Jagd auf die Hummel

Aus der Akte von Walther Leisler Kiep

 

 

Die Stasi wusste alles: mit wem er telefonierte, was er trank und was er dachte. Walther Leisler Kiep wurde 30 Jahre ausgeforscht. Aus der Akte des CDU-Politikers.

 

»Hummel« im Anflug: Jeden Besuch des CDU-Schatzmeisters Walther Leisler Kiep avisierte die Hauptabteilung VI (»Objektsicherung und Tourismus«) der DDR-Staatssicherheit per Eilmeldung und befahl »durchgehende Kontrolle und Überwachung« der »Hummel«.

Wer immer den Decknamen erfand, ein Faible für Insekten ist ihm nicht abzusprechen. In den Dossiers firmiert Kieps Ehefrau als »Biene«, die Tochter heißt »Fliege« und der Fahrer »Drone«, was auf intime Kenntnis der Gattung Kerbtiere schließen lassen könnte, wäre Drohne richtig geschrieben. Über 25 Jahre hing die Stasi hüben wie drüben wie eine Klette am langjährigen Schatzmeister der Union. Bei der Gauck-Behörde umfasst die bisher aufgefundene Akte 900 Blatt; Kiep dürfte einer der am besten ausgeforschten Westpolitiker gewesen sein. Kenner der Materie sprechen von ihm als »gläserner Hummel«. Der 1960 begonnene »Objektvorgang« endet im Sommer 89 und blieb weitgehend erhalten, eine Sensation für sich. Die akribische Observierung Kieps wird hier erstmals rekonstruiert.

Der Spitzenmann elektrisierte die Stasi. Im März 1982 lautete die »politisch-operative Wertung« eines »Oberleutnants Hiller«, Kiep selbst bezeichne sich als »Ostexperte«. Er sei in einer »eventuellen CDU-Regierung als Außenminister« vorgesehen.

An anderer Stelle ist von Beziehungen »zu amerikanischen Politikern und Finanzkreisen« die Rede. Die Jäger, Sammler und Fallensteller hatten also einen Mann mit Zukunft und internationalen Kontakten im Visier, der »mit Wissen und Billigung höchster zuständiger Stellen der DDR« ins Arbeiterparadies geschneit kam. Kiep besuchte regelmäßig die Leipziger Messe und konferierte mit den Ober-Genossen Mittag, Beil oder Häber. Anschließend landeten »Treffberichte« in Mielkes Büro, brav im »Posteingangsbuch« quittiert: »Information (d. Gen. Beil – erhalten von Gen. Honecker – über ein Gespräch mit Leisler Kiep am 9.6.83 = 1 Blatt)«.

Mielke persönlich präzisierte mit der »Vertraulichen Verschlusssache« 13/75 die Vorgabe. Für Kiep-Besuche verfügte er den »Einsatz spezieller operativer Kräfte«, die »gut abgedeckt und absolut unsichtbar« dessen Ausspähung zu gewährleisten hätten. Parallel forderte er, »weiterhin zielstrebig Informationen aus dem Operationsgebiet (gemeint: BRD)« über ihn zu erarbeiten. Ob die »Hummel« dann in Ostberlin oder Halle aufkreuzte, Heerscharen von Aufpassern umschwärmten sie schon. Für Informationen »über relevante Vorkommnisse« war die Berliner Telefonnummer 51970 reserviert. Die Dunkelmänner knipsten ihn samt Begleitung unterwegs in »offener Technik« mit einer »Practica« oder, »konspirativ«, aus einer Umhängetasche heraus mit einem Gerät namens »Robot«. Besuchte er den Ständigen Vertreter Bonns in Ostberlin, hielten Überwachungskameras erst recht drauf. In hanebüchenem Deutsch verfertigten Schnüffler »Beobachtungberichte zu der Persönlichkeit Leisler Kiep, Walther«. Den Namen schrieben sie in jeder denkbaren Variante falsch. Das MfS klassifizierte »Hummel« als einen »der einflussreichsten CDU-Bundestagsabgeordneten«, ergänzte kühn: »Gilt als Finanzier der CDU«. Die Rede war von Einheiratung in den Bayer-Konzern«, er bestimme »wesentlich die Politik der Konzerne der BRD«. Unter »besondere Hinweise« stand: »Interessenvertreter des IG-Farben-Konzerns«. Ergo: Dieser Kapitalist passte ins Feindbild, folglich richtete sich der »Streng Geheime Zielkontrollauftrag« insbesondere auf »finanzielle Zuwendungen von Firmen für die CDU«, »Kontakte zu BRD-Unternehmen«, »Hinweise zum Persönlichkeitsbild« sowie »Meinungen zu Politikern aller Parteien«. Alles in allem irritierte das Objekt der besonderen Begierde aber das gepflegte Bonzen-Klischee. Fast erschrocken registrierten Beschatter sein »selbstbewusstes, beherrschtes, freundliches« Auftreten.

Die Bezirksverwaltung Erfurt führte die Zielperson als »Dauergast«: Von 1975 bis 88 sind gut zwanzig Reisen erschöpfend protokolliert. Brisanter sind die Mitschnitte von Kieps Telefonaten im Westen, aus dem Auto oder Büro geführt, eingefangen via Richtfunkantenne Suhl. Im Zweifel filterten sie ihn »anhand eines Stimmenvergleichs« aus der Datenflut heraus. Aufgezeichnet wurden Gespräche mit VW-Chef Toni Schmuecker und dem damaligen hessischen CDU-Landeschef Alfred Dregger. Die Abhörer erfuhren, was Kiep im nächsten Parteipräsidium fragen würde, etwa: »Welche Haltung nimmt Kohl zur Europa-politik ein?« Gegebenenfalls werde er ihn »hart zurechtweisen«. Beurteilungen zur SPD zeichnete man auf, klinkte sich in Unterredungen mit Ministerpräsident Ernst Albrecht ein. Die Bänder drehten sich weiter bei Gesprächen mit Parteifreund Rainer Barzel. Er wünschte eine Spende von 1000 Mark für den RCDS Paderborn. Wertungen eines Kohl-Auftritts in Dortmund (»relativ vernünftig«) und des Fraktionschefs Carstens, der »nur geschrien« habe, finden sich im Dossier.

Im November 1976 waren die Lauscher am Rohr, als »Hummel« einigermaßen echauffiert über Franz Josef Strauß plauderte: Acht Tage zuvor hätten sie in München »über Gott und die Welt und über alles gesprochen« – der CSU-Chef aber hatte kein Wort über die geplante Trennung von der Schwesterpartei verloren. 1983 erfuhr Ostberlin, dass Kiep bei der Bundestagswahl FDP und Grünen »diesbezüglich keine Chance« einräumte. 1986 kam auf Band, dass er mit dem Landesschatzmeister Hessens (Prinz Wittgenstein, d. Red.) just über das »Wahlkampf-budget der CDU« verhandelt habe. Dokument 1399/76 reportiert über ein Treffen in Kronberg, zu dem von Kiep die Herren Lüthje und »Witkenstein« (gemeint ist wohl wieder Prinz Wittgenstein) erwartet wurden – heute in Zusammenhang mit den schwarzen Kassen der CDU einschlägig bekannt.

Auf diesem Weg erfuhr die Stasi, »dass am 21. April 1977 ein Herr Kohl, vermutlich der CDU-Politiker Helmut Kohl«, bei ihm zu Besuch gewesen sei. Und dass besagter Kohl beabsichtige, »heute gleichfalls bei Dr. Albrecht« zu erscheinen. Und sie registrierten, dass »ein Herr Kanther um einen Wahlkampfauftritt gebeten hatte«.

Blitzdepeschen vermeldeten akribisch die Reiseaktivitäten des Weltmanns: »Kiep ist am Samstag, dem 27.11.76 um 16.45 Uhr von einem Besuch eines Herrn Agnelli … vom Fiatkonzern aus Rom zurückgekehrt.« Grund des Treffs? »Wurde uns nicht bekannt.« Dann Hinweise auf Termine in London, Brüssel, Brasilien, Zürich; nicht umsonst firmiert der Kosmopolit in Stasi-Papieren auch als »Tourist II«. Unter Datum 10. Mai 77 wird gemutmaßt, er fahre demnächst »mit hoher Wahrscheinlichkeit« in die Sowjetunion: »Bezeichnet sie als Moskaureise«, wird muffig notiert. Er bemühe sich bei Botschafter Falin um einen Termin. Kaum ist er zurück, verfügt die Stasi schon über ein 50-seitiges Protokoll.

Was die Supernasen ermittelten, interessierte im Mielke-Imperium zwölf verschiedene Dienststellen. Sie konnten mit Genugtuung lesen, dass man zum Beispiel im Ostberliner Hotel Metropol Kieps Hotelzimmer verwanzte. Vom Lauschangriff in Erfurt hielten sie fest: »Kiep schätzt in diesem Zusammenhang Oskar Lafontaine als ›Spezi von Herrn Honecker‹ ein.« Ein andermal bedauert »Oberst Wilke«: »Der Einsatz der operativen Technik in den Unterkunftobjekten erbrachte keine operativ-auswertbaren Ergebnisse.« Denn der clevere Besucher rechnete immer mit dem Schlimmsten. Folglich narrte Kiep seine Kontrolleure, lehnte »wegen angeblicher Lärmbelästigung« zugewiesene Zimmer ab. Das MfS filzte seine Hotelräume ungeniert, brach herumliegende Post auf: »Brief wurde durch Abteilung M geöffnet.« Ein Aktenvermerk vom April 1986 hält fest, »Genosse B.« vom Hotel »Metropol« habe »drei Briefe, 2 Briefe mit Inhalt, 1 Brief-umschlag leer, vier Bilder und ein Schreiben …« übergeben. Wie in schlechten Spionagefilmen beschäftigten sich die Beschatter mit Nichtigkeiten, gaben Scheininformationen als T opsecret-News aus: Wichtigtuerisch notierten sie Kieps Auto-marken, führten minutengenaue Observationsprotokolle: Ein Hauptmann Heidrich registriert im Palasthotel um 21.14 Uhr: Kiep, Fahndungsnummer 534639, »holt Zimmerschlüssel und begibt sich auf sein Zimmer«. Auch vergaß er nicht, den Übernachtungspreis zu recherchieren: »140 Mark«. Oder: Palast hotel, Zimmer 6078: »00.04 Uhr, kein Licht mehr.« Ein Tagesbericht endet mit dem Hinweis, dass Kiep seine »Nachtruhe einnahm«. Handschriftlich fügte jemand hinzu: »Wie schmeckt das?« Kieps Telefonrechnung mit 101 Einheiten über 20,20 Mark liegt als Kopie bei.

Zwei Seiten verwenden die Obristen »Häher« und »Hähnel« darauf, eine »Kontaktaufnahme der Buffetkraft der Distel« zu Kiep darzustellen. Er habe ihr ein Autogramm auf den Kassenblock geschrieben. Fazit: Mit dem »Distel«-Direktor »wurden Maßnahmen besprochen, um zukünftig derartige Vorkommnisse zu verhindern«. Bei ihrer Faktenhuberei listet die Stasi von einem Kiep-Empfang im Hotel Merkur Leipzig, Raum 7613, die »Bestückung mit Getränken« auf: »15 Flaschen Bier, 3 Karaffen Juice. Weitere Bestellungen ergingen nicht.« Bei anderer Gelegenheit macht sich ein Verfolger in Güstrow mit dem Befund wichtig, Kiep sei bestrebt gewesen, »in der Öffentlichkeit erkannt zu werden«. Erleichtert heißt es an anderer Stelle von »Oberstleutnant Rosse«: »Der Aufenthalt löste keine Massenwirksamkeit aus.«

Im Rahmen der geradezu hybriden Überwachung nahmen Agenten sogar Leserbriefe zu den Akten. Etwa Kieps Richtigstellung in der »Zeit«, er sei nicht »im roten«, sondern im »dunkelblauen Porsche« vorgefahren. Von der »Bunten Illustrierten« wurde der Artikel »Warum hat die CDU Kiep nicht lieb?« abgeheftet. Aus dem »Tagesspiegel« ist der Zweispalter »Anklage gegen CDU-Schatzmeister Kiep und seinen Vertreter erhoben« (vom 25. April 1989) archiviert. Es geht um den Vorwurf der Beihilfe zur Steuerhinterziehung.

Aus unzähligen Informationen entstand in der Summe ein präzises Bewegungsbild des Politikers. Zeitweise trugen Informationen von 34 »Quellen« zum Porträt der »Hummel« bei. Gesprächsweise schöpfte ihn am 1. Mai 1983 der Stasi-Mitarbeiter »Nematus« ab. Spitzel »Beermann« vermeldet am 18. Juni 1983 Kieps »Zusammentreffen« mit »führenden Vertretern von Banken und Konzernen der BRD«. Ein Mitarbeiter »Friedrich« liefert am 24. März 1982 Vertrauliches über »Journalistische Aktivitäten zu Problemen der Parteienfinanzierung in der BRD«. Geplante Veränderungen in der Leitung der von Kiep geführten »Atlantikbrücke« teilt ein »Werner« am l. Mai 1984 mit. Der von den Magdeburgern auf das »Hauptobjekt CDU« angesetzte »Bakker« (ein Bonner Journalist) steht als Zuträger in den Akten.

Das Plansoll – Sammeln von Informationen über »finanzielle Zuwendungen von Firmen für die CDU« – wurde nicht erfüllt. Aber bei der Gauck-Behörde sind erst 332 laufende Meter Akten der Abteilung »Aufklärung der Organisationen in der BRD« erschlossen. 731 Meter stehen noch aus. Im Klartext: »Hummel«-Fortsetzung folgt.