3. Die sprechenden Steine

Der kipplige Seegang bei der Überfahrt nach Föhr kommt mir wie eine zusätzliche Schikane vor. Obwohl sich die wütenden Wellen mit den weißen Schaumspitzen in der klaren Morgensonne optisch hervorragend machen.

Nur, was nützt das, wenn an Bord die Kaffeemaschine kaputt ist?

Im Salon setzen wir uns an einen Tisch, Maria macht sich auf der Sitzbank lang und nimmt meinen Schoß als Kopfkissen: Ich lasse meinen Kopf auf die Tischplatte sinken, genau wie Jade. Das ist zwar nicht bequem, aber im Vergleich zum Mini schon ein Fortschritt. Gerade, als ich etwas eingenickt bin, weckt mich ein Kellner, um mir mitzuteilen, dass die Kaffeemaschine wieder geht. Ab da kann ich endgültig nicht mehr einschlafen.

Die «Uthlande» zieht kurz vor Föhr hart nach Steuerbord und fährt ein Stückchen parallel zur Wyker Seepromenade, wo Oma wohnt. Föhr präsentiert sich an diesem Morgen wie die Kulisse eines Werbefilms, die Sonne arbeitet jeden Mauervorsprung mit warmem, hellem Licht heraus, die Fensterscheiben werfen die Strahlen glitzernd wie helle Sterne zurück.

 

Dann tuckert die Fähre langsam zum Fähranleger und wird festgemacht. Sonst drängen sich hier Passagiere und Touristen zwischen voll bepackten Autos. An diesem Morgen sehe ich nur einen einzigen Lastwagen und eine einsame Frau, der Hafen gehört um diese Zeit sich selbst.

Als wir näher kommen, erkenne ich die Frau: In einem roten Hosenanzug, mit frischem Make-up und blond gefärbten, kurzen Haaren, knackebraun wie immer, steht unsere Oma da und winkt uns zu.

Jade, Maria und ich winken zurück.

Das ist wirklich Oma!

Wie immer viel zu auffällig und Generationen zu jung gekleidet für ihre 76 Jahre. Aber immer voller Energie und Unternehmungslust. Woher weiß sie, dass wir auf der ersten Morgenfähre sind?

Großes «Hallo» am Kai, als wir auf dem Hafenparkplatz aus dem Wagen springen. Oma umarmt ihre Enkelin Jade und drückt sie, so doll sie kann. Jade lässt es sich ohne Protest gefallen. Dabei haben sich Oma und sie bisher nur ein paar Mal in Frankfurt getroffen.

«Jade, mien seuten Deern …!»

«Süßes Mädchen» trifft es vielleicht nicht ganz präzise, aber was soll’s.

«Moin, Oma, schön dich zu sehen», begrüßt Jade sie.

Respekt, so viel nette Worte hatte sie für uns nicht.

Dann schlingt Oma ihre Arme um Maria und mich.

«Woher wusstest du, dass wir um diese Zeit ankommen?», frage ich.

Oma legt ihren strengen Gouvernantenblick auf.

«Petersen hat mich angerufen, als ihr in Dagebüll an Bord gegangen seid.»

Ich schaue zur Brücke hoch. Den grauhaarigen Kapitän Petersen kenne ich vom Sehen, er singt im örtlichen Shantychor «Die Knurrhähne», die zu jedem Hafenfest auftreten.

«Kinder, jetzt frühstücken wir erst einmal, oder was denkt ihr?»

Sie deutet auf den großen Picknickkorb zu ihren Füßen.

«Frische Brötchen, Krabben, Marmelade, alles dabei. Jade, du magst doch Krabben?»

«Bestimmt.»

Die Müdigkeit ist bei uns allen verflogen.

Außer bei Maria, die blöderweise gleich Tagschicht hat. Die Arme gähnt, was das Zeug hält. Das wird hart für sie.

Maria nimmt mich beiseite und umfasst meine Hüften.

«Mach dir keine Gedanken, Sönke», flüstert sie. «Wir bleiben zusammen in unserem Haus.»

Das höre ich natürlich gerne. Aber macht sie sich da nichts vor?

«Falls du nicht versetzt wirst.»

Maria legt ihre Wange an meine Wange.

«Mach dir keine Sorgen. Bis heute Abend ist das geklärt.»

Sie gähnt erneut und gibt mir einen Kuss.

«Ich koche uns was!», verspreche ich.

Dann verabschiedet sich Maria von Oma und Jade und schlendert zum Polizeirevier, das direkt gegenüber am Sporthafen liegt. Bis heute Abend entscheidet sich Marias Schicksal auf der Insel, und ich kann nichts tun außer warten.

 

Oma steigt in den Mini, und wir fahren nach Nieblum. Das kleine Reetdachhaus, in dem Maria und ich wohnen, ist umgeben von einem verwilderten Grundstück. Es besitzt nur zwei Zimmer und einen halb fertigen Wintergarten, der mit einer durchsichtigen Plastikplane abgedeckt ist. Auf dem Dach liegt frisches Reet, das Arne letzten Winter aufgetragen hat. Als ich die Tür öffne, rieche ich noch ein bisschen das Avocadobad, das Maria vor unserer Abreise zum Hamburger Flughafen genommen hat.

«Wir haben gedacht, du schläfst im Schlafzimmer. Ist das o.k.?»

Jade sagt gar nichts, sondern inspiziert misstrauisch den Raum. Ein frisch bezogenes Bett, ein Kleiderschrank, die Fenster nach Norden, sodass sie nicht vorzeitig von der Sonne geweckt wird. Ach ja, über dem Bett hängt eine Urlandschaft in Tonfarben, Oma hat uns dieses Bild ihres Lieblingsmalers Stefan Brée aus Hannover zum Einzug geschenkt.

Jade schmeißt ihren Koffer aufs Bett.

«O.k.?», frage ich noch einmal.

«Für zwei Wochen wird es gehen», kommt von ihr.

Sie tut so, als hätte ich ihr gerade einen Pappkarton über einem Lüftungsschacht angeboten. Langsam mache ich mir ernsthaft Sorgen. Föhr bietet unter anderem das Wattenmeer, riesige Himmel, tolle Strandbars, Bootstouren und vieles mehr. Alles grandios und einzigartig, aber das scheint Jade kein bisschen zu beeindrucken. Zwei Wochen!

«Sag mal, Jade, wie nennt sich die Mode, die du trägst?»

So direkt darf wohl nur Oma fragen.

«Gothic.»

«Und was bedeutet das? Darfst du kein Fleisch essen? Oder betest du zum Satan?»

Jade lacht (tatsächlich, sie lacht!).

«Mit Geistern liegst du gar nicht so falsch. Wir beschäftigen uns mit der dunklen Seite des Lebens.»

Mit Oma redet Jade ganz normal.

«Tod und Vergänglichkeit?»

«Ja.»

«In deinem Alter?», wundert sich Oma. «Das ist ungewöhnlich. Ich muss mich mit 76 ja langsam für die Abreise klar machen, aber ihr doch nicht! Trotzdem, ich finde das nicht schlecht, besser als Saufen.»

Jades Bier am Flughafen will ich jetzt mal nicht verpetzen.

«Und wo trefft ihr euch so? Ich meine, über so was quatscht man ja kaum bei McDonalds oder im Supermarkt.»

«In Frankfurt gibt es Super-Friedhöfe mit alten, tollen Gräbern und großen Mausoleen. Da hängen wir die ganze Zeit ab.»

Oma schaut Jade an und überlegt.

«Weißt du was, mien Deern? Wir holen zum Frühstück noch ein paar Verwandte dazu.»

«Wie meinst du das?», mische ich mich ein, «Arne und Regina schlafen noch.»

Arne ist, wie gesagt, gleichzeitig mein Onkel und Marias Adoptivvater, und Regina ist meine Tante.

«Die meine ich nicht.»

«Wen dann?»

Sie zieht sich ihre Jacke an.

«Kommt, wir machen ein Picknick!»

«Draußen ist Sturm, Oma.»

Der Wind pfeift heftig ums Haus.

«Aber es ist nicht kalt.»

Ich kapiere immer noch nicht.

«Willst du auf den Deich?»

«Nein, zu unseren Verwandten. Nach Süderende.»

Sie zwinkert mir zu.

Darauf hätte ich auch gleich kommen können.

Oma hat sofort den Platz im Sinn gehabt, an dem Jade mit Sicherheit auf Föhr andockt.

Also wieder rein in den Mini. Die Bäume biegen sich im starken Westwind. Oma freut sich über den Sommersturm, plaudert über den letzten Winter, als Föhr wochenlang verschneit war, und fragt Jade nach der Schule.

Wie es eine ordentliche Oma so tut.

Nach einigen Kilometern Schweigen rückt der mächtige, alte Kirchturm von St. Laurentii in Süderende näher. Das massive, trotzige Gotteshaus wurde im 13. Jahrhundert erbaut und ist umgeben von einem dichten Wald. Um das Kirchengebäude herum befindet sich einer der ältesten Friedhöfe der Insel. Wir stellen den Wagen vor der Friedhofsmauer ab. Der Wind pfeift wild durch die Bäume und schüttelt sie heftig durch.

Wir gehen durch ein kleines Tor auf den Friedhof. Ich trage den Picknickkorb, Jade die Decke und Oma die Thermoskanne mit frischem Tee, den ich eben gekocht habe.

«Das hier ist nicht irgendein Friedhof», sagt Oma. «Diesen solltest du besser kennen als alle anderen.»

Jade blickt sie skeptisch an.

«Fast alle, die hier liegen, haben etwas mit dir zu tun», erkläre ich.

Jade ist wie elektrisiert, auch wenn sie sich bemüht, es nicht zu zeigen.

 

In meiner Kindheit gab es keinen Verwandtenbesuch auf Föhr ohne einen Rundgang auf dem Friedhof von St. Laurentii. Auf den Grabsteinen kann man unsere Familiengeschichte über mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen. Wir halten an der letzten Ruhestätte von Brar Riewerts, an dessen weißem Stein oben die Symbole Kreuz, Herz und Anker – für Glauben, Liebe, Hoffnung – prangen.

«Der heißt wie ich!», freut sich Jade.

«Kein Zufall, mien Deern. Wenn wir den ausbuddeln würden, wären Teile seiner DNA mit deiner und meiner identisch», erklärt ihr Oma.

Jade schaut mich an.

«Echt?»

Man nennt die Grabsteine auf diesem Friedhof die «sprechenden Grabsteine», es war hier Brauch, auf ihnen die Lebensgeschichte der Verstorbenen einzumeißeln. Die Inschrift auf dem Stein, den ich Jade zeige, kenne ich von unseren unzähligen Besuchen auswendig:

Brar Riewerts

An dem Fuße dieses Denkmals liegt das Verwesliche der beiden Eheleute Brar Riewerts und seine Frau Antje Ketelsen. Ersterer ist am 22. Juli 1768 in Oldsum geboren, 1791 in den Ehestand mit der 1771 geborenen Antje Ketelsen aus Süderende getreten. Er war vom 15. bis zum 40. Lebensjahre ein mit dem Glück des Herrn gesegneter Seefahrer und führte 15 Jahre lang verschiedene Schiffe als Kapitän nach Grönland und Westindien. Den Eheleuten wurden 4 Kinder geboren, wovon 2 im Alter von sieben und eines im Alter von neun starben. Nach seiner Zeit als Kapitän führte der Verstorbene strebsam seinen Hof in Oldsum, bis ihn der Todesbote am 5. Dezember 1849 im gesegneten Alter von 81 Jahren in die Ewigkeit mitnahm. Seine Frau Antje lebte im Witwenstand noch zwei Monate und drei Tage, bis sie ihm am 9. Februar folgte.

Auswärtige staunen immer, dass Föhr, schon lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab, ein «Global Village» war. Die Seeleute fuhren von hier aus mit Schiffen um den ganzen Globus und brachten Geschichten, fremde Speisen und Getränke mit. Der typisch friesische Tee zum Beispiel stammt ja auch nicht vom Anbau auf dem Deich.

Jades Blick bleibt erschüttert an Brar und Antje Riewerts’ Grabstein haften. Sie schaut drein, als würde sie sich gut an die beiden erinnern. Es ist eines, in Frankfurt mit Freunden nach Betriebsschluss auf Friedhöfen herumzuhängen und düstere Musik zu hören, vielleicht Gedichte vorzulesen oder Briefe an die Toten zu verfassen. Etwas komplett anderes ist es, direkten Anschluss zu den Toten zu bekommen wie auf diesem Friedhof.

«Ich kann ihre Energie spüren», flüstert Jade.

«Das ist die Kraft der Riewerts!», sagt Oma und wendet sich an mich: «Was meinst du, Sönke, mein Lieber, sollen wir hier frühstücken oder drüben bei Matthias?»

«Bei Matthias ist immer mehr Stimmung», finde ich.

«Du hast recht, Sönke. Kommt, Kinder.»

So ganz sicher bin ich mir nicht, ob es nicht ein Sakrileg ist, auf einem Friedhof zu picknicken. Andererseits sind wir unseren Vorfahren auf diese Art wirklich sehr nah.

Also breiten wir die Picknickdecke vor dem Grab von Matthias Petersen aus, der aus Omas direkter Linie stammt. Oma hat Teller in Friesischblau dabei, selbst gekochte Marmelade, backfrische Brötchen und Krabben. Sie gießt den dampfenden Tee in große Pötte.

Sie freut sich, es ist genau der richtige Ort, um ihre Enkelin zu beeindrucken, Jade kann ihren Blick nicht von dem Grabstein vor uns lassen:

Matthias Petersen,

geb. in Oldsum den 24. Dec. 1632

gest. den 16. Sept. 1706.

Er war in der Schifffahrt nach Grönland

sehr kundig, wo er mit unglaublichem Erfolg

373 Wale

gefangen hat, sodaß er von da an

mit Zustimmung aller den Namen

«Der Glückliche»

annahm; und dessen Frau

Inge Mathiesen

geb. den 7. Oct. 1641

gest. 5. April 1727.

«Falls du dich bei Greenpeace bewerben willst, solltest du den besser verschweigen», frotzelt Oma.

Plötzlich muss sie gähnen.

Irgendetwas scheint ihr schlagartig alle Energie aus dem Körper zu ziehen. Ihre Lippen werden weiß, sie lässt sich rücklings auf die Picknickdecke fallen.

«Alles klar, Oma?», frage ich besorgt. «Oder soll ich einen Arzt holen?»

«Nein, nur einen Moment …», stöhnt sie und schiebt sich eine weiße Pille in den Mund.

Jade und ich schauen uns ratlos an.

«Ich habe uns nachher bei einem Malkurs angemeldet», raunt sie heiser, während sie die Augen geschlossen hält.

«Das können wir gerne verschieben», sagt Jade.

Gutes Kind.

Oma schließt die Augen: «Gib mir fünf Minuten.»

 

Tatsächlich richtet sie sich nach kurzer Zeit wieder auf und scheint wieder voll da zu sein. Sie besteht darauf, nun endlich mit uns zu frühstücken. Ich bin ein bisschen beruhigt, aber meine Gedanken laufen trotzdem unaufhörlich im Kreis. Was ist, wenn Maria versetzt wird? Wie werden wir dann zusammenbleiben? Telefonisch? Als Bild auf dem Laptop? Viele Paare müssen sich so arrangieren, manche mögen das sogar. Ich könnte das nicht, glaube ich

Ich schaue auf mein Handy, kein Anruf.

Wie auch? Es ist noch lange nicht Mittag.

Nach diesem Tag werde ich mich auf meinem Sterbebett nicht zurücksehnen, das weiß ich jetzt schon.