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Wir fanden das Auto, einen alten Geländewagen, hinter einer Scheune in der Nachbarschaft versteckt. Die Tür stand offen. Die Zündung war mit einem Stück Metall kurzgeschlossen worden. Simon sah sich die Sache an, um herauszufinden, ob er den Motor anwerfen konnte, als drei Gestalten aus dem Wald gestürzt kamen – Derek, Andrew und Tori.

Simon und ich rissen die vorderen Türen auf und stiegen hinten ein. Derek nahm den Beifahrersitz, Tori schob sich neben mich auf die Rückbank.

»Das war ja eine schnelle Rettungsaktion«, sagte Simon, als Andrew den Motor anließ.

»War keine Rettung nötig«, bemerkte Tori. »Ich kann selbst auf mich aufpassen.«

Derek murmelte etwas davon, dass er sich das fürs nächste Mal merken würde, bevor er sein Leben aufs Spiel setzte, um ihr zu helfen.

Während sich der Wagen in Bewegung setzte, fragte ich Tori, was eigentlich passiert war. Sie war gefangen worden, und man hatte sie zunächst mit zwei Bewachern zurückgelassen, während die anderen nach uns gesucht hatten. Als die Lage dann immer unübersichtlicher geworden war, hatten sie nur noch einen Aufpasser bei ihr gelassen.

»… Und einen praktischen kleinen Bindezauber später hatten sie dann ihre letzte Geisel verloren.«

»Man sollte doch meinen, die hätten mit deinen Formeln rechnen müssen«, bemerkte Derek.

»Na ja, anscheinend haben sie mich unterschätzt«, sagte sie.

Derek grunzte. Simon wollte irgendwas fragen, aber Andrew bedeutete uns, ruhig zu sein, während er das Auto über eine unebene Wiese lenkte. Er ließ die Scheinwerfer aus und fuhr langsam.

Simon setzte sich neben mir zurecht und versuchte, es sich auf dem Rücksitz etwas bequemer zu machen. Seine Hand streifte mein Bein, fand meine Finger und griff nach ihnen. Als er mir zulächelte, lächelte ich zurück.

Ich erwartete, dass es auf den üblichen ermutigenden Druck hinauslaufen und er dann wieder loslassen würde, aber er schien mein Lächeln als eine Art Einladung aufzufassen, flocht die Finger in meine und ließ sie auf meinem Oberschenkel liegen. So müde ich auch war – den Kopf voller Fragen, während mir das Adrenalin noch durch die Adern strömte –, ich spürte, wie ein kleiner Stromstoß durch mich hindurchschoss. Albern, nehme ich an. Ein Riesending draus machen, dass wir Händchen hielten? Wie eine Fünftklässlerin.

Ich war mir sicher, dass es für Simon wirklich keine große Sache war. Er war zwar nicht gerade der erste Typ, der meine Hand hielt, aber … sagen wir einfach, meine Erfahrungen mit Jungen gingen nicht weiter als bis zu diesem Punkt.

Die Stromstöße ebbten langsam ab, als wir die Straße erreichten und Andrew die Scheinwerfer einschaltete. Er erkundigte sich, ob mit uns alles in Ordnung war, und die erste Frage, die aus meinem Mund kam, lautete: »War meine Tante Lauren bei Ihnen?«

Sein Blick traf im Rückspiegel auf meinen, und ich sah ihn die Stirn runzeln.

»Lauren Fellows. Sie arbeitet bei …«

»Ich kenne deine Tante, Chloe, aber nein, sie war nicht hier.«

»Chloe hat gedacht, sie hätte sie gesehen«, erklärte Derek.

Simon drehte sich um, um mir ins Gesicht sehen zu können. »Was?«

»Ich – ich hab jemanden gesehen. Es hat sich nach ihr angehört und hat ein bisschen wie sie ausgesehen, nach dem, was ich im Dunkeln habe sehen können …«

»Hast du sie gesehen?«, wollte Simon von Derek wissen.

»Er nicht«, sagte ich. »Und er hätte sie sehen sollen, weil sie nämlich direkt an ihm vorbeigerannt ist.«

»Dann hast du einen Geist gesehen«, schlussfolgerte Tori. »Und gedacht, es wäre deine Tante.«

»Eine Formel, sehr viel wahrscheinlicher«, sagte Derek. »Die haben solches Zeug, stimmt’s, Andrew?«

»Klar. Blendwerkformeln und andere Illusionen. Wenn du sie nicht genauer gesehen hast, dann war das wahrscheinlich beabsichtigt – derjenige, der die Formel gesprochen hat, wollte nicht, dass du dir die Illusion zu genau ansiehst.«

Es klang vollkommen logisch, aber ich konnte das instinktive Gefühl nicht abschütteln, dass ich sie eben doch gesehen hatte. Nicht Tante Lauren, sondern ihren Geist.

Simon beugte sich zu mir herüber und flüsterte mir tröstliche Dinge zu – sie würden Tante Lauren nicht umbringen, sie war einfach zu wertvoll.

»Was macht dein Arm?«, fragte Derek, als ich zu lange nichts gesagt hatte, weil ich mit meinen eigenen Befürchtungen beschäftigt war.

»Hast du die Naht aufgerissen?«, fragte Simon.

»Nein«, erklärte Derek, »eine Kugel hat sie gestreift.«

»Eine Kugel?«

Andrew fuhr an den Straßenrand und trat auf die Bremse. »Die haben dich angeschossen?«

»Nein, nein. Es ist bloß ein Kratzer.«

Andrew zögerte, aber ich versicherte ihm – und Simon –, dass mir nichts fehlte, und Derek bestätigte, dass die Kugel nur durch den Ärmel gegangen war und kaum die Haut gestreift hatte.

Andrew fuhr wieder auf die Straße. »Wir säubern die Wunde beim nächsten Halt. Ich glaub’s einfach nicht, dass die …« Er schüttelte den Kopf.

»Hey, ich hab mir die Handfläche zerkratzt«, sagte Tori. »Die Haut ist ziemlich runter.«

»Chloes genähten Arm sollten wir uns auch ansehen«, sagte Derek. »Sie hat sich vor ein paar Tagen an einem kaputten Fenster geschnitten, sie haben es versorgt, aber wir sollten einen Blick drauf werfen.«

Tori schwenkte die verletzte Hand. »Hallo? Irgendwer da? Hallo?« Sie verdrehte die Augen. »Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Oh, das sieht wirklich ziemlich heftig aus«, sagte ich zu Tori. »Wir sollten auf jeden Fall Jod drauftun.«

Sie schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Auf dich ist doch immer Verlass, stimmt’s? Ich nehme mal an, ich weiß, wer die Kavallerie geschickt hat, um mich zu retten.«

»Dabei brauchst du ja gar nicht gerettet zu werden, oder?«, stichelte Simon.

»Es ist der Gedanke, der zählt.«

»Wir hätten dich nicht dort zurückgelassen, Victoria.« Andrew sah sich nach ihr um. »Tori, richtig?«

Sie nickte.

Er lächelte ihr zu. »Es ist gut, dich und Simon zusammen zu sehen.«

»Oha. Nein«, sagte Simon. »Wir sind nicht zusammen.«

Tori bestätigte dies mit ebenso viel Nachdruck.

»Nein, ich meine damit nur …« Im Spiegel sah ich, wie Andrews Blick zwischen Simon und Tori hin und her ging. »Ich, äh, ich meine, euch alle vier. Ich bin froh, euch zusammen zu sehen. Das ist etwas, bei dem Kit und ich uns einig waren – dass die Gruppe einen Fehler gemacht hat, als sie beschloss, ihre Versuchspersonen getrennt zu halten.«

»Sie haben also auch für sie gearbeitet?«, fragte ich. »Für die Edison Group?«

Simon nickte. »Er ist kurz vor unserem Dad ausgestiegen.« Er sah Andrew an. »Deswegen haben die auch gewusst, wo sie dich finden, stimmt’s? Als wir abgehauen sind, haben sie sich gedacht, dass wir herkommen würden, also haben sie versucht, dich als Köder einzusetzen.«

»Das scheint jedenfalls der Plan gewesen zu sein. Und davon abgesehen war es eine gute Entschuldigung, mich auffliegen zu lassen – das scheinen sie seit Jahren vorgehabt zu haben.«

»Wieso das?«, fragte Tori.

»Wir reden später drüber. Als Erstes sollten wir etwas Essbares auftreiben, und dann könnt ihr mir erzählen, was eigentlich los ist.«

Das einzige offene Lokal, das wir fanden, war ein Drive-in-Schnellrestaurant in der nächsten Kleinstadt. Ich hatte keinen Hunger, aber Simon bestand darauf, mir wenigstens einen Milchshake zu besorgen. Ich nippte daran, während er Andrew erzählte, was passiert war – Lyle House, unsere Flucht, das Labor, das Experiment, der Tod von Liz und Brady und Amber …

»Rachelle ist noch dort«, sagte er, als er zum Ende kam. »Und Chloes Tante auch. Sie ist inzwischen natürlich eine Geisel, genau wie du es warst.«

»Wenn sie nicht …«, begann Tori.

Simons wütender Blick brachte sie zum Schweigen. »Ihr geht es gut. Aber wir müssen sie und unseren Dad da rausholen. Chloes Tante hat zwar nicht geglaubt, dass sie ihn erwischt haben, aber es muss so sein.«

»Ich muss mich dir da anschließen«, sagte Andrew. »Bei meinen eigenen Recherchen habe ich auch keinen Hinweis auf irgendeine andere Erklärung gefunden.«

Derek warf ihm einen scharfen Blick zu. »Du hast nach ihm gesucht?«

»Nach euch allen.«

Wir fuhren fast eine Stunde lang und kamen, während wir uns immer weiter von New York City entfernten, nur durch eine einzige Stadt. Irgendwann bog Andrew in eine private Zufahrt ab, die sich als noch länger und gewundener herausstellte als seine eigene.

»Wo sind wir hier? Eine geheime Unterkunft für Paranormale?« Simon stieß mich an. »Klingt wie aus einem Film, oder?«

»Na ja, es ist auf jeden Fall schon so genutzt worden, von Paranormalen, die auf der Flucht vor den Kabalen waren«, sagte Andrew.

»Kabalen?«, fragte Tori.

»Ein anderes Problem. Aber das Haus hier ist eigentlich eher eine Art Stütz- und Treffpunkt für die Mitglieder unserer Gruppe. Es hat einem der Gründungsmitglieder gehört – sein Familiensitz, den er uns vermacht hat, damit wir unsere Sache weiterbetreiben können.«

»Welche Sache?«, erkundigte sich Tori.

»Die Edison Group zu beobachten und irgendwann zu zerstören.« Andrew fuhr langsamer, als der Weg holprig wurde. »Jedenfalls war das unser ursprüngliches Ziel. Angefangen hat es mit einer Gruppe ehemaliger Mitglieder der Edison Group – Deserteuren wie mir, die sich wegen der Aktivitäten der Gruppe Sorgen gemacht haben. Nicht nur wegen dem Projekt Genesis Zwei. Das war zwar eins unserer Hauptanliegen, aber die Edison Group treibt Dinge, die weit darüber hinausgehen. Später haben sich uns andere Leute angeschlossen, die nicht nur Probleme mit den Aktivitäten der Edison Group hatten, sondern auch mit den Kabalen und anderen paranormalen Organisationen. Aber die Edison Group ist nach wie vor unser Hauptanliegen – ihre Arbeit zu beobachten, kleine Sabotageakte durchzuführen …«

»Sabotage?«, fragte Simon. »Cool.«

»Kleine Sabotageakte. Wir haben uns weitgehend aufs Beobachten beschränkt, zum wachsenden Ärger einiger von uns, mich selbst eingeschlossen.«

»Hatte Dad irgendwas damit zu tun?«

Andrew schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, ihr wisst, dass euer Dad und ich ein … eine …«

»Ein Zerwürfnis hattet.«

»Ja. Und es ist dabei um die Gruppe gegangen. Euer Dad hat sich da immer rausgehalten. Ihm war das alles zu politisch. Er war gewillt, uns zu helfen, aber ansonsten hat er sich nicht beteiligt. Er hat gedacht, es würde nur unnötig Aufmerksamkeit auf euch Jungs ziehen. Aber die anderen haben mich bedrängt, ich sollte ihn mit an Bord holen. Er war der Vater von zwei Versuchspersonen aus dem ambitioniertesten – und potenziell gefährlichsten – Projekt, das die Edison Group je unternommen hatte. Er wäre damit genau die richtige Person gewesen, um mächtige neue Mitglieder aus der paranormalen Gemeinschaft zu rekrutieren. Er war fuchsteufelswild. Die ganze Mühe, die er sich gegeben hatte, um euch aus dem Rampenlicht rauszuhalten, und jetzt wollte ich das. Ich gebe zu, ich war durchaus für die Idee. Aber ich habe die Gefahr unterschätzt, die die Edison Group für euch darstellte. Ist mir inzwischen auch klar.«

Er nahm die nächste Biegung und wurde noch langsamer, als die Rillen auf dem Weg tiefer wurden. »Nachdem euer Dad mit euch beiden verschwunden war und wir Gerüchte gehört hatten, dass die Edison Group euch Jungs erwischt hatte, haben sich ein paar von uns für ein etwas aktiveres Vorgehen eingesetzt. Wir waren davon überzeugt, dass ihr – und die anderen Versuchspersonen – in Gefahr wart. Andere Leute, die mehr Einfluss hatten, waren der Ansicht, die Gruppe würde euch nichts tun.«

»Na, da haben sie sich wohl gründlich geirrt«, bemerkte Tori trocken.

»Ja, und mit eurer Geschichte haben wir jetzt den Beweis, den wir brauchen, um aktiv zu werden.«

Noch eine letzte Biegung, und das Haus kam in Sicht. Sekundenlang konnten wir nur ungläubig starren. Es sah aus wie etwas aus einem alten Schauerroman – ein riesiges, verschachteltes Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, zweistöckig und von dichtem Wald umgeben. Wenn es irgendwo da oben, in der Dunkelheit verborgen, Wasserspeier gegeben hätte, wäre ich nicht weiter überrascht gewesen.

»Cool«, sagte Simon. »Genau so sollten Paranormale leben.«

Andrew lachte leise. »Die nächsten paar Tage werdet jedenfalls ihr hier leben. Ihr könnt es euch bequem machen und euch ausruhen, während wir Pläne schmieden.« Nachdem er das Auto geparkt hatte, drehte er sich zu uns nach hinten. »Aber macht es euch nicht zu bequem. Ich werde die Gruppe auffordern, eine Befreiungsaktion im Hauptquartier der Edison Group durchzuführen. Und da es lang her ist, seitdem einer von uns dort war, werden wir dabei eure Hilfe brauchen.«