In einem guten Drama findet die Heldin niemals auf direktem Weg zum Ziel. Sie bricht auf, stößt auf ein Hindernis, muss einen Umweg machen, findet sich vor dem nächsten Hindernis wieder, muss einen noch längeren Umweg machen, dann noch ein Hindernis, noch ein Umweg … Erst wenn sie die nötige Charakterstärke entwickelt hat, um die angestrebte Belohnung zu verdienen, wird sie schließlich Erfolg haben.

Meine Geschichte passte jetzt schon in das altbewährte Muster. Genau das Richtige für die Schülerin einer Kunstschule, die den Schwerpunkt Film gewählt hat, nehme ich an. Oder besser gesagt einer ehemaligen Schülerin. Chloe Saunders, ein fünfzehnjähriger Möchtegern-Steven Spielberg. Alle meine Träume davon, Hollywood-Blockbuster zu schreiben und bei ihnen Regie zu führen, waren an dem Tag in Trümmer zerfallen, an dem ich meine Periode bekommen und die Sorte von Leben zu führen begonnen hatte, die ich zuvor immer auf die Leinwand hatte bringen wollen.

An diesem Tag hatte ich angefangen, Geister zu sehen.

Nachdem ich deswegen in der Schule in Panik ausgebrochen war, hatten die Männer in den weißen Kitteln mich weggebracht, und ich war in einem Heim für Teenager mit psychischen Problemen gelandet. Das eigentliche Problem war, dass ich wirklich Geister sah. Und ich war nicht die Einzige in Lyle House gewesen, die paranormale Kräfte besaß.

Simon konnte magische Formeln sprechen. Rae konnte Leuten mit ihren bloßen Fingern Verbrennungen zufügen. Derek hatte übermenschliche Kräfte und Sinnesorgane und würde nach allem, was ich mitbekommen hatte, bald in der Lage sein, sich in einen Wolf zu verwandeln. Tori … okay, ich wusste nicht, was Tori war, vielleicht war sie einfach eine ziemlich verkorkste Tussi, die in Lyle House untergebracht worden war, weil ihre Mom im Vorstand saß.

Simon, Derek, Rae und ich hatten irgendwann festgestellt, dass es kein Zufall war, dass wir alle zusammen in Lyle House eingesperrt waren, und waren geflohen. Rae und ich waren von den Jungs getrennt worden, und nachdem wir zu meiner Tante Lauren geflüchtet waren – dem Menschen, dem ich auf der ganzen Welt am meisten vertraut hatte –, war ich schließlich hier gelandet: einer Art Labor unter der Leitung derselben Leute, denen auch Lyle House gehörte. Und jetzt erwarteten die, dass ich ihnen Simon und Derek ausliefern würde.

Okay, es wurde offensichtlich Zeit, dass ich selbst ein paar Hindernisse ins Spiel brachte. Und so teilte ich Dr. Davidoff ganz im Sinne einer guterzählten Geschichte mit, wie er Simon und Derek finden konnte.

Erster Schritt: Das Ziel abstecken. »Rae und ich sollten uns eigentlich verstecken, während die Jungs Sie alle mit Simons Magie ablenken wollten«, erklärte ich. »Rae war schon vorausgerannt, sie hat das nicht mehr mitgekriegt, aber im letzten Moment hat Simon mich zurückgehalten und gesagt, wenn wir getrennt würden, sollten wir uns alle am Treffpunkt einfinden.«

Zweiter Schritt: Das Hindernis einführen. »Aber wo der ist, das ist das Problem, ich weiß es nämlich selbst nicht. Wir hatten drüber geredet, dass wir einen brauchen, aber es war alles so chaotisch an dem Tag. Wir hatten uns ja gerade erst drauf geeinigt, dass wir abhauen wollen, und dann hat Derek plötzlich gesagt, dass es gleich an diesem Abend sein muss. Die Jungs müssen sich einen Treffpunkt überlegt haben, glaube ich, aber wenn, dann hat Simon vergessen, dass sie mir den nie verraten haben.«

Dritter Schritt: Den Umweg skizzieren. »Aber ich habe ein paar Ideen – Orte, über die wir geredet haben. Einer davon dürfte der Treffpunkt sein. Ich könnte Ihnen helfen, ihn zu finden. Sie werden auf mich warten, also werden sie sich vielleicht versteckt halten, bis sie mich sehen.«

Statt aus diesem Laden hier zu fliehen, würde ich mich von ihnen mitnehmen und als Köder verwenden lassen. Ich würde ihnen Orte nennen, die in den Diskussionen mit Derek und Simon nie zur Sprache gekommen waren, und es würde keinerlei Gefahr bestehen, dass die beiden gefasst wurden. Ein brillanter Plan.

Und die Antwort?

»Wir werden darüber nachdenken, Chloe. Aber sag uns jetzt erst mal, an welche Orte du denkst? Wir haben Möglichkeiten, die Jungen auch ohne dich zu finden, wenn wir erst dort sind.«

Hindernisse. Ein unabdingbarer Teil einer guterzählten Geschichte. Aber im wirklichen Leben? Funktioniert’s nicht.

 

Nachdem Dr. Davidoff und Toris Mutter meine Liste erfundener möglicher Treffpunkte hatten, gingen sie, ohne mir im Gegenzug Antworten auf meine Fragen oder auch nur einen Hinweis darauf zu geben, warum ich hier war oder was als Nächstes mit mir passieren würde.

Ich saß im Schneidersitz auf dem Bett und starrte auf die Kette in meinen Händen, als wäre sie eine Kristallkugel, die mir alle Antworten liefern konnte. Meine Mom hatte sie mir geschenkt, damals, als ich als Kind Schreckgespenster gesehen hatte – Geister, wie ich inzwischen wusste. Sie hatte gesagt, der Anhänger würde sie fernhalten, und er hatte es getan. Ich war immer davon ausgegangen, dass mein Dad recht hatte und die Wirkung eher psychologischer Natur war – ich hatte daran geglaubt, also hatte es funktioniert. Inzwischen war ich mir nicht mehr so sicher.

Hatte meine Mom gewusst, dass ich eine Nekromantin war? Wenn das Nekromantenblut aus ihrer Familie stammte, musste sie es gewusst haben. Sollte der Anhänger wirkliche Geister fernhalten? Wenn das der Fall war, dann mussten seine Kräfte nachgelassen haben. Tatsächlich sah er sogar verblasst aus … Ich hätte schwören können, dass das leuchtende Rot des Edelsteins einen Purpurton angenommen hatte. Eins aber tat er nicht, nämlich meine Fragen beantworten. Das würde ich wohl selbst erledigen müssen.

Ich hängte mir die Kette wieder um den Hals. Was Dr. Davidoff und die anderen auch von mir wollten, es konnte nichts Gutes sein. Denn wenn man Leuten helfen will, sperrt man sie nicht als Erstes einfach mal ein.

Ich würde ihnen mit Sicherheit nicht sagen, wo sie Simon finden konnten. Wenn Simon Insulin brauchte, würde Derek es ihm besorgen, selbst wenn er zu diesem Zweck in eine Apotheke einbrechen musste.

Ich musste mich darauf konzentrieren, Rae und mich hier rauszubringen. Aber dies war nicht Lyle House, wo die einzige Barriere zwischen uns und der Freiheit eine Alarmanlage gewesen war. Das Zimmer hier mochte aussehen, als gehörte es in ein gemütliches Hotel – ein Doppelbett, Teppichboden, ein Sessel, ein Schreibtisch, ein eigenes Bad –, aber es gab kein Fenster, und die Tür hatte an der Innenseite keinen Knauf.

Ich hatte gehofft, Liz würde mir bei der Flucht helfen. In Lyle House hatten wir uns das Zimmer geteilt, aber Liz hatte es nicht lebend ins Freie geschafft. Als ich mich dann hier wiedergefunden hatte, hatte ich in der Hoffnung, sie würde mir einen Weg hier raus zeigen können, versucht, ihren Geist zu beschwören. Dabei hatte es nur ein klitzekleines Problem gegeben: Liz hatte noch nicht gewusst, dass sie tot war. Ich hatte versucht, es ihr so behutsam wie möglich beizubringen, aber sie war ausgerastet, hatte mich beschuldigt, sie anzulügen, und war verschwunden.

Vielleicht hatte sie inzwischen Zeit gehabt, sich zu beruhigen? Ich bezweifelte es, konnte aber nicht länger warten. Ich musste versuchen, sie erneut zu beschwören.