31
Am einfachsten würden wir an unser vorläufiges Ziel kommen, wenn wir trampten. Wir waren nicht so dumm, uns mit vorgestrecktem Daumen eine Mitfahrgelegenheit zu suchen, aber vielleicht konnten wir uns ja eine verschaffen, ohne dass der Betreffende es merkte. Also beschlossen wir, erst zu dem Rasthof zurückzufahren. Ich schlief die paar Minuten, die wir in einem städtischen Bus saßen, und dann machten wir uns auf den langen Fußmarsch.
Wir hatten ihn etwa zur Hälfte hinter uns, als Derek unwirsch sagte: »Es tut mir leid.«
»Was?«
»Das hier. Nach dem ganzen Mist, den ich dir zugemutet habe, hast du mir letzte Nacht geholfen. Und das ist jetzt die Belohnung dafür – in Albany gestrandet zu sein.«
»Es ist ein Abenteuer. Ich kann mich nicht mal erinnern, wann ich das letzte Mal mit einem städtischen Bus gefahren bin. Und ein bisschen Training kriege ich so auch. Ich war eine Woche lang erst in Lyle House und dann in diesem Labor eingesperrt, mir war im Leben noch nie so sehr nach einem ordentlichen Fußmarsch.«
Wir gingen ein paar Minuten lang weiter.
»Ich weiß, dass du müde bist«, sagte er. »Und Hunger hast. Und sauer bist.«
»Müde, ja. Hunger, ein bisschen. Sauer? Nein.« Ich sah zu ihm auf. »Im Ernst, bin ich nicht.«
»Du bist ziemlich still gewesen.«
Ich lachte. »Ich bin normalerweise ziemlich still. Aber die letzten vierzehn Tage waren eben nicht normal.«
»Ich weiß schon, du redest manchmal nicht viel, aber du bist einfach …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich hab gedacht, du wärst sauer.« Er schob die Hände in die Taschen. »Und von wegen sauer sein. Du hast recht gehabt vorgestern Nacht, wegen dem, was da in der Gasse los gewesen war. Ich war wütend auf mich. Hab einfach eine Weile gebraucht, bis ich mich so weit abgeregt hatte, dass ich selbst draufgekommen bin.«
Ich nickte.
»Was ich gemacht habe, als wir noch hier gelebt haben, also diesen Jungen verletzt. Ich hab nicht gedacht, dass es jemals wieder passieren könnte. Ich hab mir so oft überlegt, was da schiefgegangen ist und was ich machen würde, wenn ich mal wieder in so eine Situation käme, die ganzen Strategien, die Dr. Gill mir beigebracht hat.«
»Dr. Gill?«
»Yeah, ich weiß. Die war mir schon unheimlich, bevor wir auch nur von der Edison Group gewusst haben. Aber sie war eine echte Therapeutin, und sie hat wirklich helfen wollen. Es war ja auch nur in ihrem Interesse, mir beizubringen, wie ich mich unter Kontrolle kriege. Also war ich mir sicher, wenn so was in der Art wieder passieren sollte, keine Frage, ich würde besser klarkommen. Und was passiert? Fast genau die gleiche Situation … und ich hab genau das Gleiche gemacht.«
»Du hast dich noch rechtzeitig davon abgehalten, sie gegen die Wand zu schleudern.«
»Nein, du hast mich abgehalten. Wenn du nicht gebrüllt hättest, hätte ich’s getan. Die ganzen Strategien. Die ganzen Übungsläufe in Gedanken. Und als es dann passiert ist, hab ich keinen Moment lang überlegt, irgendwas anders zu machen. Hab’s gar nicht gekonnt. Mein Hirn hat einfach abgeschaltet.«
»Hat aber nicht viel gebraucht, dass du es wieder eingeschaltet hast.«
Er zuckte wieder mit den Schultern.
»Das ist doch ein Fortschritt, oder?«
»Wahrscheinlich«, sagte er, aber er hörte sich nicht sonderlich überzeugt an.
Wir hatten vor, uns auf dem Rasthof als blinde Passagiere in einem Laster zu verstecken. Also saßen wir im Restaurant über unserer Cola, während Derek auf die Unterhaltungen ringsum lauschte und Trucker identifizierte, die in unsere Richtung fuhren.
Der erste Laster, bei dem wir es probierten, parkte ganz vorn, was es uns unmöglich machte, ungesehen an Bord zu schleichen. Beim zweiten Versuch hatte der Anhänger ein riesiges Vorhängeschloss, das Derek nicht aufbrechen konnte. Beim dritten Mal hatten wir mehr Glück.
Wir waren dem Fahrer zu seinem Auto gefolgt, das sich als ein Kastenwagen herausstellte. Nachdem er in die Fahrerkabine gestiegen war, schlichen wir hinten in den Laderaum.
Der Mann musste eine Art Konstruktionsbetrieb haben. Sein Laster roch nach Sägespänen und Öl und war voller Werkzeug, Seile, Leitern und Planen. Als er den Highway erreicht hatte und der Fahrtlärm laut genug war, um unsere Stimmen zu übertönen, nahm Derek die Planen und machte ein Bett auf dem Fußboden.
»Du musst schlafen«, sagte er. »Die stinken, aber …«
»Sie sind weicher als Pappe. Danke.«
Er gab mir einen halben Energieriegel, den er aufgehoben haben musste.
»Nein, behalt den«, sagte ich.
»Du schläfst besser, wenn dein Magen nicht knurrt. Und sag jetzt nicht, dass er’s nicht tut. Ich höre ihn.«
Ich nahm den Riegel.
»Und das hier nimmst du auch.« Er zog das Sweatshirt aus. »Riecht vielleicht auch nicht so toll, aber es ist warm.«
»Das brauchst …«
»Tu ich nicht. Ich hab immer noch ein bisschen Fieber von letzter Nacht.«
Ich nahm das Sweatshirt. »Es ist okay, Derek, ich bin nicht sauer.«
»Ich weiß.«
Ich legte mich auf die Planenmatratze und zog das Sweatshirt über mich wie eine Decke. Dann aß ich den Rest des Energieriegels.
Als ich fertig war, sagte Derek: »Du kannst nicht mit offenen Augen schlafen, Chloe.«
»Ich will aber nicht einschlafen. Was, wenn irgendwas passiert?«
»Ich bin ja hier. Schlaf einfach.«
Ich schloss die Augen.
Ich wachte auf, als der Laster langsamer wurde. Derek stand an der hinteren Tür und öffnete sie einen Spalt weit, um ins Freie zu spähen.
»Müssen wir hier raus?«, fragte ich.
»Wir müssten weit genug gekommen sein. Aber wir sind nicht in einer Stadt. Es ist wieder ein Rasthof.«
»Pinkelpause nach dem Riesenkaffee, den er beim letzten Mal getrunken hat?«
»Yeah.« Er öffnete die Tür weiter, um besser sehen zu können. »Eine Stadt wär mir lieber …«
»Aber vielleicht hält er gar nicht in einer. Wir sollten raus, solange wir können.«
Derek nickte und schloss die Tür wieder. Der Laster fuhr auf einen Stellplatz und kam zum Stehen.
»Kriech unter eine Plane«, flüsterte Derek. »Falls er einen Blick hinten rein wirft.«
Eine Minute später ging die hintere Tür quietschend auf. Ich hielt den Atem an. Der Laderaum war nicht sehr groß, und wenn der Fahrer hineinkletterte, um etwas zu holen, würde er wahrscheinlich auf uns treten. Aber er blieb an der Tür stehen. Werkzeug klirrte, als nähme er etwas aus einem Kasten. Dann wurde es still. Ich verspannte mich.
»Hab die neue Klemmzange doch wirklich vergessen«, murmelte der Mann. »Na toll.«
Die Tür schloss sich mit einem Knall. Als ich die Plane über mir fortziehen wollte, flüsterte Derek: »Warte. Er ist noch in der Nähe.«
Eine Minute verging, während er lauschte, dann sagte er: »Okay.«
Ich stand auf und schob die Planen wieder an die Stelle, wo wir sie gefunden hatten, während Derek einen weiteren Blick ins Freie warf.
»Links sind Bäume«, sagte er. »Wir gehen da durch, schlagen dann einen Bogen und besorgen uns was zu trinken, bevor wir weitergehen.«
»Und gehen aufs Klo.«
»Yeah. Komm mit.«
Wir schlichen aus dem Laster und rannten zu den Bäumen hinüber. Hinter Derek herzurennen war noch schlimmer als hinter Tori – mit seinen langen Beinen brauchte er eigentlich nur schnell zu gehen, damit der Abstand zwischen uns größer wurde.
Als er stehen blieb und zu mir herumfuhr, rechnete ich mit einem Stirnrunzeln und der Anweisung, nicht zu trödeln, aber stattdessen sah ich ihn mit den Lippen einen Fluch formen. Schnelle Schritte näherten sich hinter mir. Ich wollte gerade losrennen, als sich eine Hand um meine Schulter schloss.
Derek machte Anstalten anzugreifen. Ich sah seinen Gesichtsausdruck, das verräterische Lippenkräuseln, und gestikulierte wild, um ihm mitzuteilen, dass er es lassen sollte. Er tat es und kam abrupt zum Stehen, aber sein Blick blieb auf einen Punkt hinter mir gerichtet, auf das Gesicht desjenigen, der mich gepackt hatte.
»Hab ich’s mir doch gedacht, dass ich ein paar Passagiere aufgelesen habe«, sagte eine Männerstimme.
Er drehte mich zu sich um. Es war der Lastwagenfahrer, ein Mann mittleren Alters mit einem grauen Pferdeschwanz und einem zerfurchten Gesicht.
»W-wir haben nichts genommen«, sagte ich. »Es tut mir leid. Wir hatten kein Geld für eine Fahrkarte und mussten dringend weg.«
»Herrgott«, sagte er und zog mich ins Sonnenlicht, um mich besser sehen zu können. »Wie alt bist du?«
»F-fünfzehn.«
»Mit Ach und Krach, möchte ich wetten.« Er schüttelte den Kopf. »Von zu Hause weggelaufen, würde ich auch wetten.« Seine Stimme wurde weicher. »Das ist aber nichts, was ihr wirklich tun wollt, Kinder. Ich weiß, wovon ich spreche, das ist es absolut nicht.«
Derek schob sich näher, den Blick starr auf den Mann gerichtet, so konzentriert, dass ich das Gefühl hatte, er hätte nicht ein einziges Wort verstanden. Ich schob eine Hand in meine Tasche, bis meine Fingerspitzen das Messer berührten. Ich holte es nicht heraus, erinnerte mich lediglich daran, dass ich nicht so wehrlos war, wie ich mich fühlte. Dann versuchte ich, Dereks Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich war mir nicht sicher, ob es mir gelungen war, bis er geistesabwesend nickte, um mich wissen zu lassen, dass er sich noch unter Kontrolle hatte.
Der Mann sprach weiter: »Ganz gleich, was bei euch zu Hause los ist, es ist nicht so schlimm, wie ihr glaubt.«
Ich hob den Blick zu seinem Gesicht. »Und wenn es das doch ist?«
Eine Pause, dann ein langsames, trauriges Nicken. »In Ordnung. Vielleicht ist es das. Es passiert, öfter als man denkt, aber es gibt immer noch eine andere Möglichkeit, wie man damit umgehen kann. Orte, an die ihr gehen könntet, Leute, die helfen.«
»Wir kommen klar«, sagte Derek. Seine Stimme war ein leises Grollen.
Der Mann schüttelte den Kopf. »So einfach ist es nicht, Junge. Du bist wie alt, siebzehn? Und auf der Flucht? Reist hinten in Lastwagen?«
»Wir kommen klar.« Dereks Grollen war tiefer geworden, jetzt war es ein Knurren. Er räusperte sich und änderte den Ton. »Wir wissen Ihre Anteilnahme zu schätzen, Sir.«
»So, tust du das, Junge? Tatsächlich?« Er schüttelte den Kopf. »Ich nehme euch beide jetzt mit da rein und besorge euch ein warmes Essen, und dann erledige ich ein paar Anrufe. Suche euch einen Ort, wo ihr unterkommen könnt.«
»Wir können nicht …«, begann ich.
»Keiner schickt euch nach Hause. Kommt.« Sein Griff um meine Schulter wurde fester.
Derek trat vor. »Es tut mir leid, Sir, aber das können wir nicht machen.«
»Doch, das könnt ihr.«
Derek winkte mir zu, ich sollte zu ihm herüberkommen. Ich machte einen Schritt vorwärts. Der Griff des Mannes wurde noch fester.
»Lassen Sie sie los.« Das Knurren war in Dereks Stimme zurückgekehrt.
»Nein, Junge. Ich tu deiner Freundin nichts, aber ich nehme sie mit da rein und rufe jemanden an, der helfen kann. Ich hoffe, du kommst mit, aber das ist deine Entscheidung.«
»Geh«, flüsterte ich, so leise, dass nur Derek es verstehen konnte. »Ich komme nach.«
Ich war mir sicher, dass er mich gehört hatte, aber er ignorierte es.
»Ich werde Sie noch einmal bitten, Sir. Lassen Sie sie los.«
»Das hört sich jetzt aber nach einer Drohung an, Junge. Du bist ein großer Kerl, aber du willst dich nicht mit jemandem anlegen, der seit zwanzig Jahren im Baugewerbe tätig ist und sich öfter geschlagen hat, als er gern zugeben würde. Ich will dir nicht weh tun …«
Derek sprang, eine blitzschnelle Bewegung. Er hatte dem Mann einen Arm um die Kehle gelegt, bevor der auch nur die Fäuste heben konnte. Als er den Mann im Schwitzkasten nach unten zerrte, stolperte ich zur Seite und riss dabei unwillkürlich die Hand aus der Tasche. Das Messer landete auf dem Boden. Der Mann starrte es an. Ich hob es auf und schob es wieder in die Tasche.
»Wir wollen Ihnen auch nicht weh tun«, sagte Derek. »Aber wie Sie sehen«, er verstärkte den Druck, bis die Augen des Mannes aus den Höhlen traten, »ich könnte es tun. Ich weiß, dass Sie uns helfen wollen, aber Sie verstehen die Situation nicht.«
Er sah mich an. »Lauf zurück zum Laster. Hol Seile und ein paar Lappen.«
Ich rannte los.