11. Geheime Mission

Heute muss ich nicht mehr darüber spekulieren, ob der Himmel hellgrau oder graublau ist. Er ist, wie er sein sollte: kompromisslos dunkelblau bei hoch stehender Mittagssonne! Eigentlich habe ich an diesem Nachmittag meine wichtigen Arche-Termine. Doch nach dem Brand der Wohnung geht es an dieser Baustelle nicht weiter. Wir müssen jetzt erst einmal dringend wegen Oma einiges besprechen.

Als ich mich in Utersum der mächtigen Kurklinik aus den dreißiger Jahren nähere, stoße ich an der leicht erhöhten Küstenlinie als Erstes auf Dutzende rauchender Menschen in Bademänteln und Jogginghosen. Auf dem gesamten Klinikgelände herrscht Rauchverbot, nur hier nicht. Fast könnte man die Raucher als Erkennungszeichen der Klinik ansehen (was der medizinischen Leitung wohl nur bedingt gefallen würde). Immerhin hat die Verwaltung vor der letzten Baumreihe des Waldes alle zwanzig Meter einen grauen Aschenbecher aufstellen lassen. Aber da der Weg von den Gebäuden durch den Wald hierher über zehn Minuten dauert, lohnt sich das nicht für eine einzelne Zigarette. Hier rauchen alle auf Vorrat.

Regina hat mich und Arne hierherbestellt, um über Oma zu reden. Und auch wenn es für Föhrer fröhlichere Orte gibt als dieses Krankenhaus: Der Ausblick von hier aus ist wirklich grandios, schaut man doch direkt auf die gegenüberliegende Insel Amrum. Und wendet man sich nach rechts, kommt die Südspitze von Sylt in Sicht, und zwischen den Inseln funkelt und glitzert die offene Nordsee. Ein Stückchen weiter hoch stehen Arnes Strandkörbe, dort haben wir gestern das Fest gefeiert.

Neu ist der Schiffssteg mit dem frisch geweißten Holzgeländer, der im kühlen Schutz des Nadelwaldes beginnt und über die Dünen hinaus zum Meer geht. Er endet vor einer festgeschweißten Schranke, auf der ein Blechschild hängt: «Nächste Fähre um :00 Uhr», die Stundenangabe ist verwischt. Darüber prangt das vertraute Emblem des Fährmonopolisten «Wyker Dampfschiff Reederei», links und rechts stehen ein paar frisch geweißte Wartebänke.

 

Ich bin zu früh, aber das ist ganz angenehm so. Ich setze mich auf eine Bank und schließe die Augen. Es tut gut, ein bisschen Sonne mitzunehmen. Nach und nach kommen mir die Schiffsreisen meines Lebens in den Sinn: die stürmische nach Island, die mit ausgefallener Klimaanlage von Italien nach Griechenland, und die schönste, mit Arne, als er mich mit einem edlen Rennboot auf eine Sandbank mitten im Wattenmeer geschippert hat, wo wir zwei Stühle aufstellten und Bier tranken.

Kurze Zeit später höre ich Schritte, dann fällt ein Schatten auf mich. Ich öffne die Augen. Eine ältere Dame sitzt neben mir. Sie hat einen altmodischen kleinen Koffer auf dem Schoß. In ihrem steifen Kostüm scheint sie einem Kostümfilm aus den Fünfzigern entsprungen zu sein: Das strenge Fräulein Rottenmeier aus der Stadt besucht Heidi auf dem Einödhof. Ihre Augen sind hellblau, sie wirken fast durchsichtig, auf jeden Fall sind sie ungewöhnlich aufmerksam und wach.

«Warten Sie auch auf die Fähre?», erkundigt sie sich freundlich. Sie verbringt offensichtlich viel Zeit an der frischen Luft, braun gebrannt wie sie ist.

«Kann man so sagen.»

Sie nickt und schimpft sofort los: «Ich muss nach Schobüll. Die sind mit der letzten Rate so was von rückfällig, das lasse ich mir nicht mehr bieten. Jetzt fahr ich selber hin und hole mir das Geld persönlich ab.»

Fräulein Rottenmeier hält das Kreuz bemerkenswert gerade. Zusammen mit den hohen Wangenknochen wirkt ihre Haltung sehr aristokratisch und irgendwie auch schön.

«Immer nur Ärger in der Welt», bestätige ich.

Fräulein Rottenmeier nickt melancholisch. «Wem sagen Sie das, ich hätte mich nie mit den Schobüllern einlassen sollen. Immer an der Grenze der Insolvenz, aber ich habe ihnen trotzdem die 10 000 vorgeschossen.» Sie seufzt. «Wahrscheinlich war ich zu gierig, ich wollte mir das Geschäft nicht entgehen lassen.»

«Das ist menschlich», tröste ich sie, ohne auch nur zu ahnen, worum es geht.

«Ist das eine Entschuldigung?», widerspricht sie energisch. «Krieg ist auch menschlich, wenn man so will, deswegen ist er trotzdem schlecht.»

«Ich meinte nur …»

«Sie wollten nur etwas Nettes sagen, ich weiß.»

Wir blinzeln uns einvernehmlich an.

Dann erhebt sich Fräulein Rottenmeier: «Einen Tipp noch, junger Mann …»

«Bitte …»

Sie schüttelt den Kopf: «Das wird heute nichts mehr.»

«Was bitte?»

Sie senkt die Stimme und lächelt mitleidig: «Schauen Sie mal ins Watt: Extremes Niedrigwasser …»

«Ja, wir haben Ebbe.»

«Wie soll die Fähre hier anlegen können? Die kommt heute nicht mehr. Schönen Tag noch, der Herr.» Fräulein Rottenmeier verlässt den Steg mit ihrem Koffer in der Hand, den ihr ein weiß gekleideter Pfleger galant abnimmt. Positiv gedacht hatten Fräulein Rottenmeier und ich ein paar nette Minuten zusammen, wir mochten uns. Das ist mehr, als ich von vielen Menschen sagen kann …

 

Die Wahrheit ist, hier wird nie ein Schiff anlegen.

Der Steg endet am Strand, und das Wasser ist noch mindestens fünfzig Meter weg. Auf dem Gelände der Kurklinik hat man eine Station für Demenzkranke eingerichtet, zu der Fräulein Rottenmeier vermutlich gehört. Ich habe mal gelesen, dass man in vielen Kliniken Bushaltestellen aufgebaut hat, an denen sich die Patienten täglich treffen. Eine Haltestelle gibt ihrem Warten angeblich einen Sinn und beruhigt sie. Auf Föhr hat man mit dieser Anlegestelle die maritime Variante gewählt, das ist den Patienten von der Insel vertrauter.

Wenn Oma allerdings hier warten würde, wüsste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte.

Ich schließe wieder die Augen.

Bis mich erneut ein Schatten von hinten überfällt. Mein Onkel Arne. An seine Stoppelfrisur habe ich mich immer noch nicht gewöhnt, er sah so schön lächerlich aus mit der ausgedünnten Freak-Frisur, dass ich es schon wieder gut fand. Zugegeben, so wirkt er jünger. Zumal ihm sein Bruder Cord, Jades Vater, vor Wochen in seinem Frankfurter Zahnlabor schneeweiße Zähne der Farbstufe A1 verpasst hat. Diesen Weißegrad besitzen sonst nur Teenies, wenn sie Glück mit den Genen haben und ihre Zähne penibelst pflegen. Als Strandkorbvermieter ist Arne immer braun gebrannt, was ihn ziemlich attraktiv aussehen lässt (da können Hautärzte warnen, so viel sie wollen).

Arne schaut sich um, auch er war noch nie hier.

«Was ist das denn?»

Ich erkläre ihm, was es mit dem Steg auf sich hat.

Arne ist empört: «Damit wollen die schwerkranke Menschen abspeisen?»

Er klettert auf die Brüstung und kippelt darauf herum.

Jetzt betritt Regina den Steg, unsere Gastgeberin sozusagen. Sie sieht angespannt aus, als sie uns begrüßt, und trägt immer noch die hautengen Jeans und das knappe T-Shirt von heute Morgen. Ihr Mann hat mir auf Arnes Strandparty gestern besorgt zugeflüstert, dass sie ihr Traumgewicht vor allem durch Abführpillen erreicht habe, Holger befürchtet, dass sie ihre Alkoholsucht durch eine neue Abhängigkeit ersetzt hat. Regina setzt sich zu mir auf die Bank, Arne bleibt auf der Brüstung hocken.

«Die sollten die Senioren lieber auf einen Kutter packen und echte Fahrten mit ihnen machen», bollert er. «Auf die Halligen oder nach Sylt.»

«Das würde die Verwirrten nur noch mehr verwirren», weiß Regina und erneuert ihren kirschroten Lipgloss. «Die brauchen regelmäßige Abläufe.»

«Hat jemand mal die Betroffenen gefragt, wie die das finden?», schnarrt Arne.

Die beiden Geschwister sind sechzehn Jahre auseinander und haben praktisch nie zusammen gelebt. Was ihre aggressive Empfindlichkeit füreinander noch unerklärlicher macht.

«Die Reisen, die die im Kopf machen, strengen genug an.»

Arne schüttelt den Kopf. «So etwas behaupten die Pfleger doch nur, weil sie sich selber nicht bewegen wollen, Hauptsache bequem.»

«Ich habe jeden Tag im Optikerladen mit Alten zu tun», trumpft Regina auf. «Du kennst ja nur deine Surferteenies.»

Arne hört gar nicht mehr hin. «Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, wenn man alles vergisst», sinniert er leise.

«Hast du noch nie was vergessen, oder was?», sagt Regina spitz.

Arne lässt sich nicht ärgern, dafür kennt er seine Schwester einfach zu lange.

«Meistens sagt man doch, ‹das habe ich total vergessen›, wenn man sich gerade an etwas erinnert», überlegt er. «Aber wenn es richtig weg ist, dann hat man es ja nicht vergessen, es ist dann so, als ob es nie da war.»

«Mit Oma geht es so nicht mehr weiter!», sagt Regina unvermittelt.

«Nun mal langsam», mische ich mich ein. «Wir wissen nicht mal, ob sie wirklich krank ist! Es kann doch auch eine vorübergehende Schwäche sein.»

«Ich sehe, was ich sehe», ereifert sich Regina. «Der Brand! Und die Wohnung von Mama war so was von verkommen … Sie muss ins Heim, da kommen wir nicht drum herum.»

«Meine Wohnung sieht viel schlimmer aus als ihre», poltert Arne. «Muss ich deswegen auch ins Heim?»

Recht hat er.

«Wenn Oma 35 wäre, fänden so ein kleines Malheur alle normal», gebe ich zu bedenken. «Nur weil sie 76 ist, tüten wir das ganz anders ein. Das muss doch alles nichts bedeuten.»

«Genau!», pflichtet Arne mir bei.

«Das ganze Haus hätte abbrennen können», hält Regina dagegen.

«Ist es aber nicht.»

«Und wenn es beim nächsten Mal passiert? Und andere dabei umkommen? Kannst du dann noch ruhig schlafen?»

«Drama, Drama, Drama!», singe ich mit theatralischer Stimme. Aber ich weiß: Regina hat recht.

Arne ist nun ernsthaft sauer auf seine Schwester: «Solange ich lebe, kommt Mama nichts ins Heim! Du bist richtig herzlos, Regina, das muss ich dir mal sagen.»

«Nun mal langsam», bremst seine Schwester beleidigt. «Ich habe mir die Einrichtung auf dem Gelände angeschaut. Hier gibt es Wohngruppen mit zehn Leuten, die liebevoll betreut werden. Das ist besser, als man denkt.»

«Du willst sie doch nur loswerden», wirft Arne seiner Schwester vor. «Mama würde durchdrehen in so einer Gruppe!»

«Du hast echt keine Ahnung», sagt Regina. «Die Räume sind komplett im Fünfziger-Jahre-Stil eingerichtet, mit Nierentischen, Goldrandtapeten, Röhrenradios und so weiter. Das beruhigt die Patienten, weil sie innerlich in dieser Zeit leben.»

«Mama lebt aber nicht in den Fünfzigern, sondern heute, und zwar mit Laptop und allem Pipapo.»

Wie solche Heime wohl eingerichtet werden, wenn ich mal alt bin? Ikea-Möbel, Poster vom Mauerfall, C64-Computer, auf denen wir den ganzen Tag Tetris spielen? Überall liegen bunte Magische Würfel herum, die einige Spezialisten in zehn Minuten in den Urzustand zurückdrehen können, im Kassettenrecorder läuft Roxette, Billy Joel und Phil Collins?

Wahrscheinlich wird es genauso kommen. Durch so ein Ambiente werden wir unsere Rollatoren schieben, ich mag gar nicht weiter darüber nachdenken.

Arne fährt etwas herunter: «Mama geht es gut. Und wenn sie manchmal etwas vergisst, na und?»

«So warst du schon immer, Bruderherz», sagt Regina. «Kopf in den Sand, und dann wird alles besser.»

«Dein blinder Aktionismus ist auch nicht besser», keilt Arne zurück.

Ich springe zu ihm aufs Geländer. «Wir sollten auf jeden Fall die Herdregler bei ihr zu Hause abschrauben.»

«Wie soll sie dann kochen?», will Arne wissen.

«Gar nicht, wir bestellen einen Essensdienst.»

Arne schüttelt energisch den Kopf: «Darauf lässt sich Mama nie ein.»

«Der Herd ist sowieso im Eimer», erinnert uns Regina. Arne und ich schweigen.

«Also was nun?», will Regina wissen. Weder Arne noch ich mögen etwas sagen.

«Lass uns abwarten, ja?», bitte ich.

«Was soll das ändern?»

«Oma fängt sich wieder, da bin ich sicher.»

«Du bist genauso feige wie Arne», keift mich Regina an.

«Eine solche Entscheidung braucht Zeit», sage ich. «Außerdem müssen wir erst einmal mit Oma reden, sie ist ja nicht behindert oder entmündigt.»

Regina schüttelt demonstrativ den Kopf. «Mama ist viel zu stur. Sie wird nie einsehen, dass sie Hilfe braucht.»

«Ich bleibe dabei: Als Erstes müssen wir mit ihr reden!»

«Was soll übrigens die Geheimnistuerei mit Maria?», beschwert sich Arne bei Regina, «sie ist genauso Omas Enkelin wie Sönke!»

«Das geht auf mein Konto»,sage ich.

Maria habe ich von unserem Treffen nichts gesagt, und ich bitte die beiden, fürs Erste die Klappe zu halten. Dann erzähle ich ihnen von Friederikes DVD. Sie wollen es erst nicht glauben. Erst nach und nach sickert bei ihnen durch, was das für Oma, Maria und uns alle in der Familie bedeuten könnte.

«Mist», flüstert Arne heiser.

«Kannst du wohl laut sagen», sagt Regina. «Meinst du wirklich, Mama hat das Bild geklaut?»

«Oma sagt nein. Aber komisch ist das alles schon.»

«Sie muss sich stellen», fordert Regina, «freiwillig!»

«Willst du Mama in den Knast schicken?» Arne klingt jetzt richtig böse.

«Wenn sie wirklich tüdelig ist, wird sie nicht schuldig gesprochen», sage ich, aber das beruhigt Arne wenig.

«Die würden sie in eine Klapsmühle stecken», murmelt er.

«Lass uns Oma ein bisschen beobachten», versuche ich die Emotionen weiter herunterzukochen. «Vielleicht ist es ja nur eine vorübergehende Krise.»

«Und bis dahin?», fragt Arne.

«Es muss immer jemand bei ihr sein», sagt Regina.

«Wie soll das gehen?», seufzt Arne pessimistisch. «In der Saison komme ich erst abends vom Strand weg.»

«Das ist doch schon mal was», sage ich. «Dann bist du abends dran.»

Auch Regina sieht nur eine kleine Lücke in ihrem Terminplan: «Ich könnte in der Mittagspause.»

«Dann ist das eben deine Zeit.»

Regina widerspricht heftig: «Ich brauche aber meine Pause!»

Es gibt Mütter und Töchter, die sich besser verstehen als Oma und Regina, das gilt für beide Seiten. Trotzdem, so gut kenne ich Regina, wird sie am Ende zuverlässig zur Stelle sein.

«Ich muss im Augenblick Vollgas geben, damit ich finanziell über den Berg komme», erkläre ich. «Aber wenn wir alle mitmachen, schaffen wir das.»

Arne nickt: «Mama soll nicht ins Heim.»

«Was wäre denn mit Jade?», fällt mir noch ein.

Entsetzen bei Regina: «Das ist absurd! Die ist doch noch durchgeknallter als ihr Vater.»

«Nur weil sie sich anders anzieht als du?»

«Dass sie aussieht wie eine Tote – geschenkt. Aber die ist krank im Kopf.»

«Alles nur Fassade, im Grunde ist Jade eine nette Deern. Und Oma kann wirklich gut mit ihr.»

Regina springt empört von der Bank auf. «Diese Krähe macht Mama doch depressiv.»

«Du müsstest mal sehen, wie frisch Jade nach dem Aufwachen aussieht.»

«Sollte ich sie auch nur einmal lächeln sehen, glaube ich dir sofort», sagt Regina.

Ich schaue meine Tante und meinen Onkel fragend an.

«Also ja? Jade bleibt noch zehn Tage, dann sehen wir weiter.»

Arne nickt. «Falls es nicht klappt, müssen wir halt umdisponieren. Wir können Mama sowieso nur langsam beipulen, dass sie Hauspersonal bekommt.»

Keiner spricht das böse Heim-Wort noch aus.

Schade, dass Fräulein Rottenmeier nicht mehr da ist. Ich würde sie gerne mal fragen, wie sich das hier hinter dem Küstenwald für sie anfühlt.