Caora Nua
Das Prasseln von Flammen wurde immer lauter, bis es die ganze Lichtung erfüllte, und alle beobachteten staunend die bleiche Säule aus flackerndem Licht, die sich durch die Bäume näherte.
»Er ist hier«, sagte Christopher und umklammerte Wynters Hand fester. »Bei Frith. Er ist wirklich hier.«
Königlich und schimmernd, eine lodernde Helligkeit umrahmt von Finsternis, verharrte Ashkrs Geist am Rande der Lichtung. Sein schönes Gesicht war erfüllt von Zärtlichkeit für seinen sterbenden Freund. Úlfnaor flüsterte etwas, und die Merroner traten von Sóls Seite zurück.
Sólmundr jedoch, schwer atmend und kraftlos, betrachtete weiterhin völlig selbstvergessen die Sterne. Winselnd schlich Boro vor ihm hin und her, die Augen fest auf Ashkr gerichtet. Er bellte unsicher.
Ashkr legte den Kopf schief und bedeutete ihm: Platz. Das große Tier zögerte, ließ sich dann aber neben Sólmundr auf den Boden sinken, ohne den verwirrten, unglücklichen Blick von Ashkrs Geist zu lösen. Die anderen Hunde hatten sich bereits mit eingezogenen Schwänzen zwischen den Bäumen verkrochen, Wynter sah nur ihre Augen in der Dunkelheit schimmern.
Langsam wich Hallvor zurück und stellte sich zu den Kriegern. Sie blickte zwischen Úlfnaor und Ashkrs Geist hin und her. »Aoire«, drängte sie ihn, die Hand ausgestreckt, als wollte sie Úlfnaor zu sich ziehen. »Aoire …«
Doch Úlfnaor blieb an Sólmundrs Seite sitzen. »Sól?«, sprach er ihn an.
Offenbar hörte Sólmundr ihn nicht, und nach einer Weile seufzte Úlfnaor niedergeschlagen und legte die Hand auf Sóls ächzende Brust. »Slán go fóil, a dhlúthchara. Fear maith a bhí ionat i gcónaí. Fear láidir, agus fear saor go deo …«
Christopher stockte der Atem, dann hustete er. »Er verabschiedet sich«, erklärte er heiser. »Er sagt Sól, dass er immer ein großer Mann war, stark und … und stets frei.«
Úlfnaor drückte seine Stirn an die von Sólmundr, erhob sich dann unvermittelt und stellte sich mit gesenktem Kopf zu seinen Leuten.
Lächelnd schwebte Ashkrs Geist vorwärts. Die ganze Zeit sah er nur Sólmundr an, und Wynter begriff, dass kein anderer hier für ihn von Bedeutung war, kein anderer existierte auch nur. Im Tod wie im Leben gab es für Ashkr nur Sólmundr.
Als Ashkr an Razi vorbeikam, wurde Razi einen Moment lang von Geisterlicht beleuchtet. Mit großen Augen blickte er dem Gespenst nach, den Umhang fest um sich gezogen, wie um sich gegen das Übernatürliche zu schützen. Dann war es vorbei, und Razi wurde zurück in die Dunkelheit geworfen.
Vor seinem Geliebten blieb Ashkr schließlich stehen. »Sól«, raunte er. Weich durchdrang seine Stimme das heftige Brüllen der Flammen, und die Liebe darin zerriss Wynter fast das Herz. Sie rückte näher an Christopher heran, hielt seine Hand noch ein wenig fester.
Ashkr beugte sich hinunter. »Sólmundr«, wiederholte er mit mehr Nachdruck.
Endlich riss sich Sólmundr von dem Sternenmeer über seinem Kopf los und wandte sich dem Gesicht zu, das er so sehr geliebt hatte. Sein Mund verzog sich zu einem matten Lächeln, er flüsterte etwas, das man nicht hören konnte. Ernst betrachtete Ashkr ihn und sank auf die Knie. »Sól, mo mhuirnín bocht …«
Sólmundrs Mundwinkel zuckten. Seine Augenlider sanken herab, und er schlug sie mühsam wieder auf, als kämpfte er darum, wach zu bleiben. Erneut wisperte er etwas, und Ashkr nickte und hielt die Finger ganz dicht an Sóls Haar, ohne ihn zu berühren.
Wie ungerecht, dachte Wynter. Wie unsagbar traurig, dass sie getrennt wurden. Unversehens musste sie an ihre Mutter und ihren Vater denken, an die so kurze Zeit, die sie gemeinsam verleben durften, bevor der Tod sie auseinanderriss. Sie hoffte, dass die beiden jetzt zusammen waren. Und sie hoffte inständig, dass ihres Vaters Geist nicht durch das Schloss wandelte als dünner Schatten seines einst so lebensfrohen Selbst, dazu verdammt, nichts als ein beharrlicher Schemen zu werden. Sie spähte zu Razi – ein Schatten zwischen Schatten, immer noch gebrochen vom Verlust Emblas – und verspürte überwältigende Angst, sie und Christopher könnten einander verlieren.
Sie blickte ihm ins Gesicht und wollte gerade seinen Namen flüstern, doch zu ihrem Erstaunen sah er weder Ashkr noch Sólmundr an. Er starrte in den Wald, und in diesem Moment durchlief ihn ein Ruck, seine Augen weiteten sich vor Zorn und Furcht. Wynter wirbelte herum.
Eine zweite Lichtsäule bewegte sich geschmeidig durch die finsteren Bäume auf sie zu. Ashkr bemerkte sie ebenfalls und lächelte. Er drehte sich zu Razi um. »Tabiyb«, sagte er. »Embla kommt zu Euch.«
»NEIN!«, heulte Christopher auf.
Jäh entstand ein Aufruhr, Männer und Frauen riefen durcheinander, und Christopher schwankte, er wusste nicht, ob er nach hinten springen und sein Schwert holen oder nach vorn stürmen und Razi beschützen sollte.
Da zückte Wynter schon ihren Dolch und rannte los, gefolgt von Christopher, der im Laufen sein Messer aus dem Stiefel zog. Laute Stimmen erhoben sich. Frangok, dann Hallvor. Úlfnaor schrie etwas. Man hörte das Klirren von Metall auf Metall, und Wynter ging unwillkürlich in Deckung.
Aus dem Augenwinkel sah sie Thoar nach seinem Schwert hechten und schwenkte in seine Richtung, doch zu ihrer Verblüffung sprang Hallvor ihm auf den Rücken und riss ihn zu Boden. Erschrocken schrie der rothaarige Krieger auf, und beide rollten ins Gebüsch und rangen miteinander um das Schwert. Laut brüllend kam Wari Hallvor zu Hilfe.
Nun stürzte Frangok voran, ein Messer in der Hand, den Blick auf Razi geheftet. Ehe Wynter ihr noch in den Weg treten konnte, warf Úlfnaor seinen schweren Arm zur Seite und traf Frangok mit voller Wucht an der Kehle. Der Hieb holte die große Frau von den Füßen, sie sank zu Boden und umklammerte würgend und keuchend ihren Hals.
Unterdessen hatte Surtr die Lichtung bereits zur Hälfte überquert, doch Christopher rannte pfeilschnell auf ihn zu. Ohne abzubremsen, schnellte er in die Luft und schleuderte seine Beine in einem seiner eindrucksvollen Sprungtritte empor. Er traf den Krieger an der Schulter, seine weichen Stiefel verursachten auf dem kräftigen Körper ein sattes Klatschen, dann knallten beide seitwärts in das aufwirbelnde Laub.
Neben Sólmundrs Füßen kamen sie zu liegen und rollten sofort voneinander weg. Surtr hieb mit dem Dolch nach Christopher, und der konnte gerade noch seinen Leib zu einem Bogen wölben und entkam so mit knapper Not der schmalen Klinge. Wynter sah, dass die Spitze des Messers das Tuch von Christophers dunklem Hemd noch streifte, und ihr Herz setzte kurz aus.
Christopher rollte sich ab, Surtr rollte sich ab, und beide landeten auf den Knien, die Zähne gefletscht, die Klingen erhoben. Da kam Úlfnaors massige, dunkle Gestalt mit großen Schritten heran, drängte sich zwischen die beiden Männer und schlug Surtr die Waffe aus der Hand. Wynter konnte noch einen Blick auf Surtrs entsetzte Miene erhaschen, ehe Úlfnaor ihm vor die Brust trat und ihn damit zu Boden schleuderte. Dann lag Surtr ausgestreckt auf dem Rücken, und Úlfnaor ragte über ihm auf, das Gesicht eine finstere Drohung, das Schwert gegen seinen Hals gedrückt. Fassungslos und gekränkt starrte der rothaarige Krieger zu seinem Anführer empor, aller Kampfgeist war mit einem Schlag erloschen.
Wynter kam schlitternd zum Stehen, völlig außer Atem.
Es herrschte verblüffte Stille.
Hinter dem Feuer stand Wari über Thoar, den Fuß auf der Waffenhand des benommenen Mannes, das Schwert an seinen Hals gelegt. Hallvor kniete neben Frangok, sprach eindringlich auf sie ein und knetete vorsichtig ihre Kehle.
Zittrig nahm Wynter all das auf, ganz allmählich richtete sie sich gerade auf, und auch Christopher, immer noch auf den Knien liegend, löste sich nach und nach aus seiner Starre und ließ die Hände sinken. Er blickte sich mit derselben schwindligen Verwirrung um wie Wynter. Ihre Blicke trafen sich, dann jedoch wurde er von etwas hinter Wynters Rücken abgelenkt, und seine Züge erschlafften vor Schreck. Blitzartig wirbelte Wynter herum.
Soma schritt zielstrebig auf Razi zu, einen Dolch in der Hand, und Razi, gebannt von der unverbrüchlichen Aufmerksamkeit des Geists seiner Geliebten, bemerkte die Gefahr gar nicht. Gerade trat Embla aus dem Wald auf ihn zu und sah ihm in die Augen. Sie legte ihm eine schimmernde Hand auf die Brust, und Razi keuchte und riss den Arm nach oben, als wollte er sie von sich stoßen.
»Nein …«, stammelte er. »Nicht …«
Soma erhob den Dolch.
»Razi!«, schrie Wynter. »Razi!«
Als sie Wynters Stimme vernahm, neigte Embla den Kopf und blickte an Razi vorbei zu Soma.
»Ar fad do Chroí an Domhain«, wisperte Soma, unverwandt das Gespenst anstarrend, die Augen vor Furcht weit aufgerissen. »Ar fad do Chroí an Domhain.«
Sie holte aus zum tödlichen Hieb.
Verträumt, beinahe geruhsam hob Embla die Hand, und Soma erstarrte mit einem Ruck. Ihr Kinn klappte nach unten, die Augen quollen entsetzt hervor.
»Soma an Fada, Tochter der Sorcha an Fada«, murmelte Embla liebevoll. »Du bist deiner Pflicht entbunden.«
Embla spreizte die Finger, und der Dolch fiel aus Somas Hand und rollte in das Laub zu ihren Füßen. Dann sah Embla die Waffe an, und sie schoss durchs Unterholz davon, bis sie außer Somas Reichweite an den Feuersteinen liegen blieb. Stöhnend sank Soma auf die Knie, umklammerte ihre Hand und wiegte sich, als litte sie große Schmerzen.
Embla lächelte Wari an. »Wari an Fada, Sohn des Sven an Fada, tritt vor und sorge dich um dein anderes Herz.«
Ungläubig starrte Wynter die wunderschöne Erscheinung an, zu ihrer größten Verwunderung sprach Embla völlig anders als vorher. All das Unbeholfene, Zögernde war verschwunden, keine Spur mehr von ihrem schleppenden Akzent zu hören. Wynter war überzeugt davon, dass Embla Südlandisch gesprochen hatte, eine Sprache, die Wari nicht verstand. Doch schon lief der Hüne los, die Miene vor Besorgnis um seine Frau verzerrt, und Wynter begriff mit einem Schlag: Embla sprach nicht Südlandisch. Sie sprach auch nicht Merronisch. Es war eine andere Sprache, zugleich fremd und vertraut, unbekannt und doch allen bekannt.
Wari half Soma auf, und sie schmiegte sich in die Zuflucht seiner Arme, hielt seine Hand und jammerte. Vorsichtig, den Blick auf Emblas Geist geheftet, führte Wari seine Frau zurück zu den anderen.
»Erhebt Euch«, befahl Embla den Merronern. »Erhebt Euch nun, und lasst von diesem Kampf gegeneinander ab.«
Die Krieger gehorchten, die ehemaligen Gegner stützten einander nun, und Embla wandte sich erneut Razi zu. Sie lächelte ihr träges, sinnliches Lächeln, ihre Augen tasteten sein Gesicht ab. Die leuchtende Hand, die sie auf sein Herz gepresst hatte, schien ihn zu bannen, sein Körper schwankte leicht hin und her, der eigenen Gewalt entzogen. Immer noch hatte er die Hand mit gespreizten Fingern erhoben, wie um Embla abzuwehren, und seine Gesichtszüge zuckten verzweifelt.
Da trat Christopher neben Wynter. »Lasst ihn gehen, Caora«, sagte er leise. »Er gehört Euch nicht.«
Wynter hob ihren Dolch, obgleich sie wusste, dass er gegen diese Art der Bedrohung nutzlos war. »Lasst ihn gehen, edle Dame«, flüsterte sie. »Bitte.«
Embla beachtete sie beide überhaupt nicht. Nur Razi war für sie von Bedeutung, und sie betrachtete ihn mit sehnsüchtiger Zärtlichkeit. »Tabiyb«, hauchte sie. »Mein guter Mann.«
Beim Klang ihrer Stimme schien sich aller Schmerz aus Razi zu verflüchtigen, sein Körper lehnte sich plötzlich gelöst an ihre stützende Hand. Er blinzelte, als sähe er sie ganz neu. »Embla …«, raunte er verwundert. Er streckte den Arm aus, wie um ihr durchsichtiges Gesicht zu berühren, seine dunklen Augen glänzten nun heller, da die gebrochene Spiegelung Emblas blassen Lichts sie erfüllte. »Ich hätte für dich gesorgt«, sagte er. »Warum hast du mir nicht vertraut und hast mich für dich sorgen lassen?«
Embla senkte die Augenlider und seufzte, als wären Razis Worte Sonnenstrahlen und sie genösse ihre Wärme. Versonnen strich sie ihm über die Brust, ihre Finger hinterließen schimmerndes Geisterfeuer. Schließlich legte sie die Hand auf seine Wange. Bei der Berührung durch die Geisterhaut teilten sich Razis Lippen über zusammengebissenen Zähnen, und ihm entfuhr ein leiser Schmerzenslaut, obschon er gleichzeitig die Wange fester in ihre Hand drückte.
»Mein guter Mann«, seufzte Embla abermals. »Mein gutes Vorzeichen. Was für ein Segen du für mich warst.«
Sie fuhr ihm mit dem Daumen über die Lippen, und Razi erschauerte, kleine Ätherwölkchen stiegen von seiner warmen Haut auf. Unter den schweren Lidern rollten seine Augen nach hinten, seine Miene wurde ausdruckslos, der lange Leib neigte sich ganz langsam nach vorn.
»Embla!«, schrie Wynter. »Gib ihn frei!«
Erschrocken zog Embla die Hand zurück, und Razi geriet ins Taumeln und riss die Augen auf. Um ihn zu stützen, legte Embla ihm die Finger nochmals auf die Brust, und er starrte sie mit offenem Mund und leerem Blick an.
Trauriges Begreifen zeichnete sich auf Emblas Miene ab; er war für sie verloren, und sie für ihn.
Noch einen Moment lang beobachtete sie ihn, während er seine Verwirrung und Benommenheit abschüttelte, dann jedoch verhärtete sich ihr Blick. Sie holte tief Luft, straffte die Schultern. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme tief und gebieterisch, getragen von all der ihr zu Gebote stehenden Vornehmheit und Würde. »Höre mich, Fürst Razi Königssohn, wichtigster Sohn Jonathons, des Königs. Ich wünsche, zu dir zu sprechen.« Embla wartete, bis sich Razi ausreichend gesammelt hatte, um ihr zu lauschen. »Diese Welt ist dunkel«, sagte sie. »Du fürchtest, bald schon in ihrer Dunkelheit zu ertrinken.« An dieser Stelle hob sie die Hand, berührte ihn aber nicht. »Du darfst nicht ertrinken«, befahl sie. »Es ist deine Pflicht, es nicht zu tun.«
Mit glitzernden Augen sah Razi sie unglücklich an.
Embla nickte, als wollte sie den Pakt besiegeln, dann glitten ihre Augen an Razi vorbei zu Úlfnaor. »Es darf kein Blut mehr fließen«, sagte sie. »Dies ist ein Neubeginn.«
Stirnrunzelnd schüttelte Úlfnaor den Kopf – er verstand nicht.
»Kein Blut mehr«, wiederholte Embla. »Ashkr und ich, wir sollen die Letzten sein.«
Aufs Äußerste verstört rief Hallvor etwas auf Merronisch, und Embla betrachtete sie freundlich. »Verzweifle nicht, Hallvor an Fada, Heilerin, Tochter der Ingrid an Fada. Die Brücke ist hier stark. Sie war immer stark. Wir waren Narren, anderes zu glauben, und anmaßend. Hier wie überall schreitet Unser Volk einmütig mit Dem Herzen Der Welt dahin, und Die Brücke brauchte kein Blut, um ihre Tore zu öffnen. Ihre Tore waren stets geöffnet, ihr Pfad für alle zugänglich.« Erneut wandte sich Embla an Úlfnaor. »Dies ist deine Pflicht, Úlfnaor, Hirte Der Welt. Verstehst du mich? Es darf kein Blut mehr fließen. Das musst du lehren. Es ist deine Pflicht.«
Úlfnaor nickte mit großen Augen. Bedächtig sah Embla von einem Krieger zum anderen, und einer nach dem anderen fielen sie auf die Knie und neigten die Köpfe, als legten sie einen Eid ab. Embla lächelte zustimmend, dann legte sie Razi eine Hand auf die Schulter. »Sehet«, sagte sie zu den knienden Männern und Frauen. »Euer neuer Caora.«
Christopher stieß vernehmlich die Luft aus.
»Christopher?« Wynters Herz hämmerte. »Hat sie gerade …«
»Pst«, zischte er, die Augen auf Embla gerichtet. »Still.«
Von einem ungläubigen Merroner zum nächsten blickte Embla. »Caora Nua«, sagte sie. Auf Úlfnaors bestürztem Gesicht verweilte sie etwas länger.
»Embla«, drang Ashkrs leise Stimme zu seiner Schwester durch. Er kniete immer noch mit ernster Miene an Sólmundrs Seite. »Du musst nun gehen. Du hast deine Pflicht erfüllt.« Kummervoll verzog Embla das Gesicht, doch er lächelte. »Es ist schon gut, mein Herz. Sag Lebewohl, erlöse deinen Mann von seinem Verlust.«
»Nein«, flüsterte Razi. »Bleib.« Wieder hob er die Hand an Emblas Gesicht, und sie schmiegte die Wange in seine Berührung. Ihr glänzendes Haar wehte empor und schlang sich um seine Finger, wand sich wie leuchtender Efeu um seinen Arm. Razi senkte den Kopf, das dunkle Gesicht umkränzt von Emblas bleichem Licht, die Augen schimmernd von ihrem funkelnden Widerschein. Einen winzigen Moment lang berührten sich ihre Lippen beinahe, dann jedoch wandte Embla den Kopf ab und trat beiseite. Razi blieb allein in der Finsternis zurück, die Finger in der kalten Luft schwebend.
Christopher erstarrte und schnappte nach Luft, da Embla zu dicht an ihm vorbeikam, und Wynter zerrte ihn rückwärts, um ihn vor dem frostigen Schatten des Geists zu bergen.
»Bei Fr… Frith«, stieß er mit klappernden Zähnen hervor.
Wynter rieb ihm den Rücken, ließ aber gleichzeitig Razi nicht aus den Augen. Er machte ein paar taumelnde Schritte, die Hand an die Stirn gelegt, als wüsste er nicht recht, wo er sich befand. Caora Nua, dachte sie mit bangem Herzen.
Da vernahm sie wieder Emblas Stimme.
Die blasse Dame beugte sich über Sólmundr und musterte den Besinnungslosen. »Er hat nicht mehr viel Zeit, Bruder.« Sie sah Ashkr an. »Wünschst du das wahrlich zu tun?«
Er machte ein unwilliges Geräusch und bedachte sie mit einem tadelnden Blick.
Also seufzte Embla und richtete sich wieder auf. Ashkr stand auf, und so standen sie Seite an Seite und betrachteten ihren sterbenden Freund. Sólmundr, umflutet von der vereinten Aura dieser beiden mächtigen Geister, zog eine Grimasse und wälzte sich unbehaglich herum, seine Finger zuckten.
»Ich werde dich vermissen, Ash«, sagte Embla leise.
Wieder lächelte Ashkr, ohne den Blick von Sólmundr zu lösen. »Die Welt wird dir Trost bieten, mein Herz.«
Zu Wynters Erstaunen sah sie Tränen in Emblas Augen, die einen Moment lang auf ihren geisterhaften Wimpern glänzten und dann in weiß leuchtenden Spuren über ihre Wangen rannen. »Du wirst nicht mehr sein«, klagte sie kaum hörbar. »Wie soll ich das ertragen? Das Wissen, dass du nicht mehr bist? Wie? Ashkr, wie soll Sól es ertragen? Keine Hoffnung zu haben, dich jemals wiederzusehen?«
»Weine nicht, Embla«, schalt Ashkr sie sanft.
Doch sie vergrub das Gesicht in den Händen.
»Ach, Embla.« Traurig zog er seine Schwester an sich. Aus ihrer Umarmung loderte Geisterlicht hoch empor in die Wipfel, dünne Fäden Geisterfeuer schimmerten in der Rinde des Baumstamms hinter ihnen, und auf den Ästen über ihren Köpfen flackerte es.
»Weine nicht!« Jetzt lachte Ashkr und hielt seine Schwester mit seinem altvertrauten, neckenden Grinsen auf Armeslänge vor sich. »Das ist es, was ich mir wünsche. Verstehst du? Du und Sól, ihr müsst einfach damit zu leben lernen.«
Daraufhin wischte sich Embla die Tränen vom Gesicht. »Also gut, Ash«, sagte sie. »Also gut, mein Herz. Ich verstehe.« Sie löste sich aus seinen Armen und atmete tief durch. »Es ist gut.« Wehmütig legte sie sich die Hand aufs Herz und sah ihren Bruder an. »Leb wohl, Ashkr, Sohn Der Welt. Du warst mein bester Freund und mein Fels. Ohne deine lächelnde Anwesenheit wäre mein Leben leer gewesen. Mein Herz wird brechen an deinem Verlust.« Trotz ihrer gefassten Miene versagte Embla bei diesen letzten Worten die Stimme, und sie konnte nicht sofort weitersprechen. Schließlich aber richtete sie sich zu ihrer vollen hoheitsvollen Größe auf, ballte die Hand zur Faust und reckte das Kinn. »Ar fad do Chroí an Domhain«, sagte sie. »Wie immer, Alles für das Herz Der Welt.« Und damit war sie fort.
Ashkr blickte dem verblassenden Licht seiner Schwester nach. Als der letzte schimmernde Glanz aus der Luft verschwunden war, streckte er die Hand aus, wie um sie noch einmal zu berühren. »Nicht für Die Welt, Embla«, wisperte er. Und dann, mit strengem Blick auf Úlfnaor: »Nicht für Die Welt, Hirte«, herrschte er. »Sondern für die Liebe. Merk dir das. Du wirst es lehren. Ar son an Ghrá.« Unvermittelt drehte er sich um, kniete sich neben Sól und rüttelte ihn erschreckend grob wach.
»Sólmundr. Sól!«
Sólmundr zuckte heftig und schlug mit einem Grunzen die Augen auf. Sofort spürte er die Geisterhände auf seinen Schultern und keuchte heiser vor Schmerz; verwirrt und beunruhigt von Ashkrs Grimmigkeit begegnete Sólmundr seinem Blick.
»A chroí«, raunte er.
Wortlos schob Ashkr eine Hand in Sólmundrs narbenübersäten Nacken, und Sól schrie auf und bog den Leib durch, als sich Geisterfinger in sein nacktes Fleisch gruben. Ashkrs anderer Arm glitt hinab zu Sólmundrs furchtbarer Wunde, fest presste er die Handfläche auf den Verband über der Stelle. Wynter vernahm ein Geräusch wie von einem Brandeisen, das auf Haut trifft. Gequält krallte Sólmundr die Finger in seine Decke. Als er erneut aufschrie, machten die Merroner einen Schritt auf ihn zu, verharrten dann aber, ungewiss, was zu tun sei.
Auch Christopher machte einen Satz nach vorn, doch Wynter hielt ihn am Arm fest. Sie beobachtete Ashkrs hell leuchtendes, entschlossenes Gesicht. »Warte«, flüsterte sie und quetschte Christophers Arm. Zögernd blieb er neben ihr stehen.
Ashkr senkte den Kopf und knirschte mit den Zähnen, als hätte er Schmerzen. Er und Sólmundr zitterten inzwischen beide, wellenartig entströmte Geisterfeuer Ashkrs gespreizten Fingern und breitete sich über Sóls Körper aus.
Zischend und knackend schlängelten sich Ranken aus grünem Licht über Sólmundrs Brust, wanden sich seine Arme hinauf und um seinen Hals, bis er überall von dicken Strängen knisternder Kraft umfangen war. Funken sprühten heiß von seinen Lippen, Zähnen und Wimpern, und er schluchzte und bäumte sich auf, während Ashkr fester und immer fester auf seine Wunde drückte. Allmählich wurde die Helligkeit, die beide Männer ausstrahlten, zu blendend.
Ein qualvolles Stöhnen erfüllte die Lichtung, und zu ihrem Schreck erkannte Wynter, im gleißenden Glanz blinzelnd, dass das Geräusch nicht von Sólmundr, sondern von Ashkr ausging. Je stärker das Licht wurde, desto schlimmer wurde auch der Schmerz des Geists, und bald schon krümmte sich Ashkr mit verzerrtem Gesicht.
»Hör auf!«, flehte Sólmundr. »Hör auf!«
Plötzlich schrie Ashkr gellend, und das Geisterlicht dehnte sich bis ins Unerträgliche aus.
Ein weißer Blitz flammte auf.
Sólmundr rief: »Ash!«
Dann fiel das Licht in sich zusammen und war mit einem Schlag verschwunden.
In der plötzlichen Dunkelheit verlor Wynter das Gleichgewicht, der Nachhall von nichts klang in ihren Ohren. Unwillkürlich hielt sie sich die Hände an die Schläfen und ächzte, es war, als wäre ein Pulverfass unmittelbar neben ihr lautlos geborsten, und sie torkelte wie betrunken im Kreis, außerstande, sich wieder zu fangen. Jemand zu ihrer Linken brüllte etwas auf Merronisch, jemand hinter ihr hustete, als wollte er seine Lungen vom Rauch befreien. Sie hörte ihren Namen, doch weit weg und gedämpft.
Dann drang eine Stimme klar zu ihr durch – untröstlich, schluchzend; nur das eine Wort, immer und immer dieses eine Wort: »Nein … nein … nein …«
Der Kummer und der Verlust in dieser einen Silbe wollten Wynter schier das Herz zerreißen. Sie hob den Kopf und blinzelte mühsam in die Richtung, aus der die Stimme kam.
Sólmundr kniete am Fuße seines Baums, einen Arm um den Bauch geschlungen, mit der anderen an dem breiten Stamm abgestützt. Niedergeschmettert blickte er hinaus in die Finsternis und wiederholte unablässig das eine Wort.
Jemand stolperte neben sie, stieß mit ihr zusammen, und Wynter klammerte sich, ohne nachzudenken, an ihm fest. Als sie den Kopf hob, fand sie Razis Gesicht über ihrem schwebend. Völlig fassungslos starrte er Sólmundr an. »Gütiger«, stieß er hervor.
Dann ließ er Wynter los und wollte einen Schritt nach vorn machen, doch jemand packte ihn an der Schulter und zog ihn zurück. Mit hochgerissenen Armen wirbelten Wynter und Razi gleichzeitig herum. Sofort wich Úlfnaor zurück und breitete die Hände aus, um ihnen zu bedeuten, dass er nichts Böses im Sinn hatte. Mit dem Kinn deutete er in Sólmundrs Richtung, und als sie sich umdrehten, stellten sie fest, dass Christopher bereits bei ihm war. Die anderen Merroner wollten ebenfalls zu ihrem Gefährten gehen, doch Úlfnaor hieß sie mit einer Geste abwarten und zurücktreten.
»Sólmundr?« Christopher kauerte sich hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sól?«
»Tá sé caillte … tá sé caillte …«, klagte Sólmundr, den Kopf schüttelnd und sich vor und zurück wiegend. »Ó, a chroí.«
Christopher beugte sich vor und spähte unter Sólmundrs Achsel hindurch, um die Wunde anzusehen. »Kannst du mal …« Er drückte gegen die kräftige Schulter des Mannes und drehte ihn herum, so dass er mit dem Rücken am Baum lehnte. Sólmundr glitt nach unten, bis er auf dem nun zerwühlten Haufen Bettzeug saß. »Lass mich mal sehen.« Sanft zog Christopher Sólmundrs Arm weg und hob den Verband an. »Bei Frith!«
Als Sólmundr die Hände auf sein Gesicht legte, nutzte Christopher die Gelegenheit, sein Hemd höher zu schieben und die Binden beiseite zu zupfen. Nun trat auch Wynter näher, Razi und Úlfnaor neben sich. Sie hörte Hallvor einen ehrfürchtigen Ausruf ausstoßen, ein staunendes Murmeln wogte von Merroner zu Merroner.
Christopher strich mit den Fingern über Sólmundrs Bauch – da war keine Spur mehr von der Wunde, keine Entzündung, nicht einmal der kleinste Kratzer war noch erkennbar. Nur das alte, verschlungene Geflecht aus Narben und Peitschenstriemen aus Sólmundrs Sklavenjahren zeichnete die blasse Haut des Mannes.
Christopher breitete die vernarbten Finger über der Stelle aus, an der Sólmundr von Razi aufgeschnitten worden war. »Er hat Euch gerettet«, sagte er.
Sólmundr ließ die Hände herabfallen und schlug mit dem Hinterkopf gegen den Baumstamm. Mutlos starrte er in das Astwerk über sich.
Christopher aber sah ihn eindringlich an. »Er hat Euch gerettet«, wiederholte er und rüttelte den verzweifelten Sólmundr an den Schultern, bis der Krieger ihn endlich anblickte. »Ihr werdet leben, Sól.« Strahlend grinste er in Sólmundrs tränenüberströmtes Gesicht. »Ashkr hat Euch gerettet. Ihr werdet leben.«
Moorehawke 02 - Geisterpfade
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