Albert döste in weinrotem Licht. Die Rotbuche, die ihm Schatten spendete, war der letzte Baum auf dem Königsdorfer Friedhof. Alle anderen hatte die Gemeinde aus Platzmangel fällen lassen.
Ihm lief Schweiß über die Stirn. Auf Alberts Brust bewegte sich mit jedem Atemzug der Schminkklappspiegel, den er gern geöffnet hätte, um mit dem roten Haar über die Narben an seinen Händen zu streichen. Aber das war ihm zu riskant. Ein Windstoß, und das Haar wäre verloren. Lieber zupfte er an seinem Ohr.
Obwohl sich die Rote Frau als Sackgasse erwiesen hatte, wollte er den Schminkklappspiegel nicht aufgeben. Das Haar konnte ja dennoch von seiner richtigen Mutter stammen.
Zu seiner Rechten und Linken standen Grabsteine aus schwarzem Marmor, die so makellos blitzten, als würden sie täglich poliert werden. Franz Stöger und Herbert Älig, beide dieses Jahr verstorben. Stögers Grab war noch überhäuft mit Blumensträußen und -kränzen; auf einem der Trauerbanner stand schwarz auf blassblau: Warum? Eine idiotische, da leicht zu beantwortende Frage, fand Albert. Betriebsunfall, Cholesterinablagerungen, Autokarambolage, Hodenkrebs – darum. Oder sollte Warum ausdrücken: Warum ausgerechnet jetzt? Warum gerade zwei Tage nach seiner Pensionierung? Warum auf unserer Kreuzfahrt zur goldenen Hochzeit? Warum bei einem Streit? Warum nicht später? Warum erst jetzt?
Auch darauf gab es eine schlichte Antwort: Weil. Diese ganze Sinnsuche ging Albert bereits auf die Nerven, noch bevor er mit vierzehn, also frühestmöglich und sehr zu Alfonsas Missfallen, aus der Kirche ausgetreten war. Es gab keinen Sinn, es gab keinen Grund, es gab bloß ein Früher-oder-Später. Das wirklich Widerliche an der Frage Warum war, sie artikulierte einen Vorwurf derjenigen, die noch nicht das Zeitliche gesegnet hatten, an die Verstorbenen. Wie kannst du einfach so vor mir sterben? Wie kannst du mich allein lassen? Hast du eine Ahnung, wie schlecht es mir geht? Haust einfach ab und lässt mich zurück! Was soll ich denn jetzt tun? Trauer, dachte Albert, ist nicht mehr als ein Wort. Menschen haben es erfunden, um es sich einfacher zu machen. Aber was man tatsächlich spürt, ist kein Bedauern und auch kein Mitleid mit dem Toten, was so scheiß wehtut, wenn jemand für immer verschwindet, ist nichts anderes als die Erkenntnis, dass man vom ersten Tag an auf dieser Welt allein war und bis zum Ende allein bleiben wird.
»Das ist eine gute Stelle!«, rief Fred, der auf einem freien Platz in der Grabsteinreihe vor Albert lag, mit Armen und Beinen ruderte und einen Grasengel machte. »Du musst sie ausprobieren!«
Albert ging zu Fred und legte sich neben ihn.
»Man kann sehr viel sehen von hier«, sagte Fred, »man kann den Glockenturm von der Kirche sehen. Da weiß ich immer, wie spät es ist. Und man kann das Moor sehen. Und man kann den ganzen Himmel sehen.«
»Und du kannst mich sehen, wenn ich dich besuche.«
»Das ist ambrosisch! Willst du mich oft besuchen?«
»Jeden Tag. Vielleicht bringe ich sogar mal jemanden mit.«
»Klondi?«
»Zum Beispiel.«
»Gertrude?«
»Ich bezweifle, dass Pferde auf dem Friedhof erlaubt sind.«
Albert befingerte seinen Schminkklappspiegel, er suchte nach den richtigen Worten. Da klatschte ihm Fred mit einer seiner Pranken auf die Schulter und deutete auf die Mauer am Rand des Friedhofs, in der die Urnen aufbewahrt wurden: »Das war witzig! Du kannst Mama gar nicht mitbringen. Weil, sie ist ja auch hier.«
Albert lächelte und tat amüsiert.
Für ein paar Minuten lagen sie still nebeneinander. Fred schloss die Augen und fuhr mit den Fingern durchs Gras. Albert wurde es bald zu heiß, er setzte sich auf, roch an Fred, stupste ihn an und sah ihm in die Augen.
»Ich habe mich wirklich geduscht!«
»Erzähl das mal Gertrude.«
»Warum?«
»Das ist eine Redewendung.«
»Erzähl das mal Gertrude ist eine Redewendung?«
»Lenk nicht ab. Hast du dich geduscht?«
Fred blinzelte.
Während Fred in der Badewanne einweichte und mit Kerzenwachs Bleigießen spielte, stand Albert auf der Treppe vor einem gerahmten Foto, auf dem Anni die Einfahrt zum Haus mit einem Gartenschlauch abspritzte. Sie trug ein Kleid – auf allen Fotos trug sie Kleider –, und ihr Gesichtsausdruck war nüchtern, aufmerksam.
Albert sagte zu dem Foto: »Ich habe mit Britta Grolmann gesprochen.«
Aus dem Bad hörte er ein Platschen; er sah hoch zu der angelehnten Badezimmertür.
»Was wolltest du verbergen?«
Albert drehte sich weg, ging drei Stufen treppab und blieb stehen. Aus dem Augenwinkel betrachtete er ein Foto, auf dem Anni mit einer Schubkarre Laub transportierte.
»Hat das Gold was damit zu tun? Klondi sagt, die Kassette, die Lilie und noch ein paar Sachen sind von ihr. Nur nicht das Gold.«
Eine Stufe weiter unten nähte Anni eine Latzhose. Sie sah nicht einmal in die Kamera.
»Ach, Scheiße.«
»Das sagt man nicht.«
Fred stand am oberen Treppenabsatz, gehüllt in einen Bademantel, der ihm kaum über die Knie reichte.
»Hast du was Schönes gegossen?«
Fred hielt ein Klümpchen Kerzenwachs hoch. »Ein echter Totenkopf!«
Albert schaute ihn sich genauer an. »Für mich sieht das eher aus wie ein Stück Käse.«
»Für mich sieht das eher aus wie ein echter Totenkopf«, meinte Fred ernst. In seinem Bart hing noch Schaum.
»Lass uns das wegwaschen«, sagte Albert.
Fred zog an seinem Ärmel und sprach leise: »Das ist schon okay, dass du mit Mama redest. Mama sagt, man darf sie nie vergessen.«
Bevor Albert erwidern konnte: »Gibt nicht gerade viel, das ich vergessen könnte«, fügte Fred achselzuckend hinzu: »Wir sind alle Liebste Besitze.«
»Sind wir das?«
Fred seufzte, als würde Albert mal wieder nichts begreifen. »Mama sagt, jeder ist ein Liebster Besitz von wem.«
Dann ging er zurück ins Bad, um sich den Bart zu föhnen.
Albert dachte, vielleicht konnte man jemanden oder etwas nur lieben, wenn man ihn, sie oder es – zumindest teilweise – besaß; und zum ersten Mal, seitdem er Sankt Helena verlassen hatte, vermisste er Alfonsa. Ihr hätte diese These gefallen.
Später, nachdem Albert Fred mit ein paar frei zitierten Stellen aus dem A–F-Lexikonband ins Bett gebracht hatte, nahm er ein Blatt Papier, kramte alle Gedanken zusammen, die in seinem Kopf herumschwirrten, und schrieb drauflos. Das hatte ihm schon früher geholfen: Fragen, Zweifel, Dilemmas auf das Papier bannen. Alles rauslassen.
Am nächsten Morgen war Alberts Bett umringt von zerknüllten Seiten, vollgeschmiert mit schwer zu entziffernden Sätzen. Albert warf sie in den Mülleimer. Auf einer der Seiten stand: Liebste Besitze? Oxymoron!!! Auf einer anderen: Meine Mutter kann mich mal. Oder: Es geht abwärts. Es geht abwärts? Klischee! Besser wär (und dann nichts) Oder: Das Leben ist ein Hänselbrösel. Haha. Und auf der einzigen, die er faltete und in seine Brusttasche steckte: Tun wir doch mal so, als wären keine Fragen offen (Vorhang zu)
Das taten sie vier Wochen lang.
Fred und Albert schwammen im Baggersee, und Fred demonstrierte, wie gut er Toter Mann spielen konnte.
Fred und Albert zählten an der Bushaltestelle alle grünen Fahrzeuge, mit Albert als Protokollant, dem Fred keine »Halbweißen« wie die Polizei durchgehen ließ.
Fred und Albert fanden einen Strauch Rosen vor ihrer Haustür, an dem eine Karte befestigt war, auf der Es tut mir leid stand, und Fred fragte, vom wem sie sei, und Albert log, das wisse er nicht.
Fred und Albert waren bis zu drei Mal pro Woche in der Kanalisation unterwegs (Albert immer doppelt so oft), und stets fanden sie Liebste Besitze in der Schatzkiste – darunter ein Mini-Lexikon für die Westentasche, grüne Buntstifte und ein brandneuer Rasierer.
Fred und Klondi rupften Unkraut in ihrem Garten, und Albert sah ihnen aus der Ferne zu.
Fred und Albert fütterten Gertrude mit Unkraut.
Fred und Albert kochten Spätzle nach einem Rezept aus dem Internet und bestellten sich eine Stunde später Pizza, von der Fred die »ekligen Tomaten« mit einem Löffel kratzte.
Fred und Albert lauschten Klondis Kassette, und Albert gab zu, das klang wie fernes Meeresrauschen.
Fred und Albert strichen Freds Zimmer neu, in Olivgrün, Maigrün, Türkisgrün und Schilfgrün.
Fred und Albert saßen angeschnallt im BMW, und Albert feuerte Fred an, der fast so schnell raste wie Michael Schumacher.
Fred und Albert gingen zu Klondi, weil Fred darauf bestand, dass Albert mitkam, und sie töpferten zu dritt, und Klondi formte einen Aschenbecher, den sie, mit einem Augenzwinkern, Albert schenkte, worauf Albert eine Dose für Süßes formte, die er, ebenfalls mit einem Augenzwinkern, ihr schenkte, während Fred einen »Kopfsteinpflasterstein« formte, den er behielt.
Albert und Fred stritten, weil Albert Freds Ansicht nach »rauchig« stank, was Albert auf Klondi schob.
Fred und Albert spielten Schach und Fred gewann fast jedes Mal, da er mit Weiß spielte und sich alle weißen Figuren wie Damen bewegen können.
Fred und Albert hinterließen Klondi einen Strauch Rosen vor ihrer Haustür, an dem eine Karte befestigt war, auf der Ist okay stand, und Fred fragte, was okay sei, und Albert sagte, alles.
Fred und Albert malten – mit grünem Filzer – die Umrisse ihrer Hände auf das Küchenfenster neben die Initialen HA und schrieben in die Hände Fred und Albert.