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41

Ich war mir sicher, dass ich in die Richtung ging, in die Derek mich geschickt hatte – alle Sicherheitsteams hätten also irgendwo hinter mir sein sollen. Aber es dauerte keine Minute, bis ich wieder das Trampeln von Stiefeln hörte. Ich ließ mich auf den Boden fallen, bedeckte das Funkgerät und drehte die Lautstärke bis ganz nach unten, obwohl das Ding, seitdem ich es an mich genommen hatte, keinen Ton von sich gegeben hatte.

Ich kroch ins nächste Gebüsch und blieb dort auf dem Bauch liegen. Die Schritte schienen sich parallel zu mir zu bewegen, sie kamen weder näher, noch entfernten sie sich.

»Erklär mir bitte mal, wie das gesamte Team es fertigbringt, auf acht Hektar Gelände vier Teenager zu verlieren«, sagte eine Männerstimme. »Davidoff wird begeistert sein.«

Ein zweiter Mann antwortete: »Mit etwas Glück wird er’s nie erfahren. Wir haben noch eine Stunde, bevor es hell ist. Reichlich Zeit, wie weit können sie schon sein?«

Sie gingen weiter, die Stimmen und Schritte verklangen. Als sie fort waren, begann ich, mich ins Freie zu schieben, hielt aber wieder inne. Wenn wir alle vier irgendwo hier draußen waren, sollte ich mich dann wirklich in Sicherheit bringen? Oder lieber versuchen, die anderen zu finden?

Äh … wenn du zu diesem sicheren Ort gehst, von dem Derek erwartet, dass du dort sein wirst, dann brauchst du die anderen nicht zu finden. Die werden nämlich selbst dorthin kommen.

Und was, wenn sie meine Hilfe brauchten?

Nur weil du versehentlich eine Frau bewusstlos geschlagen hast, hältst du dich schon für Rambo?

Es kam mir feige vor, mich in Sicherheit zu bringen, aber so unrecht hatte meine innere Stimme nicht. Wenn es einen Ort gab, an dem Derek mich zu finden erwartete, dann sollte ich wohl besser hingehen, damit er mich dort auch finden konnte.

Aber ein bisschen fühlte ich mich trotzdem wie Rambo – das Schnappmesser in einer Hand, das Funkgerät in der anderen, die Taschenlampe in den Hosenbund geschoben –, als ich mich verstohlen durchs dichte Unterholz arbeitete.

Yeah, solange du jetzt nicht stolperst und dich mit deinem eigenen Messer aufspießt.

Ich klappte das Messer zu.

»Chloe?«, flüsterte eine Frauenstimme.

Ich fuhr so schnell herum, dass mein Fuß auf dem weichen Boden ausrutschte. »Tori?«

Ich spähte in die Nacht. Der Wald war hier so dunkel, dass ich nur Umrisse erkannte und Menschen von Bäumen nicht unterscheiden konnte. Meine Finger streiften die Taschenlampe, aber ich zog die Hand zurück und sah mich weiter um.

»Tori?«

»Pssst. Hier entlang, Liebes.«

Bei dem Kosewort stellten sich die Härchen in meinem Nacken auf.

»Tante Lauren?«

»Pssst. Komm mit.«

Ich erhaschte einen kurzen Blick auf eine Gestalt. Sie war so schwach wie die Stimme, ich sah nur eine helle Bluse, die vor mir in der Dunkelheit schimmerte. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Es klang nach Tante Lauren, und die Gestalt schien etwa ihre Größe zu haben, aber ich konnte mir nicht sicher sein, und ich würde nicht wie ein Kleinkind hinter ihr herrennen, so verzweifelt und sehnsüchtig, dass ich geradewegs in eine Falle lief.

Ich nahm die Taschenlampe und schaltete sie ein, aber die Gestalt schoss von Baum zu Baum, und es war unmöglich, mehr als die Bewegung und die helle Bluse zu erkennen. Dann sah sie sich nach mir um, und ich erhaschte einen einzigen kurzen Blick auf ein Profil und schwingendes blondes Haar, es war nicht viel, aber genug, dass mein Instinkt sagte: Das ist sie.

Sie winkte mir zu, ich sollte mich beeilen, und bog dann nach links ab, wo die Bäume dichter standen. Ich folgte ihr, immer noch vorsichtig, was mir mein Instinkt auch immer erzählen mochte. Ich trabte gerade an einem Gestrüpp vorbei, als eine Gestalt dahinter hervorstürzte und mich packte, bevor ich auch nur herumfahren konnte. Fest legte sich eine Hand über meinen Mund und erstickte meinen Schrei.

»Ich bin’s«, flüsterte Derek.

Er versuchte, mich in das Gebüsch hineinzuziehen, aber ich wehrte mich.

»Tante Lauren«, sagte ich. »Ich habe gerade Tante Lauren gesehen.«

Er sah mich an, als hätte er nicht richtig gehört.

»Meine Tante. Sie ist hier. Sie ist …« Ich zeigte in die Richtung, in die sie verschwunden war. »Ich bin ihr nachgegangen.«

»Ich hab niemanden gesehen.«

»Sie hat eine helle Bluse an. Sie ist hier vorbeigekommen …«

»Chloe, ich hab hier gestanden. Ich hab dich kommen sehen. Außer dir ist niemand …« Er brach ab, als er verstand, was er da sagte. Wenn ich sie gesehen hatte und er nicht …

Ich spürte, wie sich etwas in meiner Brust zusammenzog. »Nein.«

»Es war eine Illusion«, sagte er schnell. »Eine Formel, mit der sie dich in die Falle locken wollen. Mein Dad hat solches Zeug auch schon gemacht, und …« Er rieb sich mit der Hand über den Mund und fügte dann mit mehr Nachdruck hinzu: »Das war’s, was du da gesehen hast.«

Ich hatte mir das Gleiche überlegt, aber jetzt, als ich es von ihm hörte und es meine Zweifel hätte beschwichtigen sollen, konnte ich nur noch denken: Ein Geist. Ich hatte Tante Laurens Geist gesehen. Der Wald verschwamm um mich herum, und Dereks Hand auf meinem Arm schien das Einzige zu sein, das mich noch aufrecht hielt.

»Chloe? Es war eine Formel. Es ist dunkel, du kannst nicht viel gesehen haben.«

Alles richtig. Vollkommen wahr. Und trotzdem … Ich schüttelte die Gedanken ab, richtete mich auf und machte mich von ihm los. Als er zögerte, die Hand noch ausgestreckt und bereit, mich zu packen, wenn ich zusammenbrechen sollte, trat ich außer Reichweite.

»Mir geht’s gut. Wie sieht also der Plan aus?«

»Wir warten hier …«

Schritte kamen näher. Wir zogen uns in die Büsche zurück und kauerten uns auf den Boden. Der Strahl einer Taschenlampe glitt über die Baumstämme wie ein Suchscheinwerfer.

»Ich weiß, dass ihr da drin seid«, sagte eine Männerstimme. »Ich hab euch reden hören.«

Derek und ich waren vollkommen still. Sein flacher Atem zischte in meinem Ohr. Ich kauerte mit dem Rücken zu ihm und spürte das Pochen seines Herzens. Der Lichtstrahl kam näher, schnitt eine Kerbe in die Dunkelheit. Er glitt über unser Gebüsch hinweg. Dann hielt er inne, kam zurück und leuchtete uns genau ins Gesicht.

»Okay, ihr beide. Kommt raus da.«

Hinter dem grellen Licht der Taschenlampe sah ich nichts als eine Gestalt mit verhülltem Gesicht.

»Kommt raus«, wiederholte er.

Ich spürte Dereks Atem warm am Ohr. »Wenn ich rennen sage, renn.« Dann, lauter: »Nehmen Sie die Waffe runter, und wir kommen raus.«

»Hab sie unten.« Bei dem Licht, das uns in die Augen schien, und dem dahinter fast verborgenen Mann, war es unmöglich herauszufinden, ob er die Wahrheit sagte.

Er hob die freie Hand und schwenkte sie. »Seht ihr? Keine Waffe. Kommt jetzt …«

Der Mann kippte nach vorn, als habe er von hinten einen Schlag bekommen. Die Taschenlampe fiel auf den Boden. Derek schoss an mir vorbei und stürzte sich auf den Mann, als der sich aufzurappeln versuchte. Simon trat aus der Dunkelheit, beide Hände zu einem zweiten Rückstoßzauber erhoben.

»Lauft«, rief Derek, während er den zappelnden Mann am Boden festhielt. Als wir zögerten, fauchte er uns an: »Lauft!«

Wir rannten los, sahen uns aber immer wieder um. Wir konnten die Geräusche des Kampfs hören, aber es dauerte nicht lang, und bevor wir weit gekommen waren, war Derek hinter uns. Als wir langsamer wurden, schubste er uns beide, damit wir in Bewegung blieben. Der Mond über den Bäumen lieferte uns genug Licht, dass wir sehen konnten, wohin wir traten.

»Tori?«, flüsterte ich Simon zu.

»Haben uns getrennt. Sie …«

Derek sagte uns mit einer Geste, wir sollten still sein. Wir rannten, bis wir weiter vorn die Lichter von Häusern glitzern sahen und wussten, dass wir uns der Nebenstraße näherten. Noch ein paar Schritte, und dann schlug Derek uns plötzlich wieder auf den Rücken. Dieses Mal war es ein harter Schlag zwischen die Schulterblätter, der uns beide der Länge nach hinfallen ließ. Derek landete zwischen uns. Als wir uns aufzurichten versuchten, stieß er uns wieder nach unten.

Simon hob sein dreckverschmiertes Gesicht und rieb sich das Kinn. »Eigentlich mag ich meine Zähne. Alle.«

Derek brachte ihn zum Schweigen und drehte sich um, so dass er zwar noch auf dem Bauch lag, aber mit dem Gesicht in die andere Richtung. Wir taten das Gleiche. Ich folgte seiner Blickrichtung in den Wald und hörte Schritte.

Derek spannte die Muskeln an, bereit aufzuspringen, aber die Schritte waren noch ein ganzes Stück entfernt, als sie leiser und durch das Murmeln von Stimmen ersetzt wurden. Das Funkgerät in meiner Tasche zwitscherte. Ich holte es heraus und überprüfte den Lautstärkeregler.

Simon sah an Derek vorbei zu mir und formte mit den Lippen: »Funkgerät?«, dann zeigte er zu den Stimmen hinüber, um zu fragen, ob es eins von ihren war.

Ich nickte.

»Wow«, formte er und hob den Daumen. Ich wurde rot. Derek sah mich mit einem Nicken und einem Grunzen an, das ich als Gut gemacht … solange du nichts Dummes angestellt hast, um dranzukommen interpretierte.

»Ich hab Alpha eins gefunden«, sagte eine Männerstimme, so leise, dass ich sie kaum verstand.

Simon bedeutete Derek, er sollte die Lautstärke höher drehen, aber Derek schüttelte den Kopf. Er selbst hörte bestens, es war also nicht nötig, mehr Lärm zu riskieren.

»Wo ist er?«, fragte eine Frauenstimme über das Funkgerät.

»K. o. Sieht aus, als hätte er sich auf ein paar Runden mit unserem jungen Werwolf eingelassen.«

»Bringt ihn in Sicherheit. Team Delta hat das Enright-Mädchen, ja?«

Ich warf einen schnellen Blick zu Derek, aber sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Er konzentrierte sich aufs Zuhören.

»Delta zwei, ja. Ich weiß nicht, wie viel sie als Köder taugt. Ich hab Delta eins losgeschickt, Carson aus dem Auto zu holen.«

Das immerhin erregte Dereks Aufmerksamkeit. Simon formte mit den Lippen das Wort »Andrew«. Die Stimmen entfernten sich, aber ein paar Sekunden später hörten wir die Frau über Funk wieder sprechen. Sie rief Delta zwei. Eine Männerstimme meldete sich.

»Hast du Carson?«, fragte sie.

»Bin fast da.«

»Gut. Du bist dafür verantwortlich, ihn dazu zu überreden, dass er diese Teenager ruft. Er soll sie uns ranlocken.«

»Wird er nicht.«

»Ich erwarte nicht, dass er’s freiwillig macht«, schnappte sie, »aber in Anbetracht der Umstände wird er tun, was wir sagen, und wenn er sich weigert, dann erschieß ihn eben.«

Simons Kopf schoss hoch, seine Augen waren dunkel vor Sorge. Delta zwei meldete sich wieder zu Wort. »Äh, hat jemand den Truck weggefahren?«

»Was?«

»Den Truck. Mit Carson. Er ist, ähm, nicht da.«

Der Streit, der sich jetzt entwickelte, wurde laut genug, dass Derek die Hand über den Lautsprecher des Funkgeräts legte, um das Geräusch zu dämpfen. Sie verbrachten die nächsten paar Minuten damit, sich zu vergewissern, dass Delta zwei sich an der richtigen Stelle befand und dass niemand sonst das Auto und Andrew weggebracht hatte. Aber es schien keine einfache Erklärung zu geben. Ihre Geisel war fort – mit dem Geländewagen.

»Dann ist Andrew also in Sicherheit. Was ist mit Tori?«, fragte ich, als das Funkgerät verstummte.

Sekundenlang sagte Derek nichts, was besser war als das, was ich erwartet hatte – ein kurz geschnapptes Was soll mit der sein? So bereitwillig er vor ein paar Tagen noch gesagt hatte, Tori könne seinetwegen vor einen fahrenden Bus laufen, so schwierig war es jetzt, sie im Stich zu lassen, wenn wir wussten, dass sie in Gefahr war.

»Ich sehe mal nach«, sagte er. »Wenn ich sie finde, okay.«

Den Rest sprach er nicht laut aus, aber ich verstand. Wenn ich sie nicht finde, werden wir sie zurücklassen müssen. So schrecklich das klang, es war die richtige Vorgehensweise. Ich wollte nicht, dass sich Derek wegen Tori einer Gewehrkugel aussetzte. Auch heftig, sich das einzugestehen. Schließlich hasste ich Tori nicht, ich empfand nicht einmal mehr eine wirkliche Abneigung gegen sie. Aber wenn es um die kalte, harte Entscheidung ging, ob ich ein Leben riskiert hätte, um Tori zu retten, dann hätte ich es nicht tun können. Weder Dereks noch Simons noch mein eigenes. Und dieses Wissen würde mir noch lange Zeit zusetzen.

»Sei vorsichtig und …« Die Worte, die mir noch auf der Zunge lagen, waren »mach’s kurz«, aber so gefühllos konnte ich nicht sein – allein die Tatsache, dass ich es dachte, schockierte mich. Also schluckte ich und wiederholte: »Sei vorsichtig.«

Derek allerdings ging nicht. Wir gingen. Er ließ uns zuerst aufbrechen, damit er weiterhin Wache halten konnte. Sobald wir sicher bei der Straße waren, würde er sich auf die Suche nach Tori machen.

Wir hatten es etwa zwanzig Schritte weit geschafft, als sich uns eine Gestalt in den Weg stellte. Simons Finger flogen nach oben.

»Simon, ich …«, begann der Mann, seine Worte endeten in einer Art Uff!, als die Formel ihn erwischte und rückwärts zu Boden schleuderte.

»Andrew!« Simon stürzte vorwärts.

Der Mann stand auf und klopfte sich mit einem schiefen Lächeln den Dreck von der Hose. »Ich seh schon, deine Rückstoßformel ist besser geworden.«

Andrew war nicht viel größer als Simon, aber er war breitschultrig und untersetzt, mit rundem Gesicht und schiefer Nase. Sein kurzgeschnittenes Haar war grau, obwohl er nicht viel älter sein konnte als mein Dad. Er sah aus wie ein Preisboxer im Ruhestand – nicht gerade das, was ich nach dem behaglichen, ordentlichen kleinen Haus erwartet hätte.

Als er mich ansah, verblasste sein Lächeln, und die Furche zwischen seinen Brauen wurde tiefer, als käme ich ihm irgendwie bekannt vor, könne mich aber nicht recht einordnen. Er machte Anstalten, etwas zu sagen, unterbrach sich dann und sah rasch auf.

»Da kommt jemand.«

Simon sah sich nach dem näher kommenden Schatten um, groß, aber lautlos in seinen Bewegungen. »Derek.«

»Nein, das ist nicht …«, begann Andrew.

Derek trat in den Schein der Lichtung, Andrew sah zu ihm auf und blinzelte verblüfft. Er starrte ihn an, als versuchte er, den Jungen wiederzuerkennen, den er gekannt hatte, und könnte ihn nicht finden.

Hinter der Überraschung in seinen Augen sah ich noch etwas anderes, eine Spur von Besorgnis, vielleicht sogar von Furcht, als sähe er in diesem Moment nicht den Sohn seines Freundes, sondern einen großen, kräftigen jungen Werwolf. Er zwang die Furcht zurück, aber nicht schnell genug. Derek hatte sie gesehen, und sein Blick glitt zur Seite, Schultern und Kiefermuskeln spannten sich, als wollte er sagen, dass es in Ordnung war, dass es ihm nichts ausmachte. Aber ich wusste, es machte ihm etwas aus.

»Du bist … gewachsen.« Andrew versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht wirklich, was für Derek noch schlimmer zu sein schien als die Furcht.

Derek wandte den Blick ganz ab und murmelte: »Yeah.«

Simon zeigte mit einer Handbewegung auf mich. »Das ist …«

»Lass mich raten. Diane Enrights Tochter.«

Ich schüttelte den Kopf. »Chloe Saunders.«

»Es sind die Haare«, erklärte Simon. »Sie ist blond, aber wir haben’s färben müssen, weil …«

»Später«, sagte Derek und sah dann wieder Andrew an. »Sie haben das Enright-Mädchen. Victoria.«

Andrew runzelte die Stirn. »Bist du dir sicher?«

Simon nahm mir das Funkgerät aus der Hand und schwenkte es. »Chloe hat ihnen das hier abgenommen. Wir haben gehört, dass du geflohen bist und dass sie Tori erwischt haben.«

»Dann gehe ich sie holen. Ihr drei, geht schon vor zum Auto.« Er sagte uns, wo wir es finden würden, und machte Anstalten zu gehen.

»Ich komme mit«, sagte Derek. »Ich finde sie schneller als du.«

Andrew sah aus, als wollte er widersprechen, aber ein Blick in Dereks Gesicht machte ihm klar, dass es zwecklos sein würde. Also ließ er sich von mir das Funkgerät geben und schickte uns zum Auto.