Trauerfahnen
Als Wynter in das lang gezogene, namenlose
Tal ritt, auf das ihre Landkarte sie vorbereitet hatte, wurde der
Pfad allmählich flacher. Sie rechnete damit, gegen Mittag einen
Fluss zu erreichen, dessen Lauf sie dann in den nächsten sechs oder
sieben Tagen folgen wollte, bis sie zum Gasthof des Orange Cow Inn
gelangte. Von dort aus ginge es wieder nach oben, höher in die
Berge und hinauf Richtung Indirie-Tal und, hoffentlich, Alberons
Feldlager.
Ozkar war auf diesem ebenen Untergrund viel
zufriedener. Für ihn war der steile Abhang zunehmend schwierig zu
begehen gewesen, und Wynter konnte seine Erleichterung spüren, denn
die Last ihres Gewichts war nun besser verteilt. Sie freute sich
für ihn, doch ihr selbst gefiel es gar nicht, dass sich die Bäume
so lichteten. Die massigen Kiefern hatten hervorragende Deckung
geboten, doch diese neue Art mit den hohen Stämmen und dem
spärlicheren Grün wuchs nicht so dicht, weshalb es schwieriger
würde, sich im Verborgenen zu halten.
Zweieinhalb Tage lag es zurück, dass der Räuber sie
überfallen hatte, und Wynter war wieder uneingeschränkt die Herrin
ihrer wachen Stunden – am Tag war sie beherrscht und vorsichtig,
handelte mit Bedacht.
Die Nächte allerdings waren etwas ganz anderes. In
ihren
Träumen fand der Mann sie immer wieder und quälte sie, und jeden
Morgen erwachte Wynter niedergedrückt von bleierner Müdigkeit, die
Gedanken von einer dicken Schlammschicht aus Erschöpfung
überzogen.
Und dann war da ihr Vater. Manchmal versetzte sie
der Rhythmus der Pferdehufe in einen beinahe betäubten
Dämmerzustand; dann liefen Wynter unversehens die Tränen über die
Wangen, während sie an Lorcan dachte. Sie vermisste ihn so
schrecklich, dass es ein Gefühl war wie Zahnweh. Der Kummer um ihn
kroch ihr bei jeder Gelegenheit unter die Haut, und dann konnte sie
einfach nicht anders als daran denken, wie einsam er sein musste
und dass sie ihm an ihrem letzten gemeinsamen Tag nicht alles
gesagt hatte, was sie hatte sagen wollen. All das würde nun
wahrscheinlich niemals ausgesprochen werden außer als nutzloses
Geflüster am Grab eines wundervollen Mannes. Wahrlich kein
Trost.
Wieder einmal hatte der Kummer an Wynter zu nagen
begonnen, als sich das Geräusch von Pferden in ihre Grübeleien
drängte. Rasch zügelte sie Ozkar und lauschte aufmerksam. Die
Reiter waren noch ziemlich weit entfernt, es musste eine große
Gruppe sein, die schnell und laut auf der Straße unterwegs war. Wer
diese Männer auch waren, sie hatten keine Angst und offensichtlich
kein Bedürfnis nach Heimlichkeit.
Leise glitt Wynter aus dem Sattel und band Ozkar an
eine kleine Birke. »Ganz ruhig«, raunte sie ihm zu und tätschelte
seine Nase. Dann ging sie tief in die Hocke und rannte durch die
Bäume, um mit ein bisschen Glück rechtzeitig die Straße zu
erreichen und einen guten Aussichtspunkt zu finden, bevor die
Männer vorbeigeritten waren.
Sie schaffte es gerade noch und hechtete ins
Dickicht neben der Straße, bevor ein eindrucksvoller Reitertross um
die
Kurve galoppiert kam. Es war ein zu Jonathons fabelhafter
Kavallerie gehörender Trupp, und an seiner Spitze ritten drei
stattlich auf ihren Rossen thronende Wachen der königlichen
Leibgarde.
Alle Männer waren in voller Bewaffnung und trugen
ihre angestammten Farben. Aufrecht und vornehm saßen sie in den
Sätteln, die Köpfe hoch erhoben, die Gesichter zum Schutz gegen den
Staub bedeckt. Sie gaben einen prächtigen Anblick ab. Donnernd
kamen sie auf Wynter zu, und als die Erschütterung sie auf und ab
hüpfen ließ wie einen Kiesel im Eimer, kicherte sie vor
Freude.
Doch dann entdeckte sie die Fahnen, und das Lachen
blieb ihr im Halse stecken. Sie waren auf halbmast gesetzt und
allesamt schwarz gefärbt. Wynter sah von Mann zu Mann und bemerkte
voller Verzweiflung die flatternden Dreiecke aus schwarzem Tuch,
die alle an der rechten Schulter trugen. Die Federbüsche an ihren
Nasalhelmen waren ebenfalls schwarz eingefärbt und abgeknickt, so
dass sie ihnen über den Rücken hingen wie Pferdeschweife.
Diese Männer führten die traditionellen Fahnen und
trugen die formellen Zeichen höfischer Trauer. Das konnte nur eines
bedeuten: Innerhalb der königlichen Familie hatte sich ein
Todesfall ereignet. Alberon oder Jonathon oder Razi – einer von
ihnen war tot. Kein anderer Mensch, nicht einmal Wynters Vater,
würde das Wehen einer schwarzen Fahne oder das Umknicken des
Helmbuschs der Kavallerie rechtfertigen.
Wynter lag auf der bebenden Erde zwischen tanzenden
Steinchen und Zweigen und starrte fassungslos die flatternden
Banner an. Unterdessen galoppierten die Pferde vorbei und ließen
die Luft schwer von gelbem Staub zurück. Endlich stand Wynter auf,
trat zwischen dem Gestrüpp hervor
und sah den letzten Reitern nach, die gerade um die Kurve bogen
und außer Sicht verschwanden.
Ein Todesfall in der königlichen Familie,
dachte sie. Ein Todesfall. Aber wer? Nicht Razi! Und auch nicht
Albi! Und, o du lieber Gott … was soll aus uns werden, wenn
Jonathon gestorben ist?
Was sollte sie jetzt tun?
Regungslos, den Blick auf die leere Straße vor sich
gerichtet, stand sie im grellen Sonnenlicht, während um sie der
Staub der Straße niedersank. Langsam erholte sich der Wald vom
Schrecken der vorbeiziehenden Reiterschar, und kleine Vögel
stimmten in den Büschen ihr Lied an, während sich Wynters Gedanken
überschlugen. O Razi, klagte sie innerlich, als der erste
echte Schmerzensstich sie plötzlich traf. O mein Bruder, mein
Freund. Hoffentlich bist es nicht du! Und im selben Augenblick
wusste sie, dass das die Wahrheit war, wusste mit rückhaltloser
Gewissheit und bohrendem Schuldbewusstsein, dass von allen dreien
Razi derjenige war, den zu verlieren sie nicht ertragen
könnte.
All diese Überlegungen brannten fieberhaft in ihrem
Hinterkopf, während im Vordergrund die alles beherrschende Frage
stand, was sie jetzt tun sollte. Sie befand sich fast genau auf
halbem Wege zu Alberons Lager. Wäre es angesichts der Trauerfahnen
besser, weiterzureiten, oder doch klüger, umzukehren und
herauszufinden, für wen die Fahnen wehten?
Ohne eine bewusste Entscheidung zu treffen, ritt
Wynter in die gleiche Richtung weiter. Und so fand sie sich gegen
Mittag am Ufer des breiten Flusses wieder, der sie durch sein Tal
bis zum Orange Cow Inn und von dort weiter zu Alberons Feldlager
führen würde.
Stirnrunzelnd blickte Wynter über das behäbige
grüne Wasser, dann musste sie plötzlich lachen. Aha! Während ihr
Kopf sich nicht entscheiden konnte, hatte ihr Herz sie hierher
geführt. Auf zu Alberon also.
Sie lenkte Ozkar gen Osten und trat ihm sanft in
die Flanken. Eine Stunde noch, mehr nicht – eine Stunde würde sie
noch reiten und dann rasten. Sie holte eine Handvoll Nüsse aus dem
Beutel an ihrem Reisegürtel und kaute bedächtig, während sie Ozkar
vorantrieb.