blinzelte.
»Verstehst du mich?«, fragte Albert.
»Ich verstehe immer alles«, sagte Fred.
»Was habe ich gesagt?«
»Du hast gesagt: Hast du mich verstanden? Ich habe dich verstanden, Albert.«
»Und das davor?«
»Du hast gesagt: Und mein Vater.«
»Du verstehst das?«
»Ja«, sagte Fred, »und ich habe Hunger.«
»Ich bin von dir«, sagte Albert, »ohne dich würde es mich nicht geben.«
Und Fred sagte: »Danke. Das ist nett. Kochen wir Pfannkuchen mit Himbeermarmelade? Pfannkuchen mit Himbeermarmelade sind ambrosisch.«
Dann, in Sankt Helena – es gab immer ein Dann-in-Sankt-Helena –, wehrte sich Albert gegen die Enttäuschung, indem er vor jedem Schlafengehen Freds Bericht las und sich vorstellte, dieses Kind, das von Fred gerettet worden war, sei er und nicht ein Mädchen namens Andrea, das, zusammen mit seiner Mutter, nach dem Busunglück Königsdorf für immer verlassen hatte.
Er hoffte stets und glaubte manchmal und wusste gelegentlich, dass Fred ihn eines Tages retten würde, dass Fred mitten in der Nacht den Schlafsaal stürmen würde, das Licht anknipsen, zu Alberts Bett laufen und ihn mit sich nehmen würde. Wohin, war unerheblich, Hauptsache weg.
Aber mit den Jahren schwand die Hoffnung. Da half auch grenzenlose Sehnsucht nicht. Wieder und wieder rannte er zu Fred und gegen Schwester Alfonsas Behauptung an; dieses Mal kann es klappen, sagte er sich, unverbesserlich, dieses Mal wird Fred begreifen – und dann begriff Fred doch nicht. Und alles blieb beim Alten. Und Fred eben Fred.
Albert legte Freds Bericht weg und zog sich einen Bademantel über. Im Garten steckte er sich eine Zigarette an. Rauchen konnte er nur zu später Stunde riskieren; Fred hatte ihn ermahnt: »Rauchen macht krank!«, und Albert wollte ihn nicht unnötig provozieren. Der Qualm verlor sich in der Nacht. Als sein Blick auf den BMW fiel, schnippte er die Kippe über den Gartenzaun; sie flog in hohem Bogen auf die Hauptstraße wie ein abstürzendes Glühwürmchen. Albert trat gegen den Kotflügel und erwartete, dass es wehtun würde, doch er spürte kaum etwas. Dieser Kotflügel schien wie dafür geschaffen, von ihm getreten zu werden, er probierte es noch einmal und schlug zusätzlich auf die Motorhaube, hieb mit beiden Fäusten auf sie ein. Er hoffte, jemand würde vorbeikommen und versuchen, ihn aufzuhalten, dann könnte er denjenigen verprügeln oder verprügelt werden. Aber niemand kam.
Außer Atem ließ er sich in den Beifahrersitz des BMW fallen und klappte das Handschuhfach auf. Er nahm die Blechbüchse und stellte sie auf das Armaturenbrett. Das schmeichelnde orangefarbene Licht der Straßenlaterne kaschierte einige ihrer Beulen und verlieh ihr einen kupferartigen Glanz. Albert wäre es lieber gewesen, sie hätte keinen glänzenden Stein enthalten, sondern handfeste Hinweise, Erinnerungsstücke, mit denen er etwas hätte anfangen können, ein Tagebuch von Anni etwa oder Familienfotos oder wenigstens irgendwelche Dokumente, er wusste nichts über seine Herkunft, seine Familie, er wusste nichts über seine Mutter, Albert hatte unendlich viele Fragen, und die einzige Hoffnung auf Antwort war Fred.
Albert betrachtete die Finger seiner linken Hand. Eine kleine, leise, schrumpfende Hoffnung.
Aus einem unbestimmten Bedürfnis heraus öffnete er die Blechbüchse und nahm das Gold in die Hand. Da entdeckte er eine Audiokassette am Boden der Büchse; auf deren angegilbtem Klebestreifen stand: Mein Liebster Besitz. Der schnörkelige Schulmädchenstil entsprach mitnichten Freds krakeliger Handschrift. Albert holte einen Walkman aus dem Wohnzimmer, fütterte das Kassettenfach, schob einen Knopf von OFF auf ON und sah das rote Lämpchen neben der Minutenangabe aufleuchten.
Albert drückte PLAY. Zuerst ein Knistern. Dann, langsam anschwellend, ein Rauschen, das ihm irgendwie bekannt vorkam, und fordernd. Es hörte sich an wie ein Schweigen. Er suchte darin, spulte vor und zurück, legte sein Ohr auf den Lautsprecher und überprüfte A- und B-Seite.
Nichts.
Er kletterte über die Mittelkonsole und setzte sich ans Steuer, nahm einen von Freds Kalendern aus dem Seitenfach in der Tür und schlug ihn auf. Mit der Hand fuhr er über eine magentafarben bekritzelte Seite, die süßlich roch wie die Luft im Haus, und fühlte die leichten Unebenheiten der von Fred in das Papier gedrückten Notizen. Montag, 24. 5. 2002: 76 grüne Autos, 8 grüne LKWs, kein grünes Motorrad. Dienstag, 25. 5. 2002: 55 grüne Autos, 10 grüne LKWs, 2 schöne grüne Motorräder, 1 grüner Traktor. Mittwoch, 26. 5. 2002 …
Albert warf den Kalender auf die Rückbank, schaltete den Walkman aus und spürte das Gewicht von Freds Gold in seiner Hand.