14. Die Königin von Dänemark

Oma kommt mit zwei Gläsern Portwein aus der Küche und setzt sich auf die Couch unter dem verräucherten Elefantenbild. Ihre Wohnung ist so akkurat aufgeräumt, wie seit Jahren nicht mehr. Der Brandgeruch hängt immer noch im Raum, vermischt sich aber jetzt mit dem fiesesten, schärfsten Scheuermittel, das ich je gerochen habe. Regina muss wie eine Furie durch die Räume gefegt sein. In einer verborgenen Ecke ihrer Putzkammer hortet sie bestimmt noch Mittel aus den Sechzigern, die wegen ihrer Schadstoffhaltigkeit nicht mal mehr von Nordkorea als Kampfmittel eingesetzt werden. Ich mochte Omas lässige Unordnung; jetzt liegen selbst die Zeitschriften streng auf Kante übereinander.

«Wie sieht das hier bloß aus?»

«Regina war nicht zu bremsen», seufzt Oma.

Verstört setze ich mich neben sie. Die ukrainische Band draußen in der Kurmuschel beginnt gerade mit dem Udo-Jürgens-Lied «Ich war noch niemals in New York». Ich werde diesen Titel für den ganzen Tag nicht mehr aus dem Ohr bekommen, das weiß ich jetzt schon, aus irgendeinem Grund trifft das Lied bei mir auf eine extrem empfangsbereite Hirnregion.

«Skål for gamle denmark», prostet mir Oma auf Dänisch zu.

«Skål, Oma.»

Sie sieht immer noch müde aus und sollte dringend etwas schlafen.

«Wo steckt Jade?», frage ich. Die sollte doch Oma nicht aus den Augen lassen. Ich habe ihr sehr ins Gewissen geredet, dass wir uns alle auf sie verlassen und so weiter, und sie war damit einverstanden.

«Die treibt sich mit dem Enkel von Dingsda herum, na, wie heißt er noch …»

«Ocke?»

Oma schaut mich erleichtert an. «… genau, mit Momme treibt sie sich rum.»

Der Mofafahrer, der Oma mit dem Fahrrad vom Osterland nach Hause gezogen hat.

«Warst du mal bei Dr. Behnke?»

«Wieso? Sehe ich krank aus?»

«Ich dachte nur, wegen deiner Schlafstörungen.» Ich tue so, als wäre das schon ein Thema gewesen, wobei ich auf ihre Vergesslichkeit setze. In Wirklichkeit habe ich mit Oma nie darüber geredet.

«Was denn für Schlafstörungen?», wundert sie sich.

«Haben wir darüber nicht neulich geredet?»

Oma schaut mich besorgt an. «Du kannst dich nicht daran erinnern, worüber du mit mir geredet hast?»

«Dann habe ich das wohl verwechselt», rede ich mich heraus.

Oma schaut mir prüfend in die Augen und schüttelt mit dem Kopf: «Sönke, was ist denn los mit dir?»

«Wieso?»

«Du siehst gestresst aus.»

«Ja?»

Oma ist wirklich besorgt. «Das mit den Gedächtnislücken solltest du im Auge behalten, damit ist nicht zu spaßen», mahnt sie. «Das kann was Ernstes sein.»

Moment mal! Irgendetwas läuft hier gerade schief.

Oma kippt den Portwein mit einem Schluck hinunter, was fast so aussieht, als müsse sie sich Mut antrinken.

«Sönke, ich muss mal ernsthaft mit dir reden», flüstert sie plötzlich leise und heiser. Ihr Tonfall ist ungewohnt schüchtern, wie bei einem Bekenntnis, das ihr sehr, sehr schwer fällt. Wahrscheinlich hat sie selbst endlich eingesehen, dass sie Hilfe braucht.

«Och, Oma.»

Es fällt ihr nicht leicht, damit herauszurücken, was ich gut verstehen kann. Wem würde es anders gehen? Ich bekomme einen trockenen Mund. Was folgt jetzt? Ein Geständnis wegen des Diebstahls im Museum? Ist ihr doch wieder alles eingefallen?

Ich nehme Oma in den Arm, drücke sie und gebe ihr einen Kuss auf die Wange.

«Es ist nicht einfach», murmelt sie.

«Ich, die ganze Familie, wir werden dir alle helfen, wo immer wir können. Du bist nicht alleine, das weißt du ja», sage ich, und ich meine jedes Wort davon ernst.

Oma legt ihre Stirn in ein paar mehr Falten als sonst. «Wovon redest du, Sönke?»

Ich hebe abwehrend die Arme. «Äh, wolltest du nicht gerade …»

«Warum habe ich bloß andauernd das Gefühl, du willst mir etwas in den Mund legen?»

Oma hat recht, ich sollte mich zurückhalten. «O.k., schieß los, was willst du mir erzählen?»

Oma schaut an die Decke und sucht nach Worten.

«Also, normalerweise mische ich mich ungern in die Angelegenheiten anderer Leute. Aber in der Familie ist es etwas anderes, oder?» Sie schaut mich prüfend an.

«Kommt drauf an», sage ich zögerlich.

«Wenn man sieht, dass jemand gegen die Wand fährt, und derjenige erkennt es selber nicht, sollte man da nicht Verantwortung übernehmen?»

Ich blicke nicht mehr durch und nicke verwirrt.

«Also, Sönke, ich bin eine alte Insulanerin und habe zeit meines Lebens auf Föhr gewohnt. Und Föhr ist eine kleine Insel, was bedeutet, ich kenne alle hier.» Sie starrt an die Decke.

«Willst du wegziehen, Oma? Mach dir keine Sorgen, wir besuchen dich überall, auch wenn es am Ende der Welt ist.»

Oma runzelt erneut ihre runzlige Stirn. «Sönke, was ist bloß los mit dir?», schimpft sie.

Ich hebe abwehrend beide Hände.

«Gut, du willst nicht wegziehen, alles klar, finde ich auch besser.»

Oma schaut mich mitleidig an wie einen kranken Menschen. «Sönke, ich habe mit Kapitän Petersen geredet, und der hat mir verraten, dass deine Arche nicht anläuft.»

Die Arche? Es geht um die Arche?

«Ach, das wird schon.»

Sie lacht. «Du bist sogar in den Shantychor eingetreten, Sönke, du Heuchler, nur um Kunden zu gewinnen.»

«Wieso Heuchler?»

«Eher wird der Papst Moslem als du Shantysänger.»

Oma selbst besitzt einen etwas bizarren Musikgeschmack. Beatles rauf und runter, Simon & Garfunkel, Reinhard Mey, aber ich habe sie auch schon mal bei Freddy Quinns «Junge, komm bald wieder» heulen sehen.

Sie hebt ihre Stimme wie ein Pastor auf der Kanzel und zitiert aus dem Alten Testament: «Aber mit dir will ich meinen Bund aufrichten, und du sollst in die Arche gehen mit deinen Söhnen, mit deiner Frau und mit den Frauen deiner Söhne.»

Sie fügt hinzu: «1. Mose 6, Vers 18». Ich wusste gar nicht, dass sie so bibelfest ist.

«Noah hatte es auch einfach, der hatte Unterstützung von ganz oben.»

Oma grinst. «Die bekommst du auch, mein lieber Sönke, und zwar noch heute Abend!» Sie fuchtelt mit zwei Karten in der Luft herum. «Ich habe zwei Einladungen für die Vernissage im ‹Museum Kunst der Westküste›. Die sind von Direktor Dr. Jesper Ringstaed höchstpersönlich.»

«Woher kennst du denn den Ringstaed?»

Oma wirft den Kopf in den Nacken und lächelt stolz. «Von der Eröffnung, auf der ich Margarete von Dänemark höchstpersönlich die Hand geschüttelt habe.»

Diese Geschichte haben alle in der Familie wohl an die hundert Mal gehört. Die dänische Königin war bei der Eröffnung des Museums in Alkersum anwesend, und Oma hat ihr die Hand geschüttelt. Ein Foto gibt es davon nicht, aber drei glaubwürdige Insulaner haben es bezeugt. Oma liebt die dänischen Royals über alles. Was genau genommen einen kleinen Verrat darstellt, denn die Friesen haben jahrhundertelang gegen die dänischen Könige gekämpft, das stellt quasi einen zentralen Bestandteil ihrer Identität dar. Eines der Wahrzeichen im Föhrer Inselwappen ist der Grütztopf, mit dem die friesischen Frauen der Legende nach die dänischen Steuereintreiber vertrieben haben, indem sie vom Dach heiße Grütze geschüttet haben.

Oma gießt mir Portwein nach. «Du kommst mit, und ich stelle dich Ringstaed vor. Ich habe ihm von deinem Arche-Projekt erzählt, und er war sehr angetan.»

«Echt?»

Das klingt ja phantastisch.

Oma nimmt meine Hände und schaut mich eindringlich an. «Mensch, Sönke, der Ball liegt direkt vorm Loch. Er braucht nur einen kleinen Schubs.»

Weiß Oma wirklich, was sie da tut? Kennt sie Ringstaed wirklich, und erinnert der sich auch an sie? Ich bin da nicht sicher. Oma neigt dazu, ihre Wirkung zu überschätzen. Und falls sie sich auf der Vernissage danebenbenimmt oder einen ihrer Ausfälle hat, schadet es mir unter Umständen mehr, als es nützt. Immerhin ist sie im Nachthemd mit ihrem Haustürschlüssel in der Hand durch Wyk gelaufen! Und wie war das mit der asiatischen Tomatensoße für die morgendlichen Spaghetti? Den Bilderdiebstahl lasse ich mal ganz ausgeklammert.

Andererseits möchte ich die Museumsleute natürlich dringend auf meine Arche einladen. Eine Ausstellung mit Bildern von der Westküste wäre das kulturelle Highlight auf dem Schiff; das würde todsicher viele andere Betriebe von der Insel mitziehen.

«Sehe ich da kein dankbares Lächeln im Enkelgesicht?»

Ich habe wohl zu lange überlegt. «Danke, Oma, super!» Was soll ich nur tun?

Meine Großmutter tut das, was sie so überzeugend kann wie sonst kaum jemand in der Welt: Sie strahlt mich begeistert an. Es wird schon gut gehen.

«Gerne, mein Sönke.»

«Wann geht es los?»

«Heute Abend zur besten Sendezeit, um sechs.»

«Ich hol dich ab.»

Oder sollte ich besser doch kneifen?