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Ich gab Derek meine Jacke, und er zog sie ohne Widerspruch an – sie verdeckte die Blutspritzer auf seinem Sweatshirt. Als wir aus der Toilette traten, nahmen uns die Leute am Tresen schließlich doch noch zur Kenntnis, aber nur, um uns zuzurufen, dass die Toiletten für zahlende Gäste da waren.

Der Laden hatte zum Winterende Thermoskannen mit dem aufgedruckten Schriftzug der Kette im Sonderangebot, und Derek ließ sich eine davon mit heißer Schokolade füllen und bekam zwei Pappbecher dazu. Noch ein halbes Dutzend Donuts, und für das Abendessen war gesorgt.

Aber wir konnten nicht einfach zur Bushaltestelle zurückspazieren. Liam dürfte immer noch auf der Suche nach uns sein, Ramon war es inzwischen vielleicht auch. Wenn sie uns schon früher gefolgt waren, dann mussten sie wissen, dass wir bei der Bushaltestelle gewesen waren, und würden vielleicht dort auf uns warten.

Also hielten wir uns windabwärts oder hinter Gebäuden und warteten einen halben Straßenblock entfernt, bis wir den Bus kommen sahen. Von den Werwölfen war nichts zu sehen. Sicherlich war es hilfreich, dass es nur eine Haltestelle und kein Busbahnhof war, denn wenn sie unsere Fährte zu dem Blumenladen verfolgt hatten, waren sie vielleicht gar nicht auf die Idee gekommen, dass wir dort gewesen waren, um Fahrkarten zu kaufen.

Trotzdem entspannte ich mich erst, als der Bus schließlich anfuhr. Ich war beim zweiten Becher Schokolade, als mir die Augen zufielen.

»Du solltest ein bisschen schlafen«, sagte Derek.

Ich verschluckte ein Gähnen. »So lang fahren wir gar nicht, oder? Anderthalb Stunden?«

»Fast das Doppelte. Wir sitzen im Lumpensammler.«

»Im was?«

»Der Spätbus, der sämtliche kleinen Orte abklappert«, erklärte er und nahm mir den leeren Becher aus der Hand.

Ich rutschte herum und versuchte, es mir bequemer zu machen, während Derek das Sweatshirt zusammenknüllte, das ich ausgezogen hatte, und es sich über die Schulter legte.

»Nur zu«, sagte er, »ich beiße nicht.«

»Nach allem, was ich gehört habe – was für ein Glück.«

Er gab ein grollendes Lachen von sich. »Ja, ist es auch.«

Ich lehnte mich an seine Schulter.

»In ein paar Stunden liegst du in einem Bett«, sagte er. »Ich wette, das sind mal gute Nachrichten, was?«

Hatte etwas so Einfaches jemals so unglaublich gut geklungen? Aber als ich darüber nachdachte, spürte ich, wie mein Lächeln verblasste, und hob den Kopf.

»Und was, wenn …«

»Andrew nicht zu Hause ist? Oder die anderen gar nicht aufgenommen hat? Dann treiben wir Simon auf und leisten uns ein billiges Motel. Heute Nacht besorgen wir uns ein Bett. Versprochen.«

»Und ein Bad.«

Wieder ein leises Lachen. »Yeah, und ein Bad.«

»Gott sei Dank.« Ich legte den Kopf wieder auf das Sweatshirtkissen. »Und worauf freust du dich?«

»Essen.«

Ich lachte. »Kann ich mir gut vorstellen. Warmes Essen. Das ist es, was ich will.«

»Und eine Dusche. Ich sehne mich so danach zu duschen.«

»Na, um die erste Dusche wirst du aber kämpfen müssen. Wenn der Typ die Tönung noch riechen konnte, dann hab ich sie nicht gut genug rausgewaschen. Was wahrscheinlich auch erklärt, warum es sich jetzt so eklig anfühlt.«

»Das mit den Haaren. Die Farbe. Ich hab nicht mit Absicht …«

»Ich weiß. Du hast einfach was genommen, das dafür sorgen würde, dass ich anders aussehe. Was es auch getan hat.«

»Ja, aber es sieht künstlich aus. Sogar diese Typen haben das gemerkt. Wasch’s raus, und wir besorgen dir was von diesem roten Zeug, das du magst.«

Ich schloss die Augen. Als ich einzuschlafen begann, hörte ich Derek summen, so leise, dass ich es kaum mitbekam. Ich hob den Kopf.

»Tut mir leid«, sagte er. »Mir geht diese blöde Melodie im Kopf rum. Keine Ahnung, was es ist.«

Ich sang ein paar Takte von »Daydream Believer«.

»Äh, stimmt«, sagte er. »Wie kommt es …«

»Meine Schuld. Meine Mutter hat mir das immer vorgesungen, wenn ich nicht schlafen konnte, also hab ich’s letzte Nacht gesungen. Das sind die Monkees – die erste Boygroup der Welt.« Ich warf einen Blick zu ihm hinauf. »Und das hat mich jetzt gerade den letzten Rest Coolness gekostet, den ich vielleicht noch hatte, was?«

»Na, wenigstens bist du nicht diejenige, die’s heute noch singt.«

Ich lächelte, legte den Kopf an seine Schulter und schlief zu seinem leisen tonlosen Gesumme ein.

 

Wir stiegen an einer der kleinen Haltestellen aus. Als Simon gesagt hatte, Andrew lebte außerhalb von New York City, hatte ich an das direkte Umland gedacht, an Hudson Valley oder Long Island, aber der Bus setzte uns in einer Kleinstadt ab, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Derek erklärte, wir seien etwa dreißig Meilen von New York und vielleicht eine Meile von Andrews Haus entfernt.

Vielleicht lag es daran, dass wir wussten, wie nah das Ziel war, jedenfalls schienen wir diese Meile in wenigen Minuten hinter uns zu legen. Wir redeten und lachten und alberten herum. Wenn mir vor einer Woche jemand erzählt hätte, dass Derek auch nur in der Lage war herumzualbern, dann hätte ich ihm nicht geglaubt. Aber jetzt war er entspannt und geradezu aufgekratzt, wahrscheinlich, weil die Reise fast zu Ende war.

Wir gingen eine schmale, von Bäumen gesäumte Straße entlang. Es war kein wirkliches Ackerland, eher eine ländliche Wohngegend mit Häusern, die weit von der Straße zurückgesetzt hinter Zäunen und Mauern und immergrünen Büschen standen. Ich spähte zu ihnen hin, und Derek hob den Arm.

»Siehst du die altmodischen Gaslaternen da in der Einfahrt? Sie sind sogar an, das ist ein gutes Zeichen.«

Wir bogen in die Einfahrt ein, die so gewunden und baumgesäumt war wie die Straße und allem Anschein nach auch genauso lang. Endlich bogen wir um eine Kurve und sahen das Haus vor uns. Es war ein hübsches Häuschen im Cottagestil, etwas, das man auch in einer alten Stadt in England hätte finden können – steinerne Mauern, Efeu und ein Garten, von dem ich sicher war, dass er in ein, zwei Monaten wunderschön sein würde. Im Augenblick war das Schönste aber das Licht, das hinter den Fenstern an der Vorderseite brannte.

»Sie sind hier«, rief ich erleichtert.

»Jemand ist hier«, korrigierte Derek.

Als ich weiterrennen wollte, packte er mich am Arm. Ich sah mich um und stellte fest, dass er das Haus mit geblähten Nasenflügeln musterte. Er legte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn.

»Was hörst du?«, fragte ich.

»Gar nichts.« Er drehte sich um und sah zu den dunklen Bäumen hinüber, die das Haus umgaben. »Es ist zu still.«

»Simon und Tori schlafen wahrscheinlich«, sagte ich, aber ich senkte die Stimme und sah mich um. Seine Nervosität war ansteckend.

Als wir den gepflasterten Gartenweg erreichten, ging Derek in die Hocke und senkte den Kopf, bis sein Gesicht nur noch dreißig Zentimeter vom Boden entfernt war. Ich hätte ihm gern gesagt, er sollte einfach an die Tür klopfen, dann würden wir ja erfahren, ob sie hier waren oder nicht, er sollte aufhören, so paranoid zu sein, aber ich hatte gelernt, dass etwas, das ich früher für paranoid gehalten hätte, in diesem neuen Leben einfach vernünftige Vorsicht war.

Einen Moment später nickte er, und seine verspannten Schultern schienen sich etwas zu lockern, als er aufstand.

»Simon ist hier?«, fragte ich.

»Und Tori.«

Er warf einen letzten langen Blick in die Runde, fast widerwillig, als wünschte er sich ebenso sehr wie ich, einfach zur Haustür hinaufzurennen. Dann gingen wir den Pfad entlang, die Steinplatten quietschten unter unseren nassen Gummisohlen.

Derek war immer noch so beschäftigt damit, die Bäume zu beobachten, dass ich es dieses Mal war, die ihn am Arm packen musste, um ihn zurückzuhalten. Ich zeigte auf das Haus vor uns.

Die Haustür war angelehnt.

Derek fluchte. Dann atmete er tief ein, als versuchte er, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Er gab mir ein Zeichen, hinter ihm zu bleiben, schien es sich dann aber anders zu überlegen und winkte mich neben der Haustür an die Mauer.

Als ich aus dem Weg war, stieß er die Tür vorsichtig ein paar Zentimeter weit auf. Dann noch etwas weiter. Ein dritter Stoß, und er fing einen Geruch auf, seine Nasenflügel blähten sich. Ich sah, dass er verwirrt die Augenbrauen zusammenzog.

Einen Moment später roch ich es ebenfalls. Ein kräftiger, bitterer Geruch, sehr vertraut … »Kaffee«, formte ich mit den Lippen. Er nickte. Das war es – verbrannter Kaffee.

Er stieß die Tür weiter auf. Ich drückte mich mit dem Rücken an die Mauer und kämpfte gegen das Bedürfnis an, selbst einen Blick ins Innere zu werfen. Stattdessen beobachtete ich, wie sein Blick durch den Raum glitt. Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass er nichts Ungewöhnliches sah. Trotzdem sollte ich bleiben, wo ich war, während er eintrat. Jetzt begann ich wirklich zu zappeln, trommelte mir auf die Oberschenkel, krümmte die Zehen in den Schuhen und hörte mein Herz hämmern. Ich wünschte mir, die Art Mädchen zu sein, die immer einen Taschenspiegel dabeihat – so hätte ich wie in diesen Agentenfilmen beobachten können, was um die Ecke passierte.

Als ich mich etwas zu dicht an die Türöffnung heranschob, meldete sich meine innere Stimme zu Wort und teilte mir mit, dass ich mich dumm aufführte. Der Typ mit den bionischen Sinnen war für das hier sehr viel besser ausgestattet als ich.

Endlich kam Derek rückwärts wieder heraus. Er deutete auf meine Tasche und imitierte mit der Hand das Öffnen eines Schnappmessers. Ich holte das Messer heraus. Mit einer Handbewegung verdeutlichte er mir, hinter ihm zu bleiben. Die Nachdrücklichkeit seiner Geste und sein finsterer Blick ließen mich nicht daran zweifeln, dass er es ernst meinte. Ich nickte.

Wir traten ein. Hinter der Haustür lag ein kleiner Flur mit einem Einbauschrank, von dem man ins Wohnzimmer gelangte. Ein paar Briefe lagen vor der Schranktür auf dem Boden verstreut. Ich nahm zunächst an, sie seien durch einen Briefschlitz geworfen worden, aber ein Blick auf die Tür sagte mir, dass es keinen gab. Dann fiel mir ein, dass ich am Ende der langen Zufahrt einen Briefkasten gesehen hatte. In einer Ecke des Flurs stand ein kleiner Tisch, auf dem Werbeprospekte lagen.

Derek schob sich weiter vorwärts, in den Wohnraum hinein. Ich beeilte mich, ihn einzuholen, bevor ich den berühmten »Trödel nicht«-Blick zu sehen bekam.

Das Zimmer war klein und gemütlich, genau wie man es in einem solchen Haus erwartet hätte. Auf den Sesseln und dem Sofa türmten sich nicht zusammenpassende Kissen. Über jeder Lehne hing eine sauber zusammengelegte Wolldecke. Die oberen Platten der diversen Tische waren leer, aber auf den Ablagen darunter türmten sich Zeitschriften, und die beiden Bücherregale brachen fast zusammen. Die eine helle Lampe, die wir bereits von draußen gesehen hatten, war das einzige elektrische Gerät weit und breit – kein Fernseher, kein Computer, keinerlei technisches Spielzeug. Ein altmodisches Wohnzimmer, dazu bestimmt, dass man ein Kaminfeuer anzündete und sich mit einem Buch davor zusammenrollte.

Derek ging auf eine Tür in der gegenüberliegenden Wand zu. Als ein Dielenbrett knarrte, blieb er abrupt stehen, und ich rannte fast gegen ihn. Er legte den Kopf schief. Das Haus war still. Unheimlich still. Selbst wenn jeder hier ins Bett gegangen war, so still hätte es nicht sein dürfen, nicht in Anbetracht der Tatsache, dass sowohl Simon als auch Tori schnarchten.

Wir betraten die Küche. Der Gestank nach verbranntem Kaffee drehte mir fast den Magen um. Ich sah die Kaffeemaschine auf der Anrichte stehen, das rote Lämpchen leuchtete, ein wenig brauner Schlamm stand noch in der Kanne, als hätte eine volle Kanne mindestens einen Tag lang vor sich hin geschmort. Derek ging hin und schaltete das Gerät aus.

Auf der Anrichte stand ein Teller. Auf dem Teller lag eine angebissene Scheibe Toast. Daneben stand ein offenes Marmeladenglas, das Messer steckte noch darin. Auf dem Tisch stand auf einer aufgeschlagenen Zeitung ein Becher mit Kaffee. Ich sah hinein, er war zu zwei Dritteln voll, die Kaffeesahne hatte sich in einer ölig weißen Schicht an der Oberfläche abgesetzt.

Derek winkte mich wieder hinter sich, und wir machten uns auf in den hinteren Teil des Hauses.