18. Vogelkoje

Wenn ich mir mein Inneres als Land vorstelle, gibt es darin verschiedene Zonen. Einsame Strände, um mal mit dem Angenehmsten anzufangen, Seen, lebendige Wohnviertel mit Straßencafés, aber auch Gewerbeparks und Baustellen, die sämtlich mit Autobahnen, Fahrradwegen oder Trampelpfaden verbunden sind. Nicht alles schön, aber ich habe bisher immer genug Baumaterial gefunden, um das Unangenehme zu verbessern.

Von diesem Land führt ein schmaler Tunnel durch einen hohen Berg. Wenn du in diesen Tunnel gerätst, und das kann jeder und jedem passieren, schließt sich hinter dir eine massive Stahltür. Du kommst nicht mehr zurück, da kannst du rütteln, so viel du willst, du hast nur deine nackten Hände, und Stahl ist Stahl.

Auf der anderen Seite ist es gleißend hell. Von allen Seiten hörst du deinen Namen rufen und verächtliches Gelächter. Dir wird heiß, und du hast nichts zu trinken, der Durst wird unerträglich. Dein Herz reagiert mit bedrohlichen Aussetzern. Du legst dich hin und möchtest dich ausruhen, wenigstens fünf Minuten, aber das funktioniert nicht.

Alles, was du vorher von dir gedacht hast, existiert nicht mehr. Du bist dir selbst fremd.

Genau so fühlt sich Eifersucht an!

 

Diese ganzen Sonderschichten von Maria – ich Trottel habe wirklich geglaubt, es ginge um den Diebstahl im Museum! Dabei hatte mein Unterbewusstsein längst Alarm geschlagen, als Maria auf Hansens Hof ihre Hand Tobias in den Nacken legte. Das war viel zu intim für eine Frau, die es hasst, Fremde zu berühren (was sie als Polizistin häufig genug muss).

Alte Geschichten aufzuwärmen ist so einfach, wenn man sich im richtigen Moment wiedertrifft. Der Vorteil ist, man weiß noch, wie alles gut funktioniert, vielleicht sogar besser als in der Zeit, in der man zusammen war.

 

Zu blöde, dass Maria jetzt Tagdienst hat.

Mit Tobias, dem intellektuellen Supercop aus Wiesbaden.

Der alles weiß.

Der gut aussieht.

Der jedes Problem mit zwei Telefonaten löst.

Der im Fitness-Studio immer eine gute Figur macht.

In Kunstmuseen ist er natürlich auch ein Crack.

Körper und Geist in Höchstform.

Eine Ausnahmeerscheinung.

Dagegen ich: versuche mein jämmerliches Arche-Projekt auf die Beine zu stellen, im besten Fall nährt uns das ein Jahr, im schlechtesten ein halbes oder gar nicht. Natürlich bin auch ich eloquent und buffettauglich, aber Tobias hat zusätzlich noch etwas, was ich nicht besitze: Waffengewalt. Ich hingegen kämpfe alleine, ohne Pistole, kein mächtiges BKA steht hinter mir, ich bin immer abhängig von anderen. Was für ein Scheiß.

Obwohl ich andererseits froh bin, dass die Waffengesetze in Deutschland so streng sind. Wer weiß, was ich sonst tun würde in meiner Lage …

Vor fünf Tagen habe ich noch mit Maria am Hamburger Flughafen gestanden und gedacht, Jade wird eine Art Testlauf für uns. Wie leben wir mit einem Kind? In Utersum haben wir am Strand getanzt, und in den Dünen geknutscht und gedacht, für diesen Moment lohne sich alles andere! Wir haben zusammengehalten, was Omas Wohnung anbelangte, und Maria hat sich beim Würfeln prächtig mit Oma und Jade verstanden.

Was ist davon noch übrig? Ich will Maria sehen – jetzt! Sie muss vor mir stehen und es mir ins Gesicht sagen: «Tobias ist der Bessere für mich, mit dir geht es nicht.»

Sonst begreife ich es nie!

Ich möchte Maria nicht anrufen, sondern sie direkt treffen, und wenn sie gerade mit Tobias … dann weiß ich wenigstens, woran ich bin, und muss mich nicht mehr nach ihr sehnen.

Demütigend ist, dass mein Rivale meine Kleidung trägt, mein Jackett, meine Unterhose, meine Identität. Das ist durch und durch böse – von ihr und von Tobias!

 

Per Inselfunk setze ich eine Fahndung in Gang. Föhr ist 12 Kilometer lang und 6,8 Kilometer breit. In jedem Planquadrat kenne ich jemanden. Als Erstes rufe ich Omas Freund Ocke an, der mit seinem Taxi überall herumkommt. Leider hat er den dunklen BMW mit dem aufgesetzten Blaulicht in den letzten Stunden nicht gesehen. Feuerwehrchef Lükki hat Maria und Tobias zwei Stunden zuvor in Nieblum entdeckt. Der Nieblumer Bürgermeister Brodersen weiß wiederum, dass sie in seinem Amtsbezirk getankt haben und dann Richtung Alkersum gefahren sind. Voilá, die «Kunst der Westküste».

Es ist heiß, aber ich habe keine Lust, die Klimaanlage anzustellen. Lieber schwitze ich mich tot. Ich habe extreme Schwierigkeiten, mich aufs Fahren zu konzentrieren; jeder zweite entgegenkommende Wagen hupt mich an, weil mein Kurs auf der Landstraße offensichtlich etwas unklar ist. Polizisten sollten Autofahrer nicht nur auf Alkohol überprüfen, sondern auch auf Beziehungsprobleme: Hände weg vom Steuer bei Eifersucht!

Ich parke den Wagen direkt vor dem Eingang des Museums und stürme hinein. Friederike sitzt wie immer an der Kasse vor dem Museumsshop.

«Moin», keuche ich und renne an ihr vorbei.

«Sönke», ruft sie, «was passiert jetzt mit mir?»

Immerhin hat ihr Maria auf der Vernissage offiziell mit strafrechtlichen Konsequenzen gedroht. Ich kann Friederikes Sorge verstehen, aber jetzt gerade habe ich überhaupt keine Zeit. Wo sind Maria und Tobias? Das ist das Einzige, was jetzt zählt!

Im Salon renne ich an norwegischen Wasserfällen vorbei, passiere Katastrophen auf See, heitere Abendstimmungen mit Lampions am Wyker Südstrand, «Anziehung» und «Trennung» von Munch lasse ich im schmalen Raum rechts liegen.

Im kleinen Salon mit dem «Badenden Knaben» von Liebermann sind die beiden auch nicht. Also weiter durch den abgedunkelten Flur über die Lichtbrücke am Boden zu dem Gebäude mit den alten Mauerteilen. Genau hier verläuft die Grenze zwischen Geest und Marsch, die architektonisch mit einem Absatz eingearbeitet wurde. Auf der Marschseite beginnt die aktuelle Kunst. Ich renne die Treppe hinunter an einer riesigen Videoinstallation über das Meer in Scheveningen vorbei, reiße eine blaue Tür auf und befinde mich in einem Raum für Kinder, in dem alles in Blau getaucht ist, das Glas der Fensterfront, die Teppiche, Wände und Spielzeug, es gibt keine andere Farbe. An der einen Wand sind Rohre eingelassen, in die Kinder eine Flaschenpost stecken können, damit andere Kinder die mitnehmen. Ich interessiere mich vor allem für den großen Schrank an der Seite, durch den man den Spielbereich betritt.

Er ist leer.

Natürlich ist er leer. Was habe ich gedacht? Dass sie es im Kinderbereich miteinander treiben?

Ich renne zurück durch das Museum. Am Eingang treffe ich wieder auf Friederike.

«Hast du Maria gesehen?», keuche ich.

«Nein!», ruft sie, «warte …!»

Ich renne weiter. Natürlich ist es unhöflich von mir, ich bin Friederike einiges schuldig, aber das hier ist eine echte Notsituation. Erst im Wagen frage ich mich, warum ich Friederike nicht gleich am Eingang nach Maria und Tobias gefragt habe, das wäre viel schneller gegangen.

Es ist Quatsch, was ich hier veranstalte. Ich wähle Marias Nummer. Die Mailbox.

Vogelwart Markus klingelt durch, der bei den Seevögeln Tenor singt. Er hat den Polizei-BMW vor der Boldixumer Vogelkoje parken sehen, ist sich aber nicht ganz sicher. Für mich dagegen ist jetzt alles klar. In einer Vogelkoje jagt niemand Bilderdiebe. Hierher geht man nur, wenn man nicht gesehen werden will.

 

Föhr ist flach und offen, kein Berg verstellt den Blick, auch kein Bauwerk. Nur an ausgesuchten Stellen gibt es kleine bewaldete Inseln mit einer höheren Gestrüpp- und Baumdichte als im Regenwald, die Vogelkojen eben. Selbst mit einer Machete hätte man extreme Schwierigkeiten, eine Schneise hineinzuschlagen. Man kann sich vorstellen, dass in den letzten Jahrhunderten hier geheime Händel getätigt wurden und Piraten ihre Beute vergruben. Doch das ist nur eine Kinder- und Jugendbuchphantasie, die Koje ist schlicht und einfach eine Vogelfalle. Enten und Gänse sind auf ihrem Flug durch die nordfriesische Weite auf geschützte Rastplätze angewiesen. Die Vogelkojen mit ihrer dichten Vegetation erscheinen ihnen als perfekte Oasen. In der Mitte befindet sich ein offener Teich, von dem aus kleine, immer enger werdende Gräben mit Reusen abgehen, die so genannten Pfeifen. Mit Hilfe von gezähmten Lockenten wurden die Wildenten hier hineingelockt. Am Ende wartete der Kojenwart, um ihnen den Hals umzudrehen. Zehntausende Enten im Jahr sollen die Föhrer früher so gefangen haben.

 

Ich parke den Mini vor dem einzigen Eingang. Der Dienst-BMW von Tobias ist nicht zu sehen, aber das muss nichts heißen. Die Vogelkoje ist von einem Graben umgeben, den Steg haben sie hinter sich hochgezogen. Zum Glück liegt ein Stückchen weiter ein Baumstamm, über den ich hinüberbalanciere; fast rutsche ich dabei ab.

Als ich drüben bin, hält mich nichts mehr auf. Ich kämpfe mich durch extrem dichtes, dorniges Gestrüpp wie durch eine Wand. Das dichte, dornige Geäst schluckt jeden Schall. Hier ist es absolut windstill, allenfalls streicht hin und wieder ein Hauch oben über die Baumkronen. Es ist wirklich die perfekte Falle.

Mein Herz fängt an in einem eigenen Takt zu klopfen, unabhängig von meiner Bewegung, es rast, wenn ich stehe und kommt nicht hinterher, wenn ich laufe. Als ob eine fremde Macht die Regie über mich übernommen hätte. Ich bin nur noch Werkzeug.

Mein Gesicht zerkratzt an einer Dornenhecke – egal. Weiter. Wenn Maria und Tobias hier sind, werde ich sie finden!

Plötzlich klingelt mein Handy. Jade ist dran. Was will die denn? Das passt gerade überhaupt nicht!

«Moin, Jade.»

«Moin, Sönke, du musst mir helfen. Mich verfolgen ein paar Typen auf dem Friedhof, die was von mir wollen. Ich habe mich in der St.-Laurentii-Kirche versteckt.»

«Was für Typen?», frage ich erschrocken. Doch sie hat schon aufgelegt. «Ich komme», rufe ich, obwohl sie mich nicht mehr hören kann.

Ich muss jetzt so schnell wie möglich nach Süderende kommen. Als ich mich zurück zum Ausgang kämpfe, wähle ich im Laufen Marias Handynummer und spitze die Ohren, ob es in der Vogelkoje irgendwo klingelt.

Nichts.

Wahlwiederholung.

Nichts.

Warum auch? Was unterstelle ich dem liebsten Menschen in meinem Leben eigentlich? Wie wenig ist noch von mir übrig, dass ich so denke?

Der Ausgang war eine schlechte Idee, denn er ist ja geschlossen. Und der Graben ist immer noch zu breit, um ihn zu überspringen. Sehr umständlich und langsam arbeite ich mich durchs Gestrüpp zurück zu dem Baumstamm, über den ich gekommen bin, und balanciere auf die andere Seite.

Auf dem Parkplatz springe ich in den Mini und rase durch die Marsch Richtung St. Laurentii. Was ist da bloß los? Föhr ist doch nicht die South Bronx! Ich drücke das Gas voll durch, zum Glück geht es in der Marsch ja meistens geradeaus. Meistens.

Nur manchmal gibt es doch eine Kurve, und ganz plötzlich ist sie da. Ich erkenne sie viel zu spät, weil ich in der Marsch vollkommen die Orientierung verloren habe, und dann noch die Hitze …

Obwohl ich voll in die Bremsen steige, bleibt der Wagen vorbildlich in der Spur. Aber die Begegnung mit dem Viehgatter ist nicht zu verhindern. Es kracht sehr hässlich, vorne splittern die Scheinwerfer, und die Motorhaube bekommt unschöne Beulen.

Ich steige aus und hole Luft. Die Sonne brennt mir auf den Kopf, ich habe Durst. Der Mini sieht so aus, als hätte ihn die Polizei gerade aus dem Verkehr gezogen, ein Schrotthaufen. Das wäre mir egal, aber die Räder sind blockiert, weiterfahren geht nicht. Natürlich könnte ich die Polizei anrufen und zum Friedhof schicken, aber bis die aus Wyk da sind …. Ich biege mit Gewalt den rechten Kotflügel weg, damit das Rad frei kommt.

Dabei fällt die vordere Stoßstange ab.

Ich bin am Ende.

Am liebsten würde ich mich in den Wagen setzen und einfach die Augen schließen. Aber ich kann Jade unmöglich hängenlassen. Also Rückwärtsgang rein und weiter. Zum Glück fährt der Wagen wieder.