12
Just als Amelia am nächsten Morgen das Arbeitszimmer betrat, schlug die große Standuhr in der Halle achtmal zur vollen Stunde. Sie stieß einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus, als sie mit einem schnellen Blick durch das Zimmer feststellte, dass sie tatsächlich die Erste war.
»Wie ich sehe, ist es Ihnen heute gelungen, pünktlich zu erscheinen«, spottete der Viscount hinter ihr. Seiner Stimme war nichts mehr von den gestrigen Ereignissen anzumerken.
Amelia drehte sich um und entdeckte Thomas, der soeben hereinkam. Er sah bemerkenswert ausgeruht aus und verdammt attraktiv. Noch nie hatten brauner Tweed und Kamelhaarwolle einen bestechenderen männlichen Körper bedeckt, zumindest nach ihrer Einschätzung nicht. Ihr Herzschlag begann leicht zu flattern.
»Was haben Sie erwartet? Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie ungehorsame Dienstboten gelegentlich auspeitschen. Herzlichen Dank, aber ich ziehe einen Rücken ohne Narben vor«, erwiderte sie knapp, bevor sie sich an ihren Platz setzte. Wenn er so tat, als sei nichts geschehen, und nahtlos zu dem alten ätzenden Tonfall zurückkehrte, warum dann nicht auch sie?
»O nein, ich würde Sie keineswegs auspeitschen, sondern Ihnen den Hintern versohlen.«
Amelia schnappte entsetzt nach Luft. Ihr Blick flog zu ihm hinüber. Obwohl es belustigt in seinen Augen funkelte, erweckte er den Eindruck, als habe er nicht die geringsten Probleme mit solcher Art der Bestrafung.
»Mylord, Sie sind wirklich …«
»Arrogant, ja, ich weiß, schrecklich und so weiter. Sparen Sie sich die Worte. Ich habe verstanden.«
Noch vor drei Tagen hätte es ihren Zorn provoziert, dass er sie so einfach unterbrach, oder Ärger über eine seiner typischen Bemerkungen, die nur vordergründig freundlich, ansonsten reine Frechheiten waren. Und natürlich hätte sie das nicht auf sich sitzen lassen. Heute dagegen empfand sie bloß Verlegenheit. Amelia schloss den Mund.
Thomas durchquerte das Zimmer und hielt erst inne, als er breitbeinig vor ihrem Tisch stand. Amelias Herzschlag raste fast so, als wolle er sich überschlagen. Sie brachte es mit Mühe und Not fertig, zum Ausdruck ihrer Missbilligung die Brauen ein wenig hochzuziehen.
»Könnte es sein, dass meine Mutter Ihnen zu Ehren heute zu einem Fest eingeladen hat?«
Amelia wusste, worauf er anspielte, und bedachte ihn mit einem leeren Blick.
»Ihre Frisur, Ihr Kleid: Ist das nicht alles ein bisschen elegant für das hier?« Er machte eine Handbewegung, die das Arbeitszimmer umfasste. Ihr Reich für den Moment, der einzige Platz, der ihr zustand.
War es da nicht gleichgültig, dass sie Hélènes Brennschere genommen hatte, um sich ein paar Locken ins Haar zu zaubern?
Rein äußerliche Schönheit mag dem Auge schmeicheln, reicht aber nicht aus, um meine Aufmerksamkeit zu fesseln.
Selbst wenn das blassviolette Seidenkleid mit dem gekräuselten Band als Besatz vielleicht tatsächlich besser zu einem festlichen Abendessen passte – na und? Es war schließlich kein Verbrechen, dass sie es tagsüber trug.
Sie könnten mich niemals verlocken.
Sosehr sie sich auch einzureden versuchte, dass ihre Kleidung völlig in Ordnung sei, fühlte sie sich bis auf den Grund ihrer Seele durchschaut, einschließlich ihres verletzten Stolzes. Zudem spürte sie dunkel, dass er sich über sie amüsierte.
Der Himmel möge mir beistehen, sollte ich jemals eine Tochter bekommen, die Ihnen ähnlich ist.
Er ließ sie noch einen kleinen Moment schmoren, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und zum Schreibtisch eilte. »Bevor Sie sich an Ihrem Tisch einrichten, brauche ich noch einen Kaffee.« Er warf ihr die Bemerkung mit einer Lässigkeit zu, die wohl den Eindruck vermitteln sollte, dass solche Bitten künftig zu ihrem Alltag gehörten.
Amelia schüttelte unmerklich den Kopf. Ihm den Kaffee holen? War er jetzt etwa vollkommen verrückt geworden?
Er schien ihr Widerstreben zu spüren. »Warum sollte ich mich selbst darum kümmern, wo ich doch Sie habe?«, sagte er und setzte sich an seinen Schreibtisch.
»Warum soll ich den Kaffee holen, wenn Sie ein ganzes Heer von Dienstboten beschäftigen, zu deren ausdrücklichen Aufgaben es gehört, Ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen?« Mittlerweile, fand sie, war seine kleinliche Rachsucht auf einem Niveau angelangt, das selbst ihn beschämen sollte.
Armstrong antwortete nicht sofort, sondern kramte stattdessen demonstrativ auf seinem Schreibtisch herum. »Ich möchte ganz einfach, dass Sie sich darum kümmern«, antwortete er schließlich zerstreut, »Mr. Wendels Sekretärin bringt ihm jeden Morgen seinen Kaffee. So ungewöhnlich ist das also gar nicht.«
»Es interessiert mich nicht besonders, was in Mr. Wendels Büro passiert«, stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
Thomas Armstrong hob den Kopf und schaute sie an. »Da haben Sie recht. Im Moment sollten Sie sich nur für eines interessieren, nämlich für meinen Kaffee. Mit zwei Stückchen Zucker und einem kleinen Spritzer Sahne. Damit wir uns nicht falsch verstehen, Amelia … Das ist keine Bitte.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Wirrwarr auf dem Schreibtisch zu, sodass ihr nichts anderes übrigblieb, als seinem Wunsch nachzukommen.
Amelia verfluchte ihn lautlos. Verdammt noch mal, was sollte sie anderes tun, als ihm zu gehorchen? Sämtliche Vorteile waren auf seiner Seite. Es war sein Anwesen, seine Familie – alles gehörte ihm. Und sie war nichts als ein Dienstbote, der als Gast deklariert wurde. Und das alles nur, weil sie sich das Recht herausnahm, einen eigenen Willen und ein eigenes Leben zu beanspruchen.
Obwohl es sie große Mühe kostete, nicht in seine Richtung zu schauen, spürte sie seinen Blick in ihrem Rücken, als sie das Zimmer verließ. Jede Faser in ihr weigerte sich gegen diese Demütigung und die Verletzung ihres Stolzes.
In der Halle entdeckte Amelia den Butler, einen mürrischen, beleibten Mann mit ergrautem Haar, der ihre Frage nach Kaffee mit einem tonlosen »Ja, Ma’am« beantwortete und einen Lakaien in die Küche schickte. Die Verwirrung fing erst an, als sie darauf beharrte, das Tablett selbst ins Arbeitszimmer zu tragen. Die beiden Bediensteten nickten und wechselten irritierte Blicke, aber schließlich signalisierte der Butler sein Einverständnis, und der Lakai händigte ihr das Tablett aus.
Als sie wieder eintrat, herrschte immer noch Schweigen. Lord Armstrong hatte seine Tätigkeit unterbrochen und beobachtete mit verschlossener Miene, wie sie näher kam. Falls sie wirklich so ungebärdig war, wie man ihr nachsagte, dann würde der Kaffee bald auf seinem Jackett landen.
Was dann geschah, war wie die Generalprobe einer Posse im Theater Ihrer Majestät. In dem Versuch, zwischen all dem Wirrwarr aus Papieren, Büchern und verschiedenen Schreibutensilien ein freies Eckchen zu finden, neigte Amelia das Tablett zu sehr zur Seite, sodass die Tasse schwankte wie ein betrunkener Matrose im Sturm. Und trotz ihrer verzweifelten Versuche konnte sie nicht verhindern, was unweigerlich als Nächstes geschah: Heißer Kaffee, zubereitet nach den Wünschen des Viscount, ergoss sich über seinen Schoß.
Mit einem Aufschrei und unter deftigen Flüchen sprang Mylord auf und stieß dabei seinen Stuhl um, der krachend auf dem Parkett landete. Die leere Tasse folgte, blieb aber heil, weil sie auf den weichen Teppich fiel
»Ich … es tut mir außerordentlich leid«, stammelte Amelia diesmal echt betroffen. Sie starrte ihn an und seine nasse, mit Kaffeeflecken übersäte Hose …
»Du freche Göre, das hast du absichtlich getan«, stieß er hervor, riss eine der unzähligen Schreibtischschubladen auf und holte ein weißes Taschentuch hervor.
»Ich schwöre, ich wollte nicht …« Amelia brach abrupt ab, als sie begriff, wie er sie gerade genannt hatte. Stocksteif schob sie die Schultern zurück.
Göre?
Dabei war sie drauf und dran gewesen, sich aufrichtig zu entschuldigen. »Nun, wenn Sie sich deshalb wie ein Berserker benehmen wollen, sollte ich meine Entschuldigung vielleicht besser zurückziehen.«
»Mylord«, rief jemand atemlos hinter ihr.
Amelia drehte sich um und entdeckte den jungen Lakaien, der das Tablett für sie besorgt hatte.
»Ich habe gehört …« Er brach ab und schaute verwirrt auf das Bild, das sich ihm bot.
»Ich werde sofort jemanden aus der Küche schicken«, versprach er, bevor er verschwand.
»Wenn auf dem Schreibtisch nicht solches Durcheinander herrschen würde, wäre das nie passiert. Wo hätte ich es denn hinstellen sollen?« Amelia schaute demonstrativ auf das Tablett in ihren Händen.
Armstrong gab ein unwilliges Knurren von sich. »Warum haben Sie die verdammte Tasse nicht heruntergenommen? Das und nichts anderes hätten Sie tun sollen.« Nach einem letzten Tupfen auf seinem Oberschenkel warf er das einst weiße Taschentuch zu Boden und stieß einen unverständlichen Fluch aus.
»Mylord, Sie befinden sich in Gegenwart einer Lady, ob Sie die Tatsache nun anerkennen wollen oder nicht. Ich möchte Sie bitten, Ihre Zunge zu hüten«, hielt sie ihm frostig vor.
Er riss den Kopf hoch. Plötzlich glühten seine grünen Augen wie bei einem Raubtier. »Ich? Ich soll meine Zunge hüten?«, fragte er gefährlich leise.
Er umrundete den Schreibtisch, kam bedrohlich auf sie zu, und mit jedem Schritt, den er sich näherte, wich Amelia unwillkürlich einen Schritt zurück. Das Tablett hielt sie so vor sich, als würde das Silber ausreichen, um sich vor ihm zu schützen.
Ein merkwürdiger Tanz vollzog sich: Schweigend und lauernd bewegten sie sich, sie rückwärts, während er ihr mit langsamen Schritten folgte, bis sie im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zur Wand stand.
»Mylord.« Die Stimme des Lakaien, der mit einem zierlichen Mädchen zurückkehrte, das in der einen Hand einen Eimer, in der anderen einen Lappen trug. »Anna wird sauber machen.«
Armstrong war stehen geblieben, und Amelia nutzte die Gelegenheit, um das Tablett auf den Tisch zu stellen und so weit auf Abstand zu ihm zu gehen, dass seine verstörende Gegenwart sie nicht mehr aus der Bahn warf.
»Nein«, stieß er hervor, eilte zu dem Mädchen und nahm ihm Eimer und Lappen ab. »Sie dürfen sich entfernen. Ich komme schon zurecht.« Anna knickste und stapfte aus dem Zimmer.
»Wie Sie wünschen, Sir.« Der Lakai verbeugte sich, bevor er sich dem hastigen Abgang des Dienstmädchens anschloss.
Das leise Klicken der Tür signalisierte, dass Thomas und Amelia wieder alleine waren. Aber erst als er ihr die Hand mit dem Lappen entgegenstreckte, begriff sie, was er im Schilde führte.
Amelia war wie betäubt und schüttelte nur stumm den Kopf. Nein, ausgeschlossen. Das konnte er nicht ernst meinen.
Er hingegen nickte langsam und nachdrücklich. »O doch, das werden Sie tun. Und sobald Sie jedes einzelne Tröpfchen Kaffee aufgewischt haben, dürfen Sie gerne noch den gesamten Boden reinigen, wenn Ihnen der Sinn danach steht.«
Es war nicht spaßhaft gemeint, ganz und gar nicht, und deshalb auch nicht zum Lachen. Amelia hätte heulen können.
Sie hob die Hand, drehte den Handrücken nach außen und spreizte die Finger, damit er ihre makellosen, perfekt manikürten Nägel sehen konnte. Dann deutete sie auf ihr blasslila Kleid. »Wenn Sie tatsächlich erwarten, dass ich auf die Knie sinke, um niedere Dienstbotentätigkeiten zu verrichten, dann irren Sie sich gewaltig, Mylord.« Was konnte er schon ausrichten – sie mit Gewalt auf die Knie zwingen? So weit würde selbst er kaum gehen und sich auf dieses Niveau begeben.
Doch er tat es.
»Oh, ich erwarte es nicht nur, ich werde es in vollen Zügen genießen.« Er warf den Lumpen ins Wasser und kam mit geschmeidigen Bewegungen auf sie zu.
Amelia behauptete ihr Terrain, blieb wie angewurzelt stehen, denn wegzulaufen kam nicht infrage. Als er bis auf wenige Schritte heran war, brach es aus ihr heraus. »Wagen Sie es ja nicht, mich anzurühren! Lassen Sie Ihre Finger von mir, andernfalls werde ich solchen Krach schlagen, dass das ganze Haus denkt, Sie wollten mir an den Kragen.«
Thomas Armstrong hielt inne, die Miene undurchdringlich. Als wollte er die Ernsthaftigkeit ihrer Drohung prüfen, strich er federleicht und zärtlich über ihre Wange. Amelia wurde flau im Magen, genau wie damals, als sie den Halt im Sattel ihres Pferdes verloren hatte. Lebhaft erinnerte sie sich an das schreckliche Gefühl, durch die Luft zu fliegen und schließlich auf dem Boden aufzuschlagen. Nur schien sie sich jetzt im unbegrenzt freien Fall zu befinden.
Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an, unfähig sich zu bewegen, unfähig zu protestieren.
Schon spürte sie seinen Atem, warm und mit einem Hauch von Limonen. Er berührte sie. »So, jetzt sind meine Finger auf Ihnen, aber ich kann keine Schreie hören«, flüsterte er.
Es dauerte einen Moment, bis seine Worte zu ihr durchdrangen, denn schon wieder nahm sie nichts wahr außer seiner überwältigenden Gegenwart und seiner verführerischen Stimme. Amelia machte einen hastigen, ein wenig stolpernden Schritt rückwärts, um der versengenden Berührung zu entkommen und sich wieder zu fangen.
Die gesamte Situation war einfach nur lächerlich. Besser gesagt: Wenn sie eines Tages darauf zurückblickte, würde sie es vielleicht so sehen können.
»Das liegt wohl daran, dass Sie nicht aufmerksam genug hinhören.« Absurde Bemerkungen verdienten absurde Antworten.
Was Armstrong lediglich bewog, einen weiteren Schritt näher zu treten. Amelia hingegen konnte nicht weiter zurück, denn hinter ihr befand sich der Schreibtisch.
Seine Augen verrieten ihr, dass er sie wieder küssen wollte. Und auch in ihr wuchs erneut ein drängendes Verlangen, das ihr Blut in Wallung brachte, bis es zwischen ihren Schenkeln dumpf zu pochen begann. Gebannt schaute sie zu, wie sein Mund sich ihrem näherte. Nicht nur dass er sie küssen würde – sie war bereit, ihm erneut alle möglichen Freiheiten zu gestatten. Wieder einmal.
Und dann war er fort, blitzartig. Nur schemenhaft nahm sie seine Bewegungen wahr. Und als sie endlich ihre wirren Sinne geordnet hatte, saß er scheinbar völlig gleichmütig an seinem Schreibtisch, als sei alles nur ein Traum gewesen.
Dann ein Klopfen. Jemand stand vor der Tür. Röte schoss ihr in die Wangen. Sie setzte sich rasch hin, legte die Hände flach auf den Schreibtisch und zwang sich einigermaßen zur Ruhe.
Lord Armstrong gab knapp die Erlaubnis einzutreten, wobei er erneut mit einem sauberen Taschentuch an seiner Hose herumrieb.
Die Tür flog auf, und fröhlich wie ein Vögelchen trat Sarah ein. Wenn es Amelias Natur entsprochen hätte, ihre Gefühle offen zu zeigen, dann wäre sie dem Mädchen bestimmt vor lauter Erleichterung um den Hals gefallen.
»Guten Morgen, Thomas. Ich habe mich gefragt, ob …« Sarah hielt inne, riss die Augen auf, als sie ihren Bruder erspähte, und ihre Lippen formten ein perfektes O. Dann kicherte sie los. »Was ist denn mit deiner Hose passiert?«
Der Viscount warf ihr einen dunklen Blick zu und beendete die nutzlose Wischerei. »Es freut mich, dass ich dich heute Morgen erheitern kann. Was ist los, kleine Göre?«
Wie anders das Wort klang, wenn er es bei seiner Schwester gebrauchte. Voll warmherziger, liebevoller Zuneigung, während es auf sie gemünzt wie eine Beschimpfung klang.
»Ich … Also, ich bin hergekommen, weil ich wissen möchte, ob ich Amelia heute wieder helfen kann.«
Am liebstes hätte Amelia laut aufgestöhnt. Dieses ahnungslose, arglose Mädchen! Jetzt würden wahrscheinlich Blitz und Donner vom Himmel auf sie hinabfahren und sie auf der Stelle treffen. Heute schien nicht gerade ihr Glückstag zu sein.
»Wieder helfen? Was soll das heißen?«, fragte Thomas seine Schwester mit täuschend freundlicher Stimme, schaute aber Amelia an, die verlegen dreinschaute.
Sarah ließ den Blick ein paarmal zwischen ihnen hin und her wandern, bevor sie antwortete. »Ich … äh … ich habe Amelia bei …« Sie verstummte, als sie an den Augen ihres Bruders erkannte, dass sich ein Sturm zusammenbraute.
»Habe ich irgendwas falsch gemacht?«, fragte Sarah nach kurzem, angespanntem Schweigen.
»Nein, du hast nichts falsch gemacht. Wenn überhaupt jemand …«, fing Amelia an.
»Amelia braucht deine Unterstützung nicht mehr«, warf der Viscount besänftigend ein.
Sarah schaute sie fragend an, als erwarte sie, dass Amelia widersprach.
»Ja, Sarah, so ist es. Ich werde dich nicht mehr um Hilfe bitten.«
Das Mädchen seufzte dramatisch. »Gut. Dann muss ich mir eben eine andere Beschäftigung suchen, denn Miss Jasper liegt mit einer Erkältung im Bett.« Sie wandte sich wieder an ihren Bruder. »Oh, und Mama hofft, dass du heute nicht vorhast, Lady Amelia den ganzen Tag über in dein Arbeitszimmer zu sperren. Das lässt sie dir ausrichten.«
Amelia hätte am liebsten gelacht. Wenn die Viscountess doch nur die ganze Wahrheit kennen würde! Thomas Armstrong flüsterte seiner Schwester etwas zu, was Amelia nicht verstand, und dann verabschiedete Sarah sich.
Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, kam er gleich an ihren Tisch, baute sich drohend vor ihr auf. »Falls Sie es noch ein einziges Mal wagen, meine Schwester für Ihre Arbeit einzuspannen, werde ich Ihnen so heftig den Hintern versohlen, dass Sie tagelang nicht in der Lage sind, sich hinzusetzen. Und jetzt haben Sie die Wahl: Entweder wischen Sie den Boden auf, oder Sie helfen in der Waschküche. Wofür entscheiden Sie sich?«
Als Amelia schwieg, fuhr er fort, sie zu provozieren. »Was, sind das nicht die beiden Möglichkeiten, mit denen Sie gerechnet haben? Dachten Sie etwa, dass ich Sie wieder küssen will?« Er erforschte ihre Miene, und was auch immer er dort entdeckt haben mochte, veranlasste ihn zu dem Ausruf: »Du liebe Güte, darum geht es also? Sie wollen noch einmal geküsst werden? Nun, dann müssen Sie allerdings noch daran arbeiten, wie Sie sich mir nähern wollen. Es gibt viel einfachere Wege, auf denen Sie ans Ziel gelangen können, als einen Mann mit Kaffee zu überschütten. Wie auch immer, da Sie all diesen Ärger nun einmal auf sich genommen haben, obliegt mir die Pflicht, Ihnen zu gehorchen.«
Sein Sarkasmus war so unerträglich für Amelia, dass sie aufsprang und mit rauschenden Röcken zu seinem Schreibtisch eilte. Mit aller Würde, die sie unter den gegebenen Umständen noch an den Tag legen konnte, schnappte sie sich den Lappen aus dem Seifenwasser im Eimer und beugte sich nach unten.
Kaum hatten ihre Knie den Boden berührt, als sie auch schon hochgerissen wurde und in seinen Armen landete. Erschrocken ließ sie den nassen Lappen fallen.
»Was …« Sie stöhnte auf und umklammerte seine Schultern, um nicht den Halt zu verlieren.
»Verdammt noch mal, du treibst mich wirklich zur Verzweiflung. Du bist wirklich das widerspenstigste und eigensinnigste weibliche Wesen, das mir jemals …« Er bedeckte ihren Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss. Amelia widerstand nur wenige Sekunden, dann gab sie nach und überließ ihm ihren Mund, öffnete ihre Lippen. Sie fühlte sich hilflos, überhaupt nicht mehr sie selbst, schien zu schweben, davongetragen von einer Woge der Lust, die sie in ungeahnte Höhen entführte. Höher und höher, mit jedem Stoß seiner Zunge … Dann waren seine Hände an ihrem Po, drückten sie immer enger an sich, bis sie unverkennbar seine Erregung spürte, die sich durch die vielen Stofflagen von Kleid und Unterröcken hart gegen ihren Bauch presste. Amelia mühte sich, noch näher zu kommen.
Er ließ von ihren Lippen ab, was einen Seufzer des Protests nach sich zog. Sein Mund strich über ihre Wange und dann über ihr Kinn, bedeckte jede Stelle mit kleinen Küssen. Wohlig stöhnend warf sie den Kopf zurück, wobei ihre Frisur sich löste, und gleichzeitig griff sie in sein Haar, zog ihn enger zu sich heran.
Niemals hätte sie geahnt, dass die Stelle hinter ihren Ohren so empfindlich war, bis seine Lippen sie dort berührten und er seinen Atem zärtlich über ihre Haut hauchte. Amelia sog die Beweise seiner Lust förmlich in sich ein, genau wie seinen Geruch und seine Hitze, denn auch sein Körper stand zweifellos in Flammen.
Dann roch sie den Kaffee und fiel wie am Tag zuvor mit einem Mal in die Wirklichkeit zurück. Ihr Körper versteifte sich, und entschlossen schob sie ihn von sich weg. Er seufzte resigniert und verärgert und nahm seine Hände von ihr.
Grundgütiger, was tust du da, fragte sie sich entsetzt. Was war nur los mit ihr? Früher hatte sie ihn für verrückt gehalten, doch in Wahrheit war sie keinen Deut besser.
Einen Moment lang sprach keiner von beiden. Nur ihr keuchender Atem durchbrach die Stille. Thomas’ Gesicht zeigte wieder die undurchdringliche Maske, die nichts erkennen ließ.
»Ich muss mich umziehen.« Sein Blick glitt über ihre Röcke. »Sie sich auch.« Rasch verließ er das Zimmer.
Amelia schaute an sich hinunter auf ihren Seidenrock, auf dem gut sichtbar ein großer Kaffeefleck prangte.