10. Die schöne Tomatensoße

Das frühe Sonnenlicht wirft trapezförmige Muster mit bizarren, spitzen Winkeln auf den hellen Holzfußboden im Wohnzimmer. Maria und ich wachen ineinander verknäult auf einer Betthälfte auf, wir haben die ganze Nacht Körper an Körper beieinandergelegen, ohne dass es uns zu eng wurde. Das wollen wir nicht ändern, nur weil es hell ist.

Nach der Sonnenuntergangs-Party war es unmöglich einzuschlafen. Wir mussten leise sein, denn Jade schlief ja nebenan im Schlafzimmer. Maria hat heute Vormittag frei und will das mit mir voll auskosten. Am liebsten würden wir bis Mittag im Bett bleiben, aber wir haben ja Besuch und wollen mit Jade im Garten frühstücken. Als ich ins Bad schlurfe, kommt sie mir im Flur entgegen und hält sich brav die Hand vor den Mund, als sie herzhaft gähnt. Sie zählt wohl zu den wenigen Menschen auf dieser Welt, die morgens frischer aussehen als während des restlichen Tages. Ohne ihr Make-up und mit nassen Haaren wirkt sie überraschend klein und verletzlich, auf jeden Fall deutlich jünger als fünfzehn. Das sage ich ihr natürlich nicht.

Leider ist ein romantisches Frühstück, wie ich es mir vorstelle, nur in guten Hotels mit Zimmerservice möglich. Im wirklichen Leben muss ich mich aufs Fahrrad setzen, zum Bäcker in der Hauptstraße fahren, Brötchen holen, einen Smalltalk über das gute Wetter halten, zurückfahren, Orangen in die Presse legen, Kaffee und Eier kochen, selbst gemachte Marmelade in kleine Töpfchen füllen, Krabben aus dem Kühlschrank holen.

Maria deckt den Tisch im Garten neben der Grube, die mal ein Gartenteich werden soll. Die letzte Feuchtigkeit der Nacht hängt noch im Gras, und die ersten Insekten starten zu Erkundungsflügen im hüfthohen Gras. Die Kiefern geben einen kräftigen Duft dazu, der sich mit der salzigen Meeresluft verbindet. In der Sonne ist es schon erstaunlich warm, auf die laue Nacht scheint ein heißer Hochsommertag zu folgen.

Jade setzt sich zu uns an den gedeckten Tisch.

«Und, wie fandest du es gestern?», erkundige ich mich.

«Auf einem Friedhof hätte es mir besser gefallen», sagt sie trocken.

«Mir war es auch eine Spur zu fröhlich», frotzelt Maria, «keiner hat depressiv in der Ecke rumgehangen und gejammert.»

«Doch, ich!», protestiere ich. «Ich habe Kapitän Petersen vorgeheult, dass ich zu wenig Kunden für meine Arche habe.»

«Dass der überhaupt da war», wundert sich Maria und beißt in ein Krabbenbrötchen. «Bei der Musik. Petersen ist doch weit über sechzig.»

«Was soll Oma denn sagen?»

«Ja, Oma», singen Maria und Jade gleichzeitig in derselben Sprachmelodie und lächeln sich an.

«Petersen war meinetwegen da», erkläre ich den beiden, während ich mir die Schüssel mit Krabben von Marias Platz angele. «Er will, dass ich in den Shantychor eintrete.»

Dafür ist er extra den Weg von Wyk nach Utersum gefahren, das hat mir imponiert. Langsam werde ich nervös. Was ist, wenn das Arche-Projekt nicht klappt? Andererseits hat mir Kapitän Petersen wirklich Mut damit gemacht, dass er die Arche für eine gute Idee hält! Immerhin arbeitet er bei der Reederei, von der ich eine Autofähre für lau haben will. Für heute Nachmittag stehen noch einige hochkarätige Termine in einem großen Hotel und einer Bank auf dem Plan. Es muss mit der Arche deutlich schneller vorangehen.

«Und, machst du es?», fragt Jade.

Ich halte mein Frühstücksmesser drohend in ihre Richtung.

«Ich bin wild und chaotisch», empöre ich mich künstlich. «Sehe ich aus, als ob ich in einen Shantychor passen würde?»

Ich lege einen großen Löffel voller Krabben auf eine Ecke meines krossen, weißen Brötchens und beiße hinein. Für diese Geschmacksexplosion am Gaumen lohnt sich mindestens das halbe Leben!

«Wild und chaotisch, wie unsere Vorfahren, die Walfänger», bestätigt Jade.

«Ganz genau! Denk an Brar Riewerts, den Seefahrer, das war ein Kerl wie ich!»

«Nur hat der bestimmt keinen Soul gesungen, sondern Shantys, oder?», sagt Jade und belegt ein Brötchen mit Räucherlachs.

«Was willst du damit andeuten?»

«Dass Shantys bestens zu dir passen. Und zwar sowohl, was deine Vorfahren als auch dein Alter anbelangt.»

Maria und Jade freuen sich über meinen empörten Gesichtsausdruck.

Das Telefon klingelt.

«Ich bin nicht da», ruft Maria abwehrend.

Drinnen springt der Anrufbeantworter an. Danach melden sich gleichzeitig mein und Marias Handy. Wir lassen sie einfach klingeln.

Bis Jades Handy Alarm schlägt, das neben ihrem Teller liegt. Sie geht sofort ran und wird plötzlich so blass, als sei sie geschminkt.

«Was ist?»

«Das war Oma. Ihre Wohnung ist abgebrannt.»

 

Wir rasen zu dritt zum Sandwall, der Wyker Hauptpromenade am Strand, wo Oma in erster Reihe direkt gegenüber der Kurmuschel wohnt, mit unverbaubarem Blick aufs Meer und die Hallig Langeneß gegenüber. Normalerweise flanieren hier Gäste und Einheimische in einem nie versiegenden Strom. Nun staut sich eine große Menschentraube vor Omas Balkon. Die weiß gekleideten Musiker in der Kurmuschel gegenüber haben die Instrumente zur Seite gelegt und pausieren auf roten Ikea-Klappstühlen. Nur die etwas ältere Sängerin im weißen Minirock und weißen High Heels geht nervös am Rand der Bühne auf und ab.

Fenster und Balkontüre vor Omas Wohnung sind offen, die Männer von der freiwilligen Feuerwehr rollen gerade die Schläuche ein, und hinter der Feuerwehr steht ein Krankenwagen.

Wir rennen zu dritt das Treppenhaus hoch. Es riecht angebrannt, ansonsten sieht der Hausflur aus wie immer. Omas Wohnungstür wurde allerdings grob aufgebrochen, einige Holzsplitter liegen auf dem Boden. Das sieht gar nicht gut aus.

Wir laufen hinein: Entwarnung, Erleichterung und Tränen. Oma steht in ihrer halb ausgebrannten Küche und hält sich die Hand vor den Mund.

«Is’ nochmal gut gegangen», beruhigt Zugführer Lükki sie mit sonorer Stimme. Er singt wie Kapitän Petersen bei den Knurrhähnen einen beeindruckend vollen Bass. Lükki ist fast zwei Meter groß und arbeitet normalerweise an der Tankstelle. Mit seinen breiten, eckigen Schultern sieht er aus wie das Urbild eines starken Feuerwehrmannes.

«Oma, Oma», schreien wir durcheinander, und umarmen sie von allen Seiten.

«Was ist passiert?», frage ich Lükki.

«Imke hat den Herd angelassen und ist einkaufen gegangen. Blöderweise lagen neben dem Herd Zeitungen und eine offene Buddel Brennspiritus. Die hat dann Feuer gefangen.»

«Was wolltest du denn mit dem Brennspiritus?», will ich von Oma wissen.

Sie schaut mich verwirrt an.

«Die schöne Tomatensoße! Da waren asiatische Gewürze drin, die habe ich mir extra aus Hamburg schicken lassen.»

«Was wolltest du kochen?»

«Spaghettis, was sonst?»

«Morgens um neun?», staunt Jade.

«Warum nicht?», fragt Oma zurück.

«Die Musiker von der Kurmuschel haben den Rauch bemerkt und uns geholt», erklärt Lükki.

Ich drücke ihm fest die Hand: «Mensch, danke, Lükki, du hast eine Tragödie verhindert.»

Er winkt ab: «Dafür sind wir da.»

Oma schüttelt bekümmert den Kopf. «Ich kam gerade vom Einkaufen zurück, da waren die netten Herren von der Feuerwehr schon in der Wohnung.» Sie schaut sich in ihrer verwüsteten Küche um. «Die schöne Tomatensoße …»

Sie ist vollkommen durcheinander.

«Kann Oma weiter hier wohnen?», erkundige ich mich bei Lükki. Der braucht kein Messgerät, um das zu beurteilen. Er atmet einmal tief ein und weiß dann Bescheid: «Wenn ihr gut durchlüftet, soll das wohl gehen.»

Jade setzt sich mit Oma ins Wohnzimmer unter ihr Lieblingsbild, das einen Elefanten zeigt. Das Bild hat farblich eine leichte Rauchnote erhalten und sieht fast interessanter aus als vorher. Was man über die reichlich nachgedunkelten Tapeten eher nicht behaupten kann.

Jade legt den Arm um ihre Großmutter; die lässt ihren Kopf auf Jades Schulter sinken. Jades Haare sind immer noch nicht trocken; sie sieht erschrockener aus als Oma.

«Es dauert Tage, bis ich die Gewürze wieder habe», stöhnt Oma erneut. «Die muss ich alle neu bestellen.»

«Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist», wiederholt Jade.

Maria schaut auf die Uhr. «Soll ich den Dienst absagen?», überlegt sie laut.

«Wir kriegen das schon hin», beruhige ich sie.

Lükki wendet sich an Maria: «Wie weit seid ihr mit dem Bildklau in Alkersum?»

Der ist natürlich Thema Nummer eins auf der Insel. Sogar die Tagesschau hat kurz darüber berichtet.

«Geht voran.»

«Na, hoffentlich», brummt Lükki, «an jeder Kreuzung ’ne Kontrolle, das nervt langsam.» Dann verabschiedet er sich.

Kurz danach stürmt Regina herein; sie kommt direkt aus dem Optikerladen, wo sie arbeitet. Sie trägt wieder hautenge Jeans und ein eng anliegendes T-Shirt. Als Erstes umarmt Regina ihre Mutter.

«Ich habe es eben erst erfahren.»

Oma will nicht umarmt werden und schiebt sie weg. «Alles im Lot, mein Kind, nur die Tomatensoße ist hin, mitsamt allen Gewürzen.»

Regina schaut sich pikiert um. «Wie das hier aussieht …»

«Was meinst du?», protestiere ich.

«Siehst du das nicht, oder willst du es nicht sehen?!»

Ich schaue mich um. Gut, es liegen Zeitschriften und Bücher auf dem Fußboden, aber ein bisschen Unordnung ist doch keine Katastrophe!

Regina macht trotzdem einen Riesenaufstand: «Das geht so nicht weiter! Da muss sich sofort etwas ändern!»

Für eine perfekte Hausfrau wie sie, die jede Woche sämtliche Fenster putzt, war diese Wohnung schon vor dem Brand unbewohnbar.

«Hier lebe ich!», protestiert Oma laut.

«So geht das nicht!», widerspricht Regina.

«Und ob das so geht!», verwahrt sich Oma gegen Reginas Angriffe. «Was fällt dir eigentlich ein, so mit deiner Mutter zu reden?»

Plötzlich zittert sie leicht.

«Willst du dich hinlegen Oma?», frage ich besorgt.

«Auf gar keinen Fall. Aber eine Decke wäre gut. Sönke, im Schlafzimmerschrank …»

Ich husche über den unaufgeräumten Flur ins Schlafzimmer und suche im übervollen Kleiderschrank nach der Decke. Noch mehr als nach Rauch riecht hier alles penetrant nach der plüschigen Himbeerseife, die Oma zwischen den Sachen gelagert hat. Unter der dicken Wolldecke am Boden erfühle ich plötzlich einen kantigen Gegenstand.

Könnte das ein Bild sein? Das Bild?

Ich ziehe vorsichtig – und tatsächlich, es ist ein Goldrahmen! Ich beginne fieberhaft zu überlegen: Wenn es das «Friesische Mädchen» ist, könnte ich es anonym dem Museum zurückgeben, und alles wäre in Butter. Oder noch besser: Ich spiele es Maria zu, damit die den Fall heldenhaft lösen kann und auf Föhr bleibt.

«Was wird das, Sönke?»

Wie aus dem Nichts ist Oma hinter mir aufgetaucht.

«Hier ist die Decke …», stammle ich. «Sie riecht ein bisschen nach Rauch, ein bisschen nach Himbeere.»

Oma deutet auf das Bild. «Leg das weg!»

Ich drehe das Bild ruckartig um, bevor Oma es mir aus der Hand reißen kann. Und schaue auf eine sommerliche Ansicht in freundlichen Blautönen. Darauf ist ein weißer Strandkorb zu sehen, der mitten im Wasser steht, im Hintergrund sind der Deich voller Schafe und der Leuchtturm Olhörn vom Wyker Südstrand zu erkennen. Auf dem Strandkorb sitzt eine Möwe, daneben steht ein Tischchen mit einer Thermoskanne und einem Teepott, über allem schweben weiße Schäfchenwolken. Offensichtlich ist es das Bild, von dem Jade gesprochen hat, das Oma im Museum gemalt hat.

Schade.

Ich meine natürlich, gut so!

«Hat nichts abbekommen», stelle ich fest, einfach weil ich irgendetwas sagen will, und füge noch einmal hinzu: «Die ganze Wohnung hätte ausbrennen können.»

«Ist sie aber nicht», schimpft Oma laut, «nur die Tomatensoße!»

«Oma, beruhige dich bitte.»

«Du hast ja recht, Sönke.» Sie legt sich aufs Bett und macht die Beine lang. Ich lege die Wolldecke über sie.

«Alles klar mit dir, Imke Riewerts?»

Wenn ich sie beim vollen Namen nenne, sind wir uns besonders nahe, das hat sich über die Jahre so entwickelt.

«Müde», flüstert Oma.

Regina kommt herein: «Mama, so geht das wirklich nicht, das sieht hier aus …»

«Regina, das ist jetzt zweitrangig!», fauche ich sie an.

«Ich will doch nur helfen!», keift Regina zurück, macht kehrt und verlässt eingeschnappt die Wohnung. Ich drehe mich wieder zu Oma.

«Wir lassen dich jetzt besser in Ruhe, ja? Was ist mit der Tür? Soll ich einen Schlosser anrufen?»

«Das hat Zeit. Hier im Haus wohnen nur ehrliche Leute, und unten ist ja immer abgeschlossen.»

«Sicher?»

Oma nickt und flüstert mit geschlossenen Augen: «Es wäre alles weg gewesen. Meine Kinderfotos, meine Möbel, meine Bücher, alles. Wie hätte ich da weiter leben können? – Da wäre ich besser mit verbrannt …»

«Oma, so darfst du nicht reden», widerspricht Jade, die sich hinter uns leise ins Schlafzimmer geschlichen hat.

«Komm …», sage ich und winke sie hinaus. «Ist ja nochmal alles gut gegangen.»

 

Jade und ich gehen zum Brandherd in die Küche, wo Maria auf einem Stuhl steht und mit einem Schraubenzieher an der schwarzen Dunstabzugshaube herumstochert. Sie ist die bessere Handwerkerin von uns beiden, das muss ich neidlos zugeben.

«Alles hin», stellt sie fest.

«Der Herd auch?»

«Sowieso.»

«Oma sollte nicht mehr selber kochen, oder was meinst du?»

«Besser nicht.»

«Kann das nicht jedem mal passieren?», fragt Jade.

Maria drückt den Schraubenzieher mit aller Kraft gegen die Wandhalterung der Dunstabzugshaube.

«Um neun Uhr morgens Spaghetti kochen, Brennspiritus neben den Herd stellen und dann einkaufen gehen», sagt sie grimmig. «Das ist ein bisschen viel, findest du nicht?»

«Oma ist halt ein bisschen … exzentrisch», verteidigt sie Jade, was ich gut verstehen kann, ich bin ja auch begeistert von Oma. Aber diese Geschichte können wir nicht so einfach übergehen. Mit so etwas wird Oma gefährlich für sich selbst und andere.

«Kannst du erst mal hier bei Oma bleiben?», frage ich Jade.

«Klar.»

Plötzlich löst sich die Dunstabzugshaube mit einem Ruck. Maria springt zum Glück eine Zehntelsekunde früher vom Stuhl und lässt das Aluminiumungetüm neben sich zu Boden krachen. Unmittelbar danach fängt draußen in der Kurmuschel die ukrainische Band wieder an zu spielen: «Life is life, nana – na- nana», knödelt die Sängerin mit starkem osteuropäischem Akzent.

Maria schaut mich an. «Erinnerst du dich an die Nachthemdgeschichte? Als Oma meinte, sie hätte sich ausgeschlossen?»

Ich nicke.

«Mein Kollege hat mir eben erzählt, Oma hätte ihren Schlüsselbund in der Hand gehabt, als er sie aufgesammelt hat.»