22

Als Hélène sie am nächsten Morgen um sieben Uhr weckte, überlegte Amelia kurz, ob sie im Bett bleiben sollte. Angesichts ihrer gerade erst überstandenen Krankheit würde Thomas ihr keinen Vorwurf machen können, obwohl er natürlich genau wusste, dass ihre Abwesenheit einzig und allein auf den gestrigen Abend zurückzuführen war. Darauf, dass er ihr die Unschuld geraubt hatte. Nur aus diesem Grund zwang sie sich, aus dem Bett zu steigen.

Außer der Tasse Tee rührte sie auf ihrem Frühstückstablett nichts an und ging gleich hinunter zu ihrem Arbeitsplatz. Die Zeit schien sich endlos auszudehnen, während ihr knurrender Magen den Mittag herbeisehnte. Vor allem aber überfielen sie die Erinnerungen an die Stunden in Thomas’ Bett, an die Zeit in seinen Armen.

Angestrengt versuchte sie, die flammend heißen Bilder seines nackten Körpers aus dem Kopf zu verscheuchen und stattdessen an seine Hinterhältigkeit zu denken. Auch wenn sie Clayborough längst nicht mehr wollte, war das noch lange keine Entschuldigung für solch hinterlistiges Treiben. Nein, sie musste ihren Zorn pflegen, wenn sie sich nicht schwach und unterlegen fühlen oder nicht in einer Sehnsucht versinken wollte, die sie beinahe verzehrte.

Amelia war jedenfalls felsenfest entschlossen, den Vorfall zu vergessen. Sie hatte es sich wegen eines hübschen Gesichts, ein paar leidenschaftlicher Umarmungen und fürsorglicher Gesten erlaubt, sich auf geradezu ruinöse Art in ihrem Urteil zu irren. Trotz der positiven Seiten, die sie mittlerweile an Thomas Armstrong entdeckt hatte – das mit den Briefen ging eindeutig zu weit. Vielleicht war es ja sogar ein Ausdruck seines wahren Charakters.

Plötzlich stand er vor ihr; der Gegenstand ihres Haderns und zugleich ihres Sehnens. Hatte sie sich wirklich eingebildet, die Verlockung, die er ausstrahlte, ließe sich unterdrücken? Nein, trotz allem nicht. Kein Wunder, wenn Frauen, die im Gegensatz zu ihr nur seine Schokoladenseite kannten, ihm scharenweise zu Füßen lagen.

»Guten Morgen, Amelia«, grüßte er knapp und würdigte sie auf dem Weg zum Schreibtisch kaum eines Blickes.

Amelia brachte nur ein knappes Nicken zustande. Er schien sich im Gegensatz zu ihr nicht unbehaglich zu fühlen, denn auf seiner Miene spiegelte sich nicht der Hauch eines schlechten Gewissens. Es gab vieles, wofür er sich schuldig zu fühlen hatte. Ein ehrenwerter Gentleman hätte schon längst den Ring gekauft oder ihn aus den Familienerbstücken hervorgesucht, ihn ihr auf den Finger gesteckt und den Segen ihres Vaters erbeten. Und er? Tat doch glatt so, als sei nichts geschehen. Sie schob das Kinn vor und straffte den Rücken.

»Wie Sie sehen, ist während Ihrer Abwesenheit viel Arbeit aufgelaufen.« Zerstreut ließ er den Blick über die Papierstapel auf seinem Schreibtisch gleiten. »Falls Sie meine Unterstützung benötigen, ich arbeite in der Bibliothek.« Er schaute sie an. »Legen Sie das hier in den Ordnern ab«, wies er sie an und deutete auf den Tisch. »Und sobald Sie damit fertig sind, habe ich einen Vertrag, der übersetzt werden müsste. Oh, und achten Sie darauf, sich nicht an den Rand der Erschöpfung zu bringen.« Ohne ein Lächeln oder eine freundliche Geste schnappte er sich das Kontobuch und verließ das Zimmer.

Amelia wusste nicht, wie lange sie reglos auf ihrem Stuhl gesessen hatte. Ihr fielen hundert verschiedene Gründe ein, sich als Dummkopf zu beschimpfen, und sie schluckte tapfer den Kloß in ihrem Hals hinunter. Nein, weinen wollte sie auf keinen Fall – verzweifelt unterdrückte sie die aufsteigenden Tränen. Gestern Abend hatte sie nicht geweint, und heute würde sie es ganz bestimmt ebenfalls nicht tun. Diese Genugtuung gönnte sie ihm nicht. Er war es nicht wert, seinetwegen Tränen zu vergießen. Und schon gar nicht, ihre Gefühle an ihn zu verschwenden. Je schneller sie beide den Vorfall vergaßen, desto besser. Von ihm jedenfalls erwartete sie nichts mehr. Rein gar nichts.

Von der Tür hörte sie ein Geräusch. Verdammt, er kommt zurück. Rasch nahm sie einen Stapel Verträge in die Hand und beugte sich darüber, als sei sie tief in ihre Arbeit versunken.

»Ich hoffe, dass ich nicht störe.«

Als sie Alex Cartwrights Stimme hörte, schaute Amelia erleichtert auf. Er sah so attraktiv aus wie immer, war frisch rasiert, steckte in olivfarbenen Hosen samt Weste und trug eine passende Krawatte. In seiner linken Hand baumelte ein Paar schwarze Lederhandschuhe.

»Guten Morgen, Lady Amelia.« Er lächelte entspannt und blieb vor ihrem Tisch stehen.

»Guten Morgen, Lord Alex.« Sie bemühte sich um einen liebenswürdigen Tonfall, der ihren inneren Aufruhr verbarg. »Nein, Sie stören nicht. Da ist nichts, was nicht warten könnte.« Immerhin ein freundliches Gesicht an diesem schrecklichen Morgen, und genau das konnte sie verzweifelt gebrauchen.

»Ich bin gekommen, mich zu verabschieden. Vermutlich habe ich die Gastfreundschaft meines Freundes ohnehin ein wenig zu sehr strapaziert.«

Bitte gehen Sie nicht, hätte sie ihn am liebsten angefleht, aber natürlich ließ ihr Stolz es nicht zu, dass ihr solche Worte über die Lippen kamen. Angesichts des verständnisvollen Lächelns fragte sie sich allerdings, ob sie so ängstlich aussah, wie sie sich fühlte.

»Wenn ich geahnt hätte, wie viel Vergnügen mir Ihre Gesellschaft bereitet, dann würde ich mehr Tage eingeplant haben, aber leider rufen mich geschäftliche Angelegenheiten nach London zurück. Und weil keine vernünftige Frau mit Vermögen mich will, muss ich arbeiten, um mir das Dach über dem Kopf zu verdienen.«

Amelia lachte. »Ich glaube kaum, dass es so schlimm steht.« Von ihrem Vater wusste sie, dass allein der Gewinn, den Wendel’s Shipping erwirtschaftete, den künftigen Generationen der Cartwrights ein außerordentlich gutes Einkommen sichern würde. Darüber hinaus sah er bemerkenswert gut aus, sodass sich, zweitgeborener Sohn und ohne eigenen Titel hin oder her, bestimmt viele Frauen um seine Gunst rissen.

»Ich glaube, ich habe mich nicht allzu viel herumgetrieben. Es könnte also schlechter um mich stehen«, erwiderte er augenzwinkernd.

»Vielleicht sehen wir uns noch einmal, bevor Sie abreisen.«

»Nichts anderes wäre mein sehnlichster Wunsch, Lady Amelia.« Mit einer übertriebenen Verbeugung führte er ihre ausgestreckte Hand an seinen Mund und hauchte einen Kuss über den Handrücken.

»Ich brauche noch die …« Thomas brach ab und blieb befremdet stehen.

Unwillkürlich riss Amelia ihre Hand zurück und schimpfte sich gleichzeitig, weil sie sich benahm wie ein auf frischer Tat ertappter Dieb. Über Alex’ gesenkten Kopf hinweg begegnete sie Thomas’ Blick; er kniff die grünen Augen zusammen und presste die Lippen fest aufeinander.

»Ich dachte, du bist schon unterwegs?« Obwohl er mit dem Freund sprach, hielt er ihren Blick fest.

Cartwright richtete sich auf und wandte sich ihm ungerührt zu. »Wie könnte ich abreisen, ohne mich von Lady Amelia zu verabschieden?«, fragte er mit verhaltenem Spott in der Stimme.

Thomas beobachtete sie mit frostiger Miene. »Lasst euch durch mich nicht stören«, stieß er schroff hervor und erntete ein bedeutungsschweres Schweigen, in dem man nur die knisternde Spannung zwischen den beiden Männern zu spüren meinte.

Alex erwiderte den Blick seines Freundes, bevor er mit einem trockenen Lächeln das Wort wieder an Amelia richtete. »Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass ich hinausgeworfen werde. Noch einmal, Lady Amelia, ich hoffe, dass wir unsere Bekanntschaft in naher Zukunft fortsetzen können.«

»Es wäre mir eine Ehre«, erwiderte Amelia, obwohl Thomas wie ein drohender Gefängniswärter im Hintergrund lauerte. Vielleicht fühlte sie sich genau deshalb angestachelt, ihn weiter zu provozieren. »Ich hoffe inständig, dass Sie sich uns Weihnachten in Berkshire anschließen. Es wäre wundervoll, dort ein freundliches Gesicht zu sehen. Noch dazu ein so attraktives.«

Alex grinste von einem Ohr zum anderen, als verstünde er, warum sie mit ihm flirtete. »Sie machen es mir unmöglich, Ihnen einen Korb zu geben.« Wieder ergriff er ihre Hand und hauchte einen Kuss über den Handrücken.

»Solltest … du … nicht … rechtzeitig … am … Bahnhof … sein?« Es klang, als würde Thomas die Silben einzeln ausspucken.

Alex hob den Kopf und zwinkerte ihr noch einmal zu, bevor er ihre Hand losließ. Er verbeugte sich leicht und drehte sich zu Thomas. »Wie ich sehe, habe ich deine Gastfreundschaft zu sehr strapaziert. Reg dich bloß nicht auf. Ich bin schon weg.«

»Amelia hat wichtige Arbeiten zu erledigen. Verabschiede dich und dann verschwinde.«

Ohne ein Wort ging Cartwright an seinem Freund vorbei, der stocksteif im Zimmer stand. Auf der Türschwelle warf er einen Blick zurück. »Ich nehme an, dass wir uns bei Rutherford sehen.« Damit war er verschwunden.

»Ich wundere mich, dass Sie überhaupt noch Freunde haben.« Amelia war einerseits verärgert, andererseits merkwürdig erfreut über seine Reaktion.

»Sie werden sich von Cartwright fernhalten, haben Sie mich verstanden?« Keine höfliche Fassade mehr, nur noch Befehle, geboren aus Eifersucht.

»Das dürfte kein Problem sein, jetzt wo er fort ist.«

Seine Hände ballten sich zu Fäusten, seine grünen Augen glühten, doch er schwieg.

»Es ist wirklich und wahrhaftig der Gipfel der Heuchelei, dass Sie mich einerseits Ihres Freundes nicht für würdig befinden, mich andererseits zugleich an sich reißen.« Eigentlich hatte Amelia nicht vorgehabt, auch nur ein einziges Wort über die vergangene Nacht zu verlieren, doch jetzt war es geschehen.

»Wenn ich eine Frau in meinem Schlafzimmer vorfinde, die ich nicht eingeladen habe, kann ich nach Belieben mit ihr verfahren«, stieß er mit schneidender Stimme hervor. »Und wie Sie sich vielleicht erinnern, wurden meine Künste mit großer Begeisterung willkommen geheißen. Aber schätzungsweise ist das der Teil, den Sie am liebsten ganz und gar aus Ihrem Gedächtnis streichen möchten.«

Selbstgefälliger, arroganter Dreckskerl. Er würde jede Gelegenheit nutzen, ihr vorzuhalten, was zwischen ihnen geschehen war. »Leider verfüge ich nicht über Ihre reichhaltige Erfahrung, um angemessen beurteilen zu können, was in einer solchen Lage angebracht ist.«

Er verzog die Lippen auf eine Art, die sie regelrecht wütend machte: süffisant und verärgert zugleich. »Das hat Sie allerdings nicht gehindert, mir den Kopf zu kraulen und wie ein rolliges Kätzchen zu schreien.«

Unwillkürlich senkte Amelia den Kopf, um die Röte zu verbergen, die ihr in die Wangen stieg. Hatte ihr Vater ihr nicht immer wieder vorgeworfen, zu ungestüm zu sein? Es war ein schrecklicher Fehler, dieses Gespräch überhaupt vom Zaun gebrochen zu haben.

»Aha, ich sehe, darauf wissen Sie keine Antwort mehr.« Jetzt schwang eindeutig Belustigung in seiner Stimme mit. Er klang so, als würde er sich am liebsten schadenfroh die Hände reiben.

Amelia riss den Kopf hoch und bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Sie sind bedauernswert.«

Er lächelte breit. »Ich glaube nicht, dass Sie gestern Abend auch so gedacht haben. Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie kaum in der Lage, auch nur ein einziges Wort über die Lippen zu bringen. Nichts außer Keuchen und Stöhnen. Wer hätte je gedacht, dass Sie eine so lustvolle Bettgenossin abgeben. Glücklicherweise habe ich es bemerkt, bevor es zu spät ist, denn es ist der beste Weg …«

Der Stuhl krachte lautstark zu Boden, als Amelia aufsprang. »Schluss jetzt! Es reicht! Ich werde nicht hier sitzen und Ihnen weiter zuhören. Sie sind der … der …« Sie brach ab, weil ihr der passende Ausdruck fehlte. In diesem Moment gab es kein Wort, das kraftvoll und abscheulich genug gewesen wäre, um Thomas Armstrong zu beschreiben.

»Der begabteste Liebhaber, den Sie jemals gehabt haben?«, hakte er in aller Unschuld nach.

»Ha!«, schrie sie. »Der einzige leider, sodass mir der Vergleich fehlt. Aber ich rechne damit, dass sich Ihre angeblichen Künste eines Tages ganz schön relativieren.«

Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da war er schon bei ihr. Riss sie ungestüm in seine Arme, öffnete ihre Lippen und drang mit seiner Zunge in ihren Mund ein. Wieder wehrte sie sich nicht, brachte für sich nur die Entschuldigung vor, dass ihr keine Zeit geblieben sei, sich gegen ihn zu wappnen. Und ihr Körper, dumm wie er war, verfiel ihm erneut.

Zum wievielten Male inzwischen?

Sie schmeckte nach Pfefferminz, fühlte sich warm und fest an, überall dort wo es so sein sollte: an ihrem wohlgeformten Hinterteil, ihren wundervollen Brüsten. Du lieber Himmel, wie sie küsste. Ein Naturtalent, das genau wusste, was man so alles anstellen konnte dabei. Wie sie seine Zunge zwischen ihren Lippen gefangen hielt, träge daran saugte, ihn lockte und an ihm knabberte, als ob sie dieses italienische Eis schleckte, das gerade so beliebt war.

Thomas veränderte seine und ihre Stellung, sodass er seine Erregung gegen ihren gewölbten Bauch pressen konnte. Insgeheim verfluchte er die endlosen Falten ihres grauen Rockes. Sobald er sie nur berührte, bekam er eine Erektion und sehnte sich nur noch danach, sie gleich hier auf dem Fußboden im Arbeitszimmer zu nehmen.

Wieder einmal spürte er, wie ihm langsam die Kontrolle entglitt. Hinsichtlich seiner körperlichen Bedürfnisse schaffte Amelia es, ihn in einen Einfaltspinsel zu verwandeln. Er brach den Kuss ab und zog mit den Lippen eine federleichte Spur von ihrem Nacken zu der empfindlichen Stelle hinter ihrem Ohr, und als er sie küsste, begann sie zu keuchen und zu stöhnen. Schließlich gelangte er an das kleine Grübchen zwischen Hals und Schulter, und wieder stöhnte Amelia.

Ein Geräusch brachte ihn in die Wirklichkeit zurück, half ihm, seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Abrupt ließ er sie los, sodass sie rückwärtsstolperte und nach der Schreibtischkante griff, um sich abzustützen. Aus ihren blauen Augen sprach eine Mischung aus Überraschung, Lust und Sehnsucht. Rasch drehte sie ihm den Rücken zu, um ihren keuchenden Atem zu beruhigen und ihr unbefriedigtes Verlangen zu dämpfen.

Thomas wollte etwas sagen. Irgendetwas, doch ihm fiel nichts ein. Er räusperte sich, aber sein Herz klopfte so stark, dass er nicht sprechen konnte. Er atmete tief durch, ohne dass es ihm die Erleichterung verschaffte, nach der es ihn verlangte. Langsam und vorsichtig wandte er sich von ihr ab und verließ still das Zimmer – wie ein Mensch, der seiner Sucht nicht Herr wird.

Amelia richtete sich erst auf, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, und atmete geräuschvoll aus. Zögernd legte sie die Hand an den Hals, um ihren rasenden Puls zu fühlen, und betastete anschließend ihr erhitztes Gesicht. Die Erkenntnis schmerzte, dass er es war, der den Kuss beendete und nicht sie. Thomas Armstrong hatte sich von ihr gelöst.

Amelias Gesicht brannte. Ihre Hände zitterten. Was machte dieser Mann nur aus ihr? Nicht nur, dass sie ihm alles, wirklich alles zu erlauben bereit war. Nein, sie fand Gefallen daran, übermäßigen sogar. Sie hatte sich wie ein Vielfraß benommen, der sich am üppigsten Büffet in ganz London bediente, sich bis zum Überdruss vollstopfte und anschließend sogar wünschte, noch einen Nachschlag zu bekommen.