Wunden lecken
Je länger sie unterwegs waren, desto stärker verdrängte der Schmerz in Wynters Rücken den in ihrem Kopf. Es war, als hätte jemand eine geballte Faust in ihr Inneres gesteckt und schraubte nun ganz langsam ihre Niere zurück in die Ausgangslage. Die Männer ritten voran, Razi an der Spitze, Christopher mit großem Abstand hinter ihm. Beide waren in ihre eigenen Gedanken versunken, und Wynter beobachtete sie wie durch einen Schleier. Alles schien sehr weit weg, und die gesamte Welt hatte einen seltsam rötlichen Farbton angenommen. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie tief vornübergebeugt im Sattel saß, die Hände um den Knauf gekrallt, Tränen stiller Pein vergießend.
Dann stolperte Ozkar, und der Schmerz in Wynters Rücken erreichte ein unerträgliches Ausmaß. Keuchend lehnte sie sich zur Seite und musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu schreien. O weh, es war schlimm. Es war sehr schlimm. Sie hörte sich aufschluchzen und stellte fest, dass sie nicht mehr weiterkonnte.
Sachte räusperte sie sich. »Razi.« Es war kaum mehr als ein klägliches Krächzen, keiner der Männer schien es zu hören. »Razi«, wiederholte sie. »Ich muss anhalten.«
Razi drehte sich zu ihr um. Sofort verzog er vor Schreck das Gesicht, zügelte hastig sein Pferd und sprang aus dem Sattel; an seiner Miene konnte Wynter ablesen, wie sie aussehen musste. Noch im Laufen warf er die Arme hoch, woraufhin Ozkar scheute und Wynter aufheulte, da schier unmenschliche Schmerzensblitze durch ihren Rücken zuckten.
Müde wandte nun auch Christopher den Kopf, um zu sehen, was los war. Bei ihrem Anblick wurde er bleich.
Razi streckte Wynter die Arme entgegen, um sie aufzufangen, aber sie wusste, es würde qualvoll, vom Pferd zu rutschen, also klammerte sie sich am Sattel fest.
»Ich kann nicht, Razi«, ächzte sie. »Lass mich bitte.«
»Ach, Wyn.« Seine Miene verzog sich mitfühlend. Trotzdem legte er ihr die Hände um die Taille. »Du musst. Komm, ich hebe dich herunter. Komm schon, ist schon gut.«
Er zog sanft, und Wynter stieß erneut einen Schmerzenslaut aus. Immer noch hielt sie den Sattelknauf umklammert.
»Lass mich«, rief sie, »bitte lass mich.« Aber Razi fasste sie mit seinen starken Armen um die Taille und zog abermals, obwohl sie ihn anflehte, es nicht zu tun. Ein furchtbarer Stich durchbohrte ihren unteren Rücken, und sie konnte einfach nicht anders: Sie schrie laut.
Das Letzte, was sie noch wahrnahm, ehe sie endlich vom Pferd und in einen atemlosen Schmerz glitt, war Christophers Hand, die ihre Finger einen nach dem anderen vom Sattelknauf löste und ihren Ärmel festhielt, als er sie in Razis Arme hinabsenkte.
 
 
Das Bewusstsein verlor sie nicht, doch eine Zeit lang kam und ging alles durch wabernde Wolken. Als sie endlich wieder richtig zu sich kam, sah sie ein kleines Feuer. Razis Kessel hing an einem aus gespaltenen Ästen gebastelten Dreibein darüber, der Inhalt dampfte behaglich.
Darauf ließ Wynter den Blick eine Weile lang ruhen, ehe sie an den Flammen vorbei Christopher bemerkte. Er betrachtete sie, die Armbrust schussbereit auf den Knien. Unsicher blinzelte sie ihn an. Sie konnte sich daran erinnern, von Razi getragen, auf den Boden gelegt und dann wieder hochgehoben worden zu sein, damit Christopher einen Umhang für sie ausbreiten konnte. Sie wusste noch, dass sie Razis Arm umklammert und gewimmert hatte, als er versuchte, sie aufrecht hinzusetzen. Sie entsann sich, dass er ihr Hemd und Unterhemd ausgezogen und beim Anblick ihres Rückens entsetzt aufgeschrien hatte.
Wie lange war das her? Es konnte Stunden oder lediglich Augenblicke zurückliegen.
Inzwischen lag sie auf der Seite, und der Schmerz war zu einem dumpfen Ziehen abgeklungen, das an ihren Nieren nagte. Sie bewegte sich und stöhnte. Jäh richtete Christopher seine Aufmerksamkeit auf sie, als hätte er vorher mit offenen Augen geschlafen. Dann spürte sie eine große, schwielige Hand auf der Schulter. Razi. Kurz war sie peinlich berührt, weil sie oberhalb der Taille nichts als ihr Brusttuch trug. Doch dann schob Razi einen Arm unter ihre Schultern, und der Schmerz vertrieb jeden anderen Gedanken, während er sie aufsetzte.
»Tut mir leid, Schwesterchen. Es tut mir so leid.« Diesen Tonfall hatte Wynter bei Razi noch nie gehört, und plötzlich bekam sie sehr große Angst. Auch in Christophers glitzernden Augen lag Furcht, und sie musste sich abwenden. Was ist mit mir, Razi?, wollte sie fragen, konnte aber vorerst nur die Zähne zusammenbeißen.
Allmählich ließ das heftige Stechen nach und wurde erneut von dem dumpfen, nagenden Ziehen abgelöst. Wynter lehnte sich erschöpft an Razis Brust, und er strich ihr übers Haar.
»Besser?«, fragte er.
Sie nickte.
»Ich muss mir deinen Rücken ansehen.«
Fluchend kniff sie die Augen zu und beugte sich ganz langsam nach vorn, bis ihre Brust auf den angezogenen Knien ruhte. Wieder heulte der Schmerz auf, und sie biss sich mit aller Gewalt auf die Lippe. Tränen quollen unter ihren Lidern hervor. Als sich Christopher vor sie kniete, hörte sie ein Rascheln, hatte aber Angst, ihn anzusehen. Doch als er ihre Hände nahm, drückte sie dankbar seine Finger.
»Was … was ist denn, Razi?«, keuchte sie schließlich. Jemand hat mir ein Messer in den Rücken gerammt, dachte sie. Oder mir in die Wirbelsäule geschossen.
»Irgendein Hurensohn hat dich in die Nieren getreten.« Dies war Razis ruhige Arztstimme, und Wynter war erstaunt, wie tröstlich sie klang. Sofort fühlte sie sich sicher und geborgen. Sofort wurde der stechende Schmerz, den seine sanft tastenden Hände auslösten, erträglich.
»Du hast einen tiefen Bluterguss«, sagte er. »Und ich habe Sorge, dass eine deiner Nieren verletzt wurde.«
Christophers Händedruck verstärkte sich, und sie schlug die Augen auf. Bekümmert sah er Razi an. Wynter zupfte an seinen Händen, woraufhin er sich mit Tränen in den Augen wieder ihr zuwandte.
»Ist schon gut«, hauchte sie. »Razi bekommt mich schon wieder hin.« Sie lächelte, doch er war offenbar nicht in der Lage, seine starre, traurige Maske abzulegen.
Razi hatte seine Untersuchung beendet und tippte ihr auf die Schulter. »Ich helfe dir, dich wieder hinzulegen, wenn ich darf.«
Mitleidig verzog Christopher das Gesicht und hielt ihre Hände ganz fest, während Razi sie vorsichtig auf den stinkenden, verschmutzten Umhang legte. Erst dann ließ er sie los, damit Razi sie auf den Bauch rollen konnte.
Den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, wartete Wynter, bis der Schmerz nachließ. Das knisternde Geräusch von Stiefeln auf Laub verriet ihr, dass die beiden Männer aufgestanden waren, und dann kam Christopher auch schon wieder in Sicht und nahm seinen Posten jenseits des Feuers ein. Dieses Lagerfeuer ist gar nicht klug, dachte sie, als er die Armbrust wieder auf die Knie nahm und mit ruhelosen, rotgeränderten Augen die Bäume um sie herum absuchte.
Razi holte ein heißes Tuch aus dem Kessel und wrang es kräftig aus. Im Schneidersitz ließ er sich neben Wynter nieder und beugte den langen Körper weit nach vorn, so dass sie beinahe auf Augenhöhe waren.
»Das Feuer ist nicht klug, Razi«, murmelte sie.
Er nickte. »Mach dir keine Gedanken, Schwester. Du musst nur …« Mit einer ungeduldigen Grimasse unterbrach er sich und legte ihr das Tuch auf den Rücken. Sie zuckte kurz, dann spürte sie erlösende Linderung, als die Hitze in ihre Blutergüsse eindrang. Ganz allmählich lockerte sich ihr Körper, und Razi zog einen weiteren, ähnlich verdreckten Umhang als Decke über sie. Fürsorglich legte er ihr eine Hand aufs Haar. »Jetzt hör mir gut zu«, sagte er. »Du hast einen verkrampften Muskel im Rücken.«
Beschämt schloss sie die Augen. Nur ein Krampf?, dachte sie. Ach, was bin ich doch für ein Jämmerling.
Unterdessen fuhr Razis besänftigende, warme Stimme fort. »Deine Rippen sind, Gott sei Dank, nicht gebrochen, und auch das Rückgrat wurde nicht in Mitleidenschaft gezogen. Aber du müsstest einmal Wasser lassen, damit ich erkennen kann, ob deine Verletzungen schwerwiegend sind.«
Wynter wurde flammend rot, was Razi ein Seufzen abrang. »Das ist doch nichts Schlimmes, meine Kleine«, sagte er. »Kein Grund, sich zu schämen. Ich möchte mich einfach nur um dich kümmern. Lässt du mich?« Ohne ihn anzusehen, nickte sie, und er tätschelte ihr die Schulter. »Ich koche dir etwas Weidenrindentee, der ist bald fertig. Und wenn du Wasser lassen musst, sagst du mir Bescheid, einverstanden?« Gehorsam nickte sie wieder. Dann stand Razi auf, und sie hörte ihn zu Christopher laufen.
Mühsam hob sie die Augenlider einen Spalt und sah ihm zu, wie er vor ihrem Freund in die Hocke ging, die Ellbogen auf den Knien, den Blick abgewandt. So verharrten die beiden einen Moment lang reglos. Schließlich fragte Razi: »Hast du Schmerzen?«
Christopher antwortete nicht. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, wo er die Armbrust umklammerte.
Immer noch starrte Razi zu Boden. »Nach den Albträumen littest du manchmal große Schmerzen.« Christophers Augen flackerten von Baum zu Baum. Er wirkte wie unter Belagerung, als wollte er jeden Moment losrennen. Vorsichtig hob Razi den Blick. »Ich könnte dir etwas geben, wenn …«
»Es tut nichts weh«, flüsterte Christopher. »Nicht, wenn man es absichtlich macht. Es fühlt sich gut an.« Nun sah er Razi an, bemerkte das Erschrecken, das sein Freund nicht verbergen konnte, und wandte sich sofort wieder ab.
Mit einer schmutzigen Faust rieb sich Razi verblüfft die Augen. »Ähm …« Dann plötzlich, als wäre ihm etwas eingefallen, womit er umgehen konnte, drückte er abrupt den Rücken durch und sagte: »Ich könnte die Kratzer reinigen – sonst besteht die Gefahr einer Entzündung. Komm.«
Razi legte Christopher die Hand auf die Schulter, und zu Wynters Entsetzen fletschte Christopher die Zähne und schob ihn heftig von sich. Razi fiel rückwärts ins Laub, und Christopher schauderte bestürzt zurück. »Razi! Verzeih! Aber … du darfst mich nicht erschrecken. Ich bin zu …« Er legte den Kopf schief und breitete hilflos die Arme aus. »Erschreck mich nicht, Razi«, flüsterte er noch einmal.
Razi blieb stumm sitzen, und bald schon sackten Christophers Schultern nach vorn, seine Augen wanderten unruhig umher. Ein abwesender, leerer Ausdruck legte sich über sein Gesicht. »Haben wir Seife?«, fragte er tonlos. Razi nickte, und Christopher erhob sich schwerfällig und stand leicht schwankend vor Razi, der immer noch zu seinen Füßen hockte. »Gib sie mir«, bat er. »Ich gehe mich selbst waschen.«
Zu Wynters Verblüffung erhob Razi keine Einwände. Er stand auf, holte die Sachen aus seiner Satteltasche und reichte sie wortlos hinüber. Christopher legte seine Armbrust weg, nahm sich etwas heißes Wasser aus dem Kessel und trug die Kupferschüssel und das Waschzeug in den Wald.
»Christopher!«, rief Razi ihm nach. »Bleib doch lieber hier bei uns.«
Christopher drehte sich nicht um, sondern humpelte wortlos weiter. Die Verzagtheit, die sie in Razis Haltung entdeckte, beunruhigte und verwirrte Wynter.
»Razi«, begann sie. Er blickte sie von der Seite an, wie er es immer tat, wenn er über etwas nicht sprechen wollte. »Vielleicht braucht er einfach ein wenig Zeit für sich allein.« Immer noch betrachtete er sie nur aus dem Augenwinkel. Unter dem übel riechenden Umhang drehte sie leicht den Kopf, wünschte, er würde sie richtig ansehen. »Vielleicht schämt er sich, Razi.«
Bei diesen Worten atmete Razi hörbar ein und starrte hilflos in den Himmel. Seine Augen schimmerten.
»Vielleicht«, sprach sie weiter, »schämt er sich, weil diese Männer seine Armreife genommen haben. Sie haben ihm so viel bedeutet, und es muss schrecklich für Christopher sein, dass er nicht verhindern konnte, dass sie abermals gestohlen wurden. Vielleicht ist es, weil sie ihn nackt ausgezogen und in der Dunkelheit gejagt haben. Christopher wirkt immer so stolz, möglicherweise denkt er, dass er in deinen Augen kein richtiger Mann mehr ist, weil er diese Dinge zugelassen hat.«
Nun sah Razi sie mit unendlichem Kummer an. Er schüttelte den Kopf und presste sich die Hand auf die Augen.
»Was denn?« Wynter verstand überhaupt nichts mehr, sie war vollkommen verstört. »Was ist los, Razi?« Das Tuch auf ihrem Rücken kühlte langsam aus, und sie musste die Zähne aufeinanderbeißen und die Fäuste ballen, als der Schmerz wieder zunahm. Um nicht laut aufzustöhnen, drückte sie die Stirn auf die Arme.
Ein kurzes Rascheln, und Razi setzte sich neben sie. Wieder spürte sie das tröstende Streicheln seiner Hand auf ihrem Haar. »Wie geht es deinem Kopf?«, flüsterte er. »Gestern Abend wirktest du gründlich durcheinander. Du musst irrsinniges Kopfweh gehabt haben.«
Sie lachte. »Inzwischen hat sich mein Rücken durchgesetzt.«
»Auf der Stirn hast du eine dicke Beule.«
»Wie hübsch.« Seine Liebkosung machte sie schläfrig, die Augen fielen ihr zu. »Ich muss ja göttlich aussehen, wie eine Prinzessin in einem Gemälde. Kein Wunder, dass Christopher mir verfallen ist.« Das Feuer knisterte im Hintergrund, und Wynter wusste, dass Razi in den Wald spähte und sich Sorgen machte, weil Christopher nicht zu sehen war. »Das Feuer ist nicht klug, Razi«, wiederholte sie. »Es wird sie zu uns locken.«
»Nein«, gab er ruhig zurück. »Sie werden heute nicht zurückkommen. Sie sind jetzt müde und satt. Schwer von der Wandlung, die immer vor… vorher passiert.«
Mit einem Ruck war Wynter wieder wach, alles fügte sich plötzlich zusammen. »Es waren die Loup-Garous?«, fragte sie, erschrocken, weil sie den Zusammenhang nicht schon früher hergestellt hatte, und entsetzt, weil sie es tatsächlich gewesen waren. Hatten sie Christopher erkannt? Hatten sie ihm all das vorsätzlich angetan, um ihn zu beschämen? Weil sie wussten, wer er war? »O Razi, wussten sie, dass er es war?«
Er brauchte einen Moment, um ihr zu folgen, dann aber schüttelte er den Kopf. »Nein, Wyn, in diesem Zustand kennen sie kaum ihren eigenen Namen. Sie wissen nur, was sie haben wollen und …« Er erschauerte, erneut hatte er Tränen in den Augen und musste heftig schlucken.
»Diese armen Mädchen«, sagte Wynter. Razis Hand umfasste kurz ihren Nacken, dann strich er ihr wieder übers Haar. Sie drückte ihre Stirn fest in die Arme, versuchte, das Bild des kleinen Mädchens zu verdrängen, wie es vor ihr in die Finsternis verschwand.
»Das Leben war so viel einfacher, als ihr noch kleine Kinder wart, du und Albi«, wisperte Razi wie aus weiter Ferne.
Wynter lachte bitter auf. »Ach ja? In wessen glücklichem Traum denn?«
»Doch, wirklich, Wynter. Es war so viel einfacher.«
Sie öffnete die Augen, konnte sich aber nicht überwinden, Razi anzusehen, da seine Stimme tränenerstickt klang.
»Wyn? Ich glaube nicht, dass ich genug Kraft habe, um das hier zu Ende zu bringen. Zu was für einem Menschen würde mich das machen?«, fragte er. »Euch beide noch weiter mitzunehmen, nach dem, was passiert ist? Nach … allem?«
Nun drehte Wynter doch den Kopf und blickte zu ihm auf. Mit seinen großen braunen Augen und dem Schmerz darin wirkte Razi wie ein kleines Kind. Trotz Bart, trotz Narbe sah er so aus, wie Wynter ihn sich als Vierjährigen vorgestellt hätte, als er ernsthaft die Last der Welt durch eine Küchentür getragen und in eine Heukiste gelegt hatte. Sie tastete nach seiner Hand und küsste sie, presste sich seine Finger an die Wange und schloss müde die Augen. »Alles wird gut, Razi«, versprach sie ihm. »Du bist nicht allein. Du und Christopher und ich. Gemeinsam können wir alles schaffen.«
Moorehawke 02 - Geisterpfade
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