Rauch
Der Rotblonde verneigte sich knapp und
berührte seine Brust, wobei er sein bestrickendes, zahnlückiges
Lächeln zeigte. »Erlaubt mir, euch mitzuteilen, dass ich Sólmundr
an Fada, mac Angus an Fada, Fear saor, bin.«
Christopher sah ihn eindringlich an. »Fear
saor«, flüsterte er. Sólmundr streckte ihm die Hand entgegen,
und Christopher schüttelte sie heftig, ein entgeistertes Lächeln
auf dem Gesicht. »Seid gegrüßt, Sólmundr.«
Der Angesprochene stockte unter Christophers
durchdringendem Blick, dann gab er Razi und Wynter die Hand.
Schließlich drehte er sich zu dem Zwillingsbruder um. »Das«, sagte
er liebevoll, »ist mein Herr, Ashkr an Domhain.«
Ashkr beugte sich vor, seine Armreife funkelten.
Trotz der weichen Haut war sein Händedruck fest und kräftig.
»Seid gegrüßt, Ashkr«, sagte Razi.
Nun wurde seine Schwester als die Edle Embla
vorgestellt. Sie nickte Christopher und Wynter zu, dann schenkte
sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit Razi. »Tabiyb«, sagte sie mit
tiefer, voller Stimme. »Endlich kennen wir des anderen
Namen.«
Sie beugte sich über den Tisch, ihr helles Haar
schwang nach vorn wie ein Schleier aus Flachs, und Razi schüttelte
wortlos und mit großen Augen ihre Hand. Wynter zwinkerte
Christopher neben sich fröhlich zu, doch anstatt ebenfalls
erheitert zu sein, blieb er unverständlicherweise weiterhin
Sólmundr zugewandt.
Embla hielt Razis kraftvolle, dunkle Hand fest mit
ihren eigenen zarten umschlossen und legte den Kopf schief. Ganz
langsam verzog sich Razis Mund zu einem Lächeln. Er sah ihr fest in
die Augen und strich mit dem Daumen über das weiche, weiße
Handgelenk. Zwischen ihnen schien die Zeit stillzustehen.
Als nach einer geraumen Weile offensichtlich wurde,
dass weder Razi noch Embla geneigt waren, einander loszulassen,
stieß Ashkr ein Schnauben aus und piekte seine Schwester in die
Seite. Unergründlich lächelnd entzog Embla Razi ihren Arm, und Razi
rieb sich verträumt die Handfläche, als spürte er noch die
Erinnerung an ihre Berührung. Anmutig ließ sich die edle Dame
wieder auf ihrem Stuhl nieder.
Nun räusperte sich Sólmundr und hob den Arm, um in
aller Form den schwarzhaarigen Mann vorzustellen. »Verehrte
Menschen«, sagte er, »gestattet mir zu erweisen Euch die Ehre, zu
nennen unseren Aoire – unseren Hirten – Úlfnaor, Aoire an
Domhain.«
Anders als alle anderen bot Úlfnaor niemandem die
Hand zum Gruße an, doch keiner schien daran Anstoß zu nehmen.
Vielmehr verneigte sich Christopher sehr feierlich zu einer
untadeligen, tiefen und lang andauernden Verbeugung, bei der sein
zerzaustes Haar nach vorn schwang und sein Gesicht verbarg. Razi
und Wynter beeilten sich, es ihm nachzutun.
»Wir sind geehrt«, sagten sie.
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite«, brummte
Úlfnaor, und damit verfielen die Merroner in eine so jähe und
unerwartete Ungezwungenheit, dass Wynter ganz schwindlig
wurde.
»Setzt euch! Setzt euch!«, drängte Sólmundr. Er
zeigte auf die Schemel, die seitlich des Tischs standen, dann gab
er Razi einen Schubs und drückte Christopher nach unten. Embla bot
eine Schale Oliven an, um ihren Appetit anzuregen, und Ashkr trug
dem Wirt auf, noch mehr Seidel und einen Krug Wein zu bringen.
Úlfnaor beugte sich zurück und raunte Wari etwas zu, der umgehend
loszog und mit den Mahlzeiten zurückkehrte, die Wynter und Razi
bestellt hatten.
Immer noch ganz benommen von der plötzlich
gewandelten Stimmung nahm Wynter Platz, und die Merroner lachten
über die Verwirrung ihrer Gäste. Nachdem sich Sólmundr vergewissert
hatte, dass jeder bequem saß, ging auch er zu seinem Stuhl, doch
gerade, als er sich setzen und an Ashkr gewandt eine lustige
Bemerkung machen wollte, sah Wynter ihn erbleichen und noch halb im
Stehen erstarren. Mit einem dumpfen Ausruf krümmte er sich,
umklammerte die Tischkante und biss vor Schmerz die Zähne
zusammen.
Sofort legte Ashkr seinem Freund die Hand auf den
Arm und beugte sich vor, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
»Sól!«, sagte er besorgt. »An bhfuil drochghoile ort
aris?«
Sólmundr senkte den Kopf und nickte, seine
Fingerknöchel wurden weiß vor Anstrengung.
Razi erhob sich halb von seinem Schemel. »Was ist
denn?«, fragte er.
»Sól hat …« Rasch wirbelte Ashkr zu Embla herum und
fragte sie etwas auf Merronisch.
Sie machte eine Kreisbewegung mit der Hand auf dem
Unterleib. »In seinem Bauch«, sagte sie. »Ihm geht es schlecht.
Erst seit drei Tagen.« Sie stand auf und sah sich in der Menge um.
»Ich hole Hallvor.«
»Mein Freund ist Arzt!«, rief Christopher. »Er kann
ihm helfen.«
»Wir haben unsere eigene Heilerin«, fauchte
Úlfnaor.
»Und ganz gewiss eine wunderbare! Aber mein Freund
ist ein Medicus! Von der blauen Robe!« Zur Bekräftigung hielt er
die Hände hoch und zeigte als Beweis für Razis Fähigkeiten die
lange, saubere Narbe.
Mit geweiteten Augen krümmte sich Sólmundr noch
stärker.
»Holt Hallvor!«, rief Ashkr und rieb seinem Freund
über den Rücken.
Wari und Úlfnaor begannen, die Menge abzusuchen,
doch ganz unvermittelt ließ Sólmundrs Krampf nach, und er richtete
sich wieder auf. Einen Moment lang wartete er noch ab, die Hand auf
den Unterleib gedrückt, dann grinste er. »Ist wieder weg.«
Unvermittelt errötete er.
Immer noch betrachtete Ashkr ihn mit kummervoller
Miene, die Hand auf seinen Arm gelegt, doch Sólmundr wehrte ab: »Es
ist gut, Ash.« Fröhlich sah er sich im Kreis um. »Ich sage euch,
das ist dieser schäbige Südländerfraß. Gefällt meinem Magen
nicht.«
Zögerlich nickte Ashkr, ließ aber seinen Freund
nicht aus den Augen, während der sich setzte.
Auch Razi suchte das Gesicht des Mannes nach
weiteren Anzeichen von Schmerzen ab. »Wo genau treten die
Beschwerden auf, Sólmundr?«, erkundigte er sich.
Doch Sólmundr stieß ein ungeduldiges Ts aus
und wedelte mit der Hand, um die Aufmerksamkeit von seinem Bauch
abzulenken. Er beugte sich quer über den Tisch und tippte mit dem
Zeigefinger vor Christopher auf das Holz. »Coinín«, sagte er. »Ihr
starrt mich an die ganze Zeit. Weshalb?«
Meine Güte, dachte Wynter. Diese Merroner!
Sie sind so
unverblümt! Nun wusste sie, woher Christopher das hatte.
Erneut klopfte Sólmundr mit Nachdruck auf die Tischplatte.
Christopher stockte kurz, dann sagte er: »Ich bin
ebenfalls ein Freier.«
Sólmundr zog die Stirn in Falten, er begriff nicht
ganz, weshalb Christopher ihm die Finger auf die Narben am
Handgelenk legte. Er wiederholte noch einmal auf Merronisch: »Is
fear saor mise freisin, Sólmundr.«
Noch tiefer gruben sich die Falten in Sólmundrs
Stirn, und Ashkr wurde ganz ernst. Zu Wynters Verwunderung nahm er
Sólmundrs Hand; ihre Finger verschränkten sich einen Moment lang
auf der Tischplatte, Ashkrs weiche drückten Sólmundrs raue, und
dann ließ Ashkr ihn wieder los und setzte sich zurück.
»Wer hat gefangen Euch?«, fragte er Christopher
ruhig.
»Die Loup-Garous.«
Beim Klang des gefürchteten Namens zuckten alle
Merroner zusammen.
Christopher deutete mit dem Kinn auf Sólmundr. »Und
Euch?«
»Barbareskenkorsaren.«
Razi stöhnte auf, und Christopher senkte wissend
den Kopf.
»Sie haben verkauft mich als … ähm …« Sólmundr
sagte etwas zu Embla, die kurz nachdachte und dann entschuldigend
die Achseln zuckte.
Úlfnaor nahm sich eine Olive, blickte auf und
sagte: »Galeerensklave.«
»Genau. Als Galeerensklave«, bestätigte Sólmundr.
»Ich war Galeerensklave …« Er hielt zwei Finger hoch.
»Zwei Jahre?« Wynter war bestürzt. Zwei Jahre in
der
Dunkelheit angekettet, in seinem eigenen Schmutz hockend, Tag und
Nacht ohne Rast schuftend. Wynter betrachtete sein gutmütiges
Gesicht, sie konnte sich das überhaupt nicht vorstellen.
»Dann, eines Tages …« Sólmundr machte ein
pfeifendes Geräusch, seine Hand flog durch die Luft, um eine
Kanonenkugel oder Ähnliches darzustellen, und traf dann mit einem
lauten RUMMS! auf dem Tisch auf. Die Hunde schreckten auf und
knurrten, Sólmundr grinste sie an. »Ach, still«, sagte er. »Ihr
dummen Kerle.«
»Sól schwimmt«, setzte Ashkr die Geschichte fort.
»Weit, weit schwimmt er, dann erreicht er die Küste. Er läuft weit,
weit, viele Jahre.« Kopfschüttelnd sah er seinen Freund an. »Viele
Jahre.«
Sólmundr winkte ab und zauste Ashkrs Haar. »O ja«,
sagte er. »Ich bin wunderbar. Stark und schön. Steige aus dem Meer
wie ein Gott.«
»Wie ein toter Fisch!«, versetzte Ashkr prustend
und strich sich das Haar glatt.
»Hier gibt es keine Sklaven. In diesem Königreich.
Das habe ich gehört.« Forschend blickte Úlfnaor bei diesen Worten
Christopher an, und Wynter erkannte, dass es eine Frage war.
»Das hat man mir auch erzählt«, entgegnete
Christopher. »Dass der König hier die Sklaverei ablehnt.«
»Und Ihr«, fragte Úlfnaor Razi. »Ihr als Farbiger.«
Er tippte sich aufs Gesicht. »Ihr werdet auch angenommen?«
Das Widersinnige an dieser Frage rang Wynter ein
bitteres Lächeln ab. Rasch verbarg sie es.
Razi nickte. »Im Wesentlichen, ja«, entgegnete er
vorsichtig.
Úlfnaor lehnte sich zurück. »Und der Glaube?«
Razi sah ihn fragend an, woraufhin sich Úlfnaor
hilfesuchend an Embla wandte.
Sie überlegte angestrengt. »Menschen mit Religion«,
meinte sie dann zögerlich mit Blick auf Christopher, »mit
unterschiedlicher Religion. Werden sie angenommen?«
»Das kommt darauf an«, gab Christopher
zurück.
Razi sah ihn streng an. »Nein, tut es nicht«,
widersprach er. »Ja«, sagte er dann zu Úlfnaor. »Ja, mein Va… Der
König handhabt das sehr klar: Alle Religionen werden
gebilligt.«
Wütend schüttelte Christopher den Kopf und wandte
sich ab. Úlfnaor machte einen nachdenklichen Eindruck, Sólmundr und
Ashkr wurden still. Embla allerdings beobachtete unentwegt Razis
Mund, während sie mit dem Finger träge Achterschleifen auf die
Tischplatte zeichnete.
Als Wynter Úlfnaors grüblerische Miene betrachtete,
begriff sie plötzlich. Sie überlegen umzusiedeln, dachte
sie. Sie möchten ihr Volk nach Süden bringen! Ihr wurde
schwer ums Herz. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sich die
stark strukturierte Gesellschaft des Königreichs für einen großen
Nomadenstamm eignen würde. Man hat euch, glaube ich,
irregeführt, was eure Duldung in diesem Reich betrifft. Jemand hat
euch Versprechungen gemacht, die er wohl kaum einhalten
wird.
Wynter schielte zu Christopher. Er starrte finster
in die ausgelassene Menge, die Lippen zu einem Strich verzogen;
doch seine Missstimmung verflüchtigte sich rasch. Als er den
Merronern beim Tanz zusah, wölbten sich seine Lippen wehmütig nach
oben. Die Musik war zu einem wilden Rausch angeschwollen, und die
Tänzer teilten sich in Vierergruppen auf, wanden sich in- und
umeinander, bildeten verschlungene Knoten und Muster und lösten sie
wieder auf. Mit einem Mal sprang jemand aus der Mitte der Gruppe
hoch wie ein Fisch aus dem Wasser, und als er mit der Hand
auf einen der verräucherten Balken der hohen Decke schlug,
schnappte Wynter nach Luft. Die Menge jubelte. Christopher und Wari
stießen ein lautes Geheul aus und klatschten als Ausdruck ihrer
Anerkennung einmal in die Hände.
Embla streckte den Arm über den Tisch und zupfte an
Razis Ärmel. »Tanzt Ihr, Tabiyb?«
Bei dem Gedanken prustete Wynter laut, doch Razis
Mundwinkel zuckten, und er machte ein selbstzufriedenes Gesicht. »O
ja«, antwortete er. »Ich tanze!« Damit sprang er auf die Füße und
bot Embla mit überschwänglicher Geste die Hand. »Coinín hat es mir
beigebracht!«, rief er.
Bass erstaunt sah Wynter zu, wie ihr Pirat seine
blasse Dame über den Tanzboden wirbelte.
»Christopher Garron!« Sie gab dem still vor sich
hin grinsenden Mann einen Klaps auf die Schulter. »Was hast du mit
meinem Bruder angestellt?«
»Das ist ein rajputisches Katar«, erklärte
Christopher Ashkr, der seinen ungewöhnlichen Dolch untersuchte und
die Ätzungen im Stahl bewunderte. »Tabiyb hat ihn für mich zusammen
mit der Muskete gekauft. Er dachte, es wäre für mich leichter zu
benutzen wegen …« Christopher hielt seine geschundene Hand hoch und
wackelte steif mit den Fingern. »Er meinte, ich könnte es viel
besser festhalten.«
»Und, ist das so?«, fragte nun Sólmundr und reichte
die Klinge an Wynter weiter, die mit einer Geste darum gebeten
hatte. Sie steckte die Hand in die Metallspange und schloss die
Finger um den waagerecht angeordneten Griff unter der Schutzschale.
Das Katar fühlte sich sehr stabil an, als hätte sie ihre Faust
durch ein Messer ersetzt, doch gleichzeitig mangelte es dem
Handgelenk an Beweglichkeit.
Als könnte er ihre Gedanken lesen, sagte
Christopher: »Dennoch ziehe ich meinen gewöhnlichen Dolch vor. Mehr
Freiheit.« Er vollführte einige flinke, tödliche Bewegungen mit dem
Arm, als stieße er mit einer Klinge zu, und Wynter bemerkte, dass
die Merroner ihn aufmerksam beäugten. Verstohlen musste sie
lächeln. Sie selbst wollte Christopher nicht gern in einem offenen
Zweikampf gegenüberstehen – trotz der verstümmelten Hände wäre er
ein tückischer Gegner und sehr schnell dazu. Zufrieden stellte sie
fest, dass den großen Männern um sie herum die gleiche Erkenntnis
dämmerte.
Wynter gab gerade das Katar an Úlfnaor weiter, als
Razi und Embla von der Tanzfläche zurückkehrten. Razi zog einen
Schemel an das Kopfende des Tischs, und Embla zupfte Sólmundr am
Haar und bedeutete ihm, Platz zu machen. Sólmundr und Ashkr
rutschten auf, damit sich Embla neben Razi setzen konnte. Dabei
kicherten die Männer wie üblich anzüglich und neckend, und Embla
macht ein tadelndes Geräusch, musste aber verstohlen grinsen.
Unterdessen reichte Christopher den Malchus an
Ashkr. Der blonde Mann drehte das Schwert hin und her und strich
mit der Hand über die Klinge, die dunkelblauen Augen voller
Staunen.
»Das ist indischer Stahl«, erklärte Razi. »Genau
wie die Muskete und das Katar.« Er nahm einen Schluck Fruchtsirup.
Sein Haar war so feucht, als wäre er schwimmen gewesen. »Als ich
ihn gekauft habe«, berichtete er atemlos und reichte den Becher an
Embla weiter, »hat der Schmied, um ihn mir vorzuführen, damit einen
Schweinefuß durchschnitten. Die Klinge ging in einem Hieb durch den
Knochen. Sie bleibt schärfer als alle anderen, die ich je gesehen
habe.«
»Das sind fabelhafte Waffen«, sagte Wynter.
»Ja«, seufzte Razi, während Úlfnaor den Malchus in
der Hand wog. »Ja, schon. Aber letztlich sind es nur Waffen. Ich
würde lieber …« Er räusperte und schüttelte sich kurz. »Genau«,
sagte er mit Nachdruck. »Sie sind prachtvoll. Die Männer, die sie
schmiedeten, waren wunderbare Handwerker.«
Mit einem Seitenblick auf Razi schwang Úlfnaor das
Schwert um die Schulter, ließ es mit großer Geschicklichkeit und
Beherrschung durch die Luft gleiten. Er machte ein anerkennendes
Geräusch und fuhr mit dem Daumen vorsichtig über die Kante.
»Die Südländer sind sehr stark mit Waffen«, sagte
er. »Ich habe gehört. Hier gibt es viel mächtige Waffen.«
Sowohl Wynter als auch Razi merkten bei dieser
Äußerung auf. »Wir sind in der Tat ein starkes Land«, sagte Razi
bedächtig. »Trotz unserer Schwierigkeiten in jüngster Zeit wird
unser König sehr geliebt. Seine Armeen sind gut ausgebildet.«
»Und gut bewaffnet?«, fragte Úlfnaor. »Sein Sohn
ist ein großer Krieger, ich höre. Er besitzt Waffe von großer
Macht.«
»Das ist eine gute Geschichte«, murmelte
Christopher wie beiläufig und nur mäßig neugierig. »Wer hat Euch
das erzählt?«
»Jemand. Oben im Norden. Nicht es stimmt? Er ist
kein Krieger, dieser Prinz? Er hat keine Waffe?«
»Machen die Merroner das oft, unsere königliche
Familie am Lagerfeuer erörtern?«, fragte Wynter betont heiter,
obwohl ihre Brust wie zugeschnürt war.
»Ich sage nicht, dass es war ein Merroner. Ich
sage, nur, jemand hat erzählt.« Úlfnaor tat das Thema mit
einer Handbewegung ab. »Spielt keine Rolle. Ich kann irren.
Manchmal ist es schwierig zu verstehen, was jemand redet.«
Sólmundr stieß ein kurzes Lachen durch die Nase
aus.
»Stimmt«, sagte er. »Besonders, wenn er nicht weiß, dass du
lauschst.«
Úlfnaor zuckte die Achseln. »Kann ich doch nichts
dafür, wenn manche Leute glauben, Merroner sind dumm wie Hunde.
Selbst schuld, wenn sie glauben, wir verstehen nichts.« Er grinste
Sól an; ein überraschender Ausdruck auf dem sonst so ernsten
Gesicht des Aoire, gleichzeitig liebenswert und finster und
unerwartet schalkhaft.
»Wer war es, der Euch das erzählt hat?«, fragte
Wynter. »Und was genau hat er gesagt?«
Doch Úlfnaor winkte nur ab. »Nur Gerede«, meinte
er. »Halbes Gerede, halb verstanden. Ist den Atem nicht
wert.«
Wynter suchte Razis Blick. Eine starke Waffe im
Besitz des Prinzen. Hatte dieses Gerücht sogar die Nordländer
erreicht?
Kaum merklich schüttelte er den Kopf:
Später.
»Coinín, gebt Ihr mir den Krug?« Sólmundr deutete
auf den Fruchtsirup.
Christopher kam der Bitte nach, stellte aber fest,
dass der Krug leer war. Er sah sich nach dem Wirt um. Wynter
entdeckte den kleinen Mann an einem Tisch am anderen Ende des
Raums, wo er leeres Geschirr abräumte. Gleichzeitig behielt er mit
besorgter Miene seine Töchter im Auge.
Die scheuen Mädchen mit dem sanften Blick füllten
Olivenschalen auf und sammelten herum stehende Teller ein. Keine
von beiden konnte älter als dreizehn sein, und die Merroner
beachteten sie nicht weiter, doch Wynter konnte die Sorge des
Vaters nachvollziehen. Inzwischen hatte sich die Stimmung zusehends
erhitzt; die Tänze wurden ungeniert lustvoll, die Bewegungen um
einiges sinnlicher, als es dem üblichen Anstand entsprach, und
Wynter musste zugeben, dass sie die Mädchen, wären sie ihre eigenen
Töchter,
schnurstracks in ihre Gemächer verfrachtet und die Türen
abgeschlossen hätte.
Plötzlich brüllte eine Handvoll Männer an der Tür
auf und brach in lautes Gelächter aus. Die kleinere Bedienung
zuckte zusammen, obwohl sie nicht einmal in der Nähe war, und der
Wirt, die Arme voller leerer Krüge, bedachte seine Gäste mit einem
misstrauischen Blick. Er pfiff nach seinen Töchtern, und sie ließen
alles stehen und liegen und folgten ihrem Vater, der sich mit dem
Ellbogen einen Weg durch den Gastraum in die Küche bahnte.
»Wyn?« Sie erschrak, als sie Razi neben sich in die
Hocke gehen und einen Arm um ihren Schemel legen sah. Mit geröteten
Wangen und runden Augen sah er sie hoffnungsvoll an.
Wynter musste schmunzeln und drückte ihm einen
Finger auf die Nase. »Du, mein lieber Bruder, siehst aus, als
wolltest du mir Geld abschwatzen!«
Razi errötete. »Tja«, druckste er herum. »Die
Merroner … die Merroner bleiben über Nacht, und ich …« Ein Lächeln
zupfte an seinen Mundwinkeln, aber er war zu verlegen, um ihm
nachzugeben. »Hättest du …« Auf seiner Stirn stand in dicken,
fetten Lettern bitte. »Hättest du Lust, heute Nacht in einem
Bett zu schlafen, Schwesterchen? Sollen wir uns ein Zimmer
nehmen?«
Razi schielte zu Embla. Die hohe Dame beobachtete
ihn unter schweren Lidern hervor, das Kinn auf die Hand gestützt,
das blonde Haar um ihre erhitzten Wangen spielend. Der Ausdruck auf
ihrem Gesicht ließ sogar Wynters Herz höherschlagen.
Na so was!, dachte sie.
Mit Gewalt riss sich Razi von Emblas Anblick los
und biss sich auf die Lippe. Sollten sie tatsächlich beschließen,
sich ein Zimmer zu nehmen, zweifelte Wynter stark daran, dass Razi
es jemals von innen sähe. Sie begegnete Christophers Blick; mit
unbewegter Miene, die Arme verschränkt, die Füße lang ausgestreckt,
saß er auf seinem Stuhl und erholte sich vom ausgelassenen Tanzen.
Sein Hemd war verschwitzt, das schmale Gesicht glänzte vor Hitze,
die Haare waren völlig zerzaust. Wynter betrachtete ihn – ihren
schwarzhaarigen Hadraer – und dachte mit uneingeschränkter
Klarheit: Ich liebe dich.
Wie auch immer sich diese Empfindung auf ihrem
Gesicht abzeichnete, Christopher schien erfreut und legte mit
fragenden grauen Augen den Kopf schief. Razi folgte Wynters Blick
und musterte seinen Freund prüfend.
Da beugte sich Wynter zu ihm vor und flüsterte ihm
ins Ohr: »Würdest du Christopher und mich ein Bett teilen lassen,
Razi?«
Seine großen braunen Augen weiteten sich, und er
starrte Wynter plötzlich erschrocken und verunsichert an. So
verstört wirkte er, dass Wynter ihm die Hand in den Nacken legte
und ihre Stirn an seine drückte, ihre alte Geste der
Innigkeit.
»Liebst du ihn nicht, Razi?«, wisperte sie.
Er schluckte. »Doch. Sogar sehr.«
»Glaubst du dann nicht, dass er gut zu mir sein
wird?«
Er sah ihr in die Augen. »O doch, Wyn. Ich bin
davon überzeugt, dass es keinen besseren Mann für dich geben
kann.«
Wynter zog die Augenbrauen hoch. Na dann?,
sagte ihr Blick. Warum die Unschlüssigkeit? »Wir haben uns
gegenseitig unser Versprechen gegeben, Razi. Ich bin mir sicher,
dass ich ihn liebe, und ich glaube ihm, dass er ehrlich meint, was
er zu mir gesagt hat.«
Razi schien gründlich nachzudenken. Dann schüttelte
er sich kurz und nickte. Er nahm Wynters Gesicht zwischen die Hände
und küsste sie auf die Stirn. »Macht einander glücklich, Wyn«,
flüsterte er eindringlich. »Es gibt ohnehin so wenig Freude in
unserer Welt.« Dann sprang er auf und klatschte in die Hände. »Wir
bleiben!«, rief er und warf der lächelnden Embla die Arme entgegen.
»Edle Dame! Tanzt mit mir!«
Ohne zu zögern, schlüpfte Embla hinter dem Tisch
hervor, und die beiden wirbelten fort in die Menge.
Christophers Blick verdunkelte sich kurz, als Razi
Embla in die Luft hob. »Was sollte das ganze Geflüster?«, wollte er
wissen.
»Wir bleiben über Nacht«, erklärte Wynter.
Doch statt sich zu freuen, verzog er das Gesicht
und blickte sich zu Úlfnaor um, der leise mit Ashkr über Razis
Muskete sprach. »Hm«, grummelte er. »Na ja, ist ja nur eine Nacht.«
Er atmete durch und schob beiseite, was auch immer ihn beunruhigte.
»Wynter.« Er beugte sich zu ihr und nahm ihre Hand. »Sie wollen,
dass ich zum Schluss noch einmal mit ihnen aufspiele. Macht es dir
etwas aus?« Verstohlen machten sich seine Grübchen bemerkbar. »Ich
bin nicht lange fort, versprochen.«
Wynter strich ihm das wirre Haar aus der Stirn.
»Ich warte hier«, sagte sie sanft. »Ich hole beim Wirt nur noch
etwas zu trinken.« Vertraulich raunte sie ihm zu: »Ich glaube,
deine zwielichtigen Merroner haben ihn verscheucht.« Mit fröhlich
funkelnden Augen sahen sie einander an, dann küsste Wynter ihn
rasch auf den Mund und schob ihn von sich weg. »Geh schon!«, sagte
sie. »Geh und spiel mit deiner Trommel!«
Er mischte sich unter die Menge, und Wynter
sammelte
die leeren Krüge zusammen und schob sich zur Küchentür. Noch
einmal sah sie sich um – gerade stieg Christopher auf das Podest.
Er griff sich die Trommel, blickte kurz über die Schulter und
grinste sie an. Dann klemmte er sich das Haar hinter die Ohren, die
Küchentür schwang hinter Wynter zu, und er war nicht mehr zu
sehen.