Recht geschehen
Der Hammel war köstlich, wenn man
Christophers leisen Seufzern und verzücktem Stöhnen glauben durfte.
Wäre Wynter nicht so vollauf mit ihrem eigenen Essen beschäftigt
gewesen, hätte sie ihn gnadenlos damit aufgezogen. Selbst Razi
wirkte ganz entrückt und aß mit stillem Genuss, bis er den letzten
Rest seiner gebratenen Zwiebeln mit einem Stück Roggenbrot aufnahm,
tief Luft holte und den leeren Teller wegschob. »Herrlich«,
verkündete er.
Ohne viel Hoffnung untersuchte Wynter ihr jetzt
leeres Stück Tellerbrot und überlegte, ob es wohl ein Zeichen
schlechter Kinderstube wäre, es aufzubrechen und die Soße
herauszusaugen. Bevor sie sich entscheiden konnte, kam der Wirt
gemächlich an ihren Tisch, um ihre Teller und Seidel abzuräumen,
also schob sie ihm widerstrebend auch ihren zu.
»Was gibt’s Neues in der Welt?«, fragte er, das
Geschirr auf den Arm stapelnd. »Jetzt, wo ihr nicht mehr so
verhungert ausseht.«
Razi lehnte sich zurück, zog einen Zahnstocher aus
seinem Beutel und begann, sich die Zähne zu reinigen. Seit man sie
fälschlicherweise für Diebe hielt, verzichtete er weitgehend
darauf, seine gebildete Stimme zu erheben, und überließ Christopher
das Reden. Wynter als Frau wurde entweder
Ziel lüsterner Blicke oder überhaupt nicht beachtet; von ihr
erwartete der Wirt keinerlei Entgegnung.
»Wir sind nicht auf dem neuesten Stand«, gab
Christopher zurück, »da wir uns ein Weilchen zurückgezogen haben.«
Alles außer seinen Augen lächelte, und das verlieh seinen Worten
einen gefährlichen Unterton. Der Wirt nickte verschlagen, als
wüsste er genau, was Christopher meinte.
»Obwohl wir gestern auf der Straße Kavallerie
gesehen haben«, warf Wynter ein.
Alle Köpfe im Raum schnellten hoch, und einer der
Männer am mittleren Tisch fragte scharf: »Was für eine Straße?
Welche Richtung?«
Christopher warf ihm einen kurzen Blick zu. »Nach
Norden«, antwortete er. »Vermutlich zur großen Wegkreuzung, nehme
ich an.«
Daraufhin beruhigten sich die rauen Gesellen
wieder, aber die Anspannung verschwand nicht vollständig aus ihren
Mienen. Die Hofhunde bellten, und einer der Teerbrenner drehte sich
zum Fenster um und blickte hinaus. »Da kommen noch mehr Teerer«,
sagte er. »Sind noch weiter oben im Tal.«
Der Wirt brüllte in die Küche: »Teerer sind da.
Setzt Wasser auf. Sagt den anderen Weibern, sie sollen die Zimmer
vorbereiten.« Dann wandte er sich zurück an Christopher und hob
auffordernd eine Augenbraue.
»Die Kavallerie hat schwarze Fahnen geführt«,
erzählte Christopher weiter. »Und die Federbüsche waren
abgeknickt.«
»Das ist bloß wegen dem toten Prinz«, erklärte
einer der Männer.
Wynter spürte alle Farbe aus ihrem Gesicht weichen,
und Razi rutschte langsam vor auf die Stuhlkante. Unter
dem Tisch streckte er die Hand aus, und sie ergriff sie
verstohlen.
»Welcher Prinz?«, fragte Christopher heiser.
»Na, der …«, begann der Mann am Kamin.
»Was wird wohl die kleine Moorehawke-Dirne jetzt
anfangen, frage ich mich?«, unterbrach ihn einer der Teerbrenner,
versonnen in den Zähnen stochernd, und Wynter spürte Razis Griff
fester werden.
»Die muss zurück zum Schloss und sich dem König auf
Gnade und Ungnade ausliefern.«
»Aber der bringt sie um, wegen dem, was sie getan
hat, verdammt. Die sollte sich lieber aus dem Staub machen.«
»Ach, die ist doch längst tot.«
»Aber ihre Leiche haben sie nicht gefunden!«
»Ist doch einerlei. Nach dem, was sie mit dem
Araber angestellt haben – wer weiß, was sie mit ihr machen würden.
Das ist verflucht nochmal barbarisch gewesen, jawohl.«
Wynter blinzelte. Ihre Augen fühlten sich rau und
heiß an. Nach dem, was sie mit dem Araber angestellt
haben.
»Recht ist es ihm geschehen. Der hinterhältige
Teufel hat gekriegt, was er verdient hat.«
Steif und reglos saß Razi da, unter dem Tisch
zerquetschte er Wynter beinahe die Hand.
Stockend hörte sie Christophers Stimme durch den
Nebel ihrer Benommenheit krächzen: »Was … was haben sie denn mit
dem Araber angestellt?«
Doch das Gespräch hatte bereits eine andere
Richtung eingeschlagen; niemand beachtete Christopher.
»War’s der König, glaubt ihr?«, fragte der junge
Teerbrenner. »Aus Rache für den Tod von Lorcan Moorehawke?«
Wynter schrak auf. »Was?«, rief sie. »Wann?«
Alles verstummte und drehte sich zu ihr um.
Da hämmerte sie mit der Faust auf den Tisch, dass
die Männer zusammenzuckten. »Wann?«, wiederholte sie
herrisch.
»Wann ist Lorcan Moorehawke gestorben?« Razis tiefe
Stimme klang erstaunlich ruhig.
Alle Männer machten Aaaaah und sahen Wynter
mitfühlend an. Lorcan war ein sehr beliebter Mann gewesen, und sie
senkten verständnisvoll die Köpfe. Armes, zartes Frauchen, von
ihren Gefühlen überwältigt.
»Vor vier Tagen«, berichtete einer der Teerbrenner
traurig. »Das Gift von dem Araber hat ihm das Herz
zerfressen.«
Wynter stieß ein leises, verzweifeltes Geräusch
aus, und Razi krümmte sich, als hätte er Bauchweh. »O nein«,
flüsterte er. »Bitte …«
»Es heißt, der König hat sich auf den Leichnam
geworfen und zwei volle Tage lang niemanden auch nur in die Nähe
gelassen. Danach hat er ihn selbst aufgebahrt. Sie sagen, die
Priester hätten ihn einsalben wollen, aber der König hat sie fast
die Treppe runtergeschmissen.«
Wynter blickte zur Decke, ihre Augen schwammen in
Tränen. Der Teil des Berichts konnte tatsächlich stimmen, überlegte
sie. In Anbetracht des Hasses, den Lorcan gegen die Kirche gehegt
hatte, wollte Jonathon ihm vielleicht wenigstens diese Heuchelei
ersparen.
Die schiere, schwarze Tiefe ihres Kummers raubte
ihr den Atem, und sie musste sich alle Mühe geben, um nicht die
Beherrschung zu verlieren, während die Unterhaltung um sie herum
weiterging.
»Ich komm einfach nicht darüber weg, dass das Mädel
dem Araber dabei geholfen hat, den eigenen Vater
umzubringen.«
»Macht zieht Frauen immer an«, bemerkte einer von
ihnen weise. »Die hat bestimmt geglaubt, sie schafft es auf den
Thron, und wollte ein hübsches weiches Kissen für ihren
Hintern.«
»Tja, da hat sie aber verflucht noch mal aufs
falsche Pferd gesetzt, das kleine Luder.«
Der ganze Raum lachte grimmig. Wynter war
überzeugt, ihr Essen wieder von sich geben zu müssen, sie konnte es
buchstäblich von unten gegen die Kehle drücken fühlen.
»Trotzdem glaub ich nicht, dass es der König
gewesen ist«, überlegte ein anderer. »Ich vermute, dass es Prinz
Alberon gewesen ist, wo den Araber aus dem Weg geräumt hat.«
Bei diesen Worten blickten alle auf, und der Mann
breitete die Hände aus. »Er hatte doch keine Wahl! Wenigstens kommt
der verhexte König jetzt vielleicht wieder zu sich und holt seinen
rechtmäßigen Erben nach Hause!«
»Was ist mit ihm geschehen?«, wollte
Christopher wissen. »Was ist mit dem Araber geschehen?«
Plötzlich herrschte draußen großes Getümmel, viele
Pferde waren angekommen, die Hunde bellten. Man hörte Rufe und
Pfiffe, und der Wirt ging zur Tür.
Der Mann am mittleren Tisch erhob die Stimme, um
den Lärm zu übertönen. »Seine Männer wurden überrumpelt, nachdem
sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten!«, brüllte er.
»Irgendjemand hat ihnen Gift in die Wassersäcke geschmuggelt, und
wie sich dann die Ritter alle gewälzt und die Bäuche gehalten
haben, da sind ein paar Kerle gekommen und haben ihnen einfach die
Kehlen aufgeschlitzt wie einem Haufen Hühner!«
»Aber was war mit dem Prinzen?«, fragte Razi still.
»Was ist mit ihm passiert?«
»Ach, der.« Der Mann sah Razi gehässig an.
»Der hat nicht so viel Glück gehabt. Den haben sie
aufgeknüpft und
an seinem eigenen Pferd hinterhergeschleift, bis kein Fetzen
Fleisch mehr an seinen Knochen hing, und dann haben sie ihm den
Kopf abgeschnitten und damit Fußball gespielt. Angeblich haben sie
ihn in einem Hanfsack zum König zurückgeschickt, so zermatscht,
dass seine eigene Schlange von einer Mutter ihn nicht mehr erkennen
würde.«
Wynter umklammerte die Tischplatte, so sehr
entsetzte sie die brutale Befriedigung in der Stimme des Mannes.
Armer Shuqayr! Der arme Junge. Ohne nachzudenken, drehte sie sich
zu Razi um und wollte die Arme um ihn legen. Doch er wehrte sie mit
einer heftigen Aufwärtsbewegung seines Arms ab. »Lass mich los!«,
rief er, sprang auf die Füße und schob den Tisch mit einem
kräftigen Stoß fort.
Inzwischen hatte sich der Schankraum mit
geschwärzten, rauchgebeizten Männern gefüllt, und Razi drängte sich
mit den Ellbogen durch die Menge und taumelte hinaus in den Hof.
Wynter wusste, dass sie ihm folgen sollte, doch stattdessen vergrub
sie das Gesicht in den Händen und versuchte krampfhaft, nicht die
Bilder zu betrachten, die in ihrem Kopf herumschwirrten. Steif saß
Christopher neben ihr, die Hände auf dem Tisch zu nutzlosen Fäusten
geballt.
Um sie herum fluteten Chaos und Tumult, und alle
Gesprächsfäden verloren sich in der Ankunft der rußverschmierten
Teerbrenner.
Jemand klopfte auf den Tisch. »Heda!«
Wynter erkannte Minnies Stimme, und sie drückte
sich die Finger fester in die Augen, inständig hoffend, sie würde
wieder weggehen. Christopher legte Wynter die Hand auf den Rücken,
hob den Kopf und sah das Mädchen an. »Was ist denn?«, herrschte er
sie an.
»Der dunkle Kerl da hat mir vorhin Geld gegeben,
damit ich ein Bad anheize. Das wär jetzt fertig. Wer von euch will
zuerst?«
Wynter spürte, dass sich Christopher dicht zu ihr
beugte. »Liebling?« Sein tiefes Murmeln war so warm in ihrem Ohr,
dass sie sich am liebsten an ihn gekuschelt hätte und eingeschlafen
wäre. »Möchtest du immer noch baden?« Er legte ihr den Arm um die
Taille, und Wynter stellte fest, dass sie am allerliebsten einfach
hierbleiben würde, in seiner tröstlichen Gegenwart.
»Lass Ra… lass meinen Bruder zuerst gehen.« In
einer einzigen fließenden Bewegung hob sie den Kopf und wischte
sich das Gesicht ab.
»Ist gut. Ich bin gleich zurück.«
Zu ihrer Enttäuschung stand Christopher auf, schob
sich am Tisch vorbei und ließ sie allein, während er sich auf die
Suche nach Razi machte.
Das Gasthaus war jetzt voller Männer, sie lachten
und ließen sich krachend auf Stühle fallen, brüllten Bestellungen
und erkundigten sich nach Neuigkeiten. Wynter beobachtete das
Treiben, als wäre es ein schlecht geschriebenes Theaterstück,
unwirklich, weit entfernt und ohne Belang für sie. Ihr Inneres war
erfüllt von dunstiger Benommenheit und bar jedes Gedankens. Wieder
starrte sie den Mann am Kamin an, ohne ihn tatsächlich zu sehen. Er
blickte auf. Sein fehlender Kamerad war zurückgekehrt und setzte
sich auf den freien Stuhl. Er nahm einen herzhaften Schluck
Apfelmost und fischte sich ein Stückchen Fleisch von seinem
Tellerbrot.
Das Gesicht war so zerschunden, dass Wynter ihn
nicht gleich erkannte, doch dann lachte sein Gefährte und sagte
laut: »Mich wundert, dass sie überhaupt noch mit dir spricht, so
wie du aussiehst, Tosh.«
In Wynters Magengegend wurde es eiskalt. Tosh. Sie
sah den neuen Mann an, nahm ihn jetzt wirklich wahr,
lauschte wirklich.
»Was hat denn mein Aussehen damit zu tun, hä?«,
versetzte der höhnisch. »Ist ja nicht so, als tät sie mir einen
Gefallen tun.«
Der erste Mann grinste und sagte etwas, das im Lärm
der Schenke unterging. Sein Kumpan allerdings hörte gar nicht
richtig zu, sondern sah sich in der Menge um. Rasch fand er Wynter,
und sie konnte ihn nur anstarren, unfähig, sich abzuwenden. Zuerst
grinste er, zeigte die Zahnlücken, die Ozkar ihm geschlagen hatte –
nur ein Mann, der sich über den Anblick einer neuen Frau in einer
Welt allzu bekannter Frauen freut. Dann jedoch stutzte er, runzelte
die Stirn, und Wynter sah Mordgelüste in seinen Augen aufflackern,
als er begriff, wer sie war.
Genau diesen Moment wählte Christopher, um sich
durch die dicht gedrängten Gäste zu schlängeln, über den Tisch zu
beugen und sie anzusprechen. Er bemerkte ihren Gesichtsausdruck und
drehte sofort den Kopf, um ihrem Blick zu folgen. Wynter war immer
noch außerstande, die Augen von dem Mann loszureißen. Es war, als
hätte man ihren Körper in einen winterlichen Fluss getaucht und als
gefrorene Statue wieder herausgezogen.
Der Wegelagerer strich sich mit der Zunge über die
kaputten Zähne, seine Miene war hart. Er wusste, dass Christopher
da war, doch er nahm sich viel Zeit, zu ihm aufzublicken. Als er
schließlich den Kopf hob, sah er ihm dreist in die Augen, verzog
dann spöttisch die Lippen und zwinkerte Wynter zu.
Ab da konnte sie ihn nicht mehr sehen, weil ihr
jemand die Sicht versperrte. Dieser Jemand setzte sich ihr
gegenüber
an den Tisch – Christopher. Absichtlich platzierte er sich genau
zwischen Wynter und dem Kamin.
»Hallo«, sagte er.
Er streckte die Arme über den Tisch und ergriff
Wynters fest geballte Fäuste. Wie im Traum betrachtete sie ihre
miteinander verbundenen Hände. Sie hätte ebenso gut ein Falke sein
können, der hoch über dem Gasthaus schwebte, so fern kam er ihr
vor. Doch dann festigte Christopher seinen Griff. An seiner linken
Hand war der Stumpf des Mittelfingers leicht zur Seite gebogen,
wodurch er sich ein Stück unter seinen Ringfinger schob und nun in
Wynters Handrücken drückte. Dieses unverwechselbare Gefühl löste
mit einem Schlag ihre Starre. Alles um sie herum wurde wieder
scharf, der Lärm der Menge drang zu ihr durch.
Wynter blinzelte, atmete tief ein und wandte sich
Christophers schmalem Gesicht zu. Er war bleicher, als sie ihn je
zuvor gesehen hatte, seine Augen blickten durchdringend.
»Ist er das?«, fragte er sanft.
Er wirkte jetzt kein bisschen wütender als in der
Nacht, als sie ihm von dem Überfall erzählt hatte, was Wynter
beruhigend fand, also nickte sie. Christopher drückte den Rücken
durch, und sie rechnete damit, dass er sich zu dem Räuber umdrehen
würde, doch er wandte den Blick nach links, so dass seine Wimpern
lange Schatten auf die Wange warfen, und legte den Kopf etwas
schief, als horche er über die Schulter. Mit dem Daumen streichelte
er ihre Hand, dann sah er sie wieder an.
»Komm, wir bringen unsere Sachen hier raus. Wir
tragen einfach alles zum Badehaus und setzen uns davor, ja?
Unterhalten uns durch die Wand mit Razi, bis wir dran sind. Ich sag
dem Mädel da, sie soll uns etwas kalten Most und Apfelkuchen
bringen. Dann setzen wir uns damit schön in die Sonne, bevor wir
weiterreiten. Was hältst du davon?«
Wynter nickte, und zusammen mit Christopher
sammelte sie ihre Habseligkeiten auf und ging nach draußen. Sie
drehte sich nicht noch einmal zu dem Mann um.