KAPITEL V
Kante statt Kant
 
 
 
 
Über den Wolken wohl darf Freiheit wirklich grenzenlos sein. Nur da. Es wäre wahrscheinlich doch sinnvoll gewesen, hätte man rechtzeitig dem ungestümen Drang nach Selbstverwirklichung ein paar Grenzen gesetzt und ein natürliches Schamgefühl gefördert und eingefordert, statt so etwas scheinbar Spießiges als Relikt bürgerlicher Konventionen zu verdammen. Hätte man Werte definiert, die unantastbar für alle, egal, in welcher Schicht sie sich bewegen, bleiben müssten, hätte man außerdem eiserne Reserven mit wirksamem Gegengift angelegt, um die Epidemie der ansteckenden Krankheit Verblödung selbst dann stoppen zu können, nachdem sie ausgebrochen war.
Denn zu viele glauben, sich alles erlauben zu können, weil alle Tabus gebrochen sind. Die Parole, deren geniale schlichte Konsequenz in ihrer Wirkung sogar Blöden einleuchten dürfte, falls jemand sie ihnen erklären würde und es dabei schafft, sie so in ihre Sprache zu übersetzen, dass sie den Sinn verstehen, ist bekanntlich der Kategorische Imperativ des Philosophen Immanuel Kant.
Demzufolge soll sich ein Mensch, egal, von welcher Geburt, und egal, zu welchem Stand erwachsen, grundsätzlich so verhalten, dass die Maxime des eigenen Handelns anderen ein Vorbild sei, in Kants Worten: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Grob vereinfacht müsste das der heutigen Zielgruppe von bestimmten Menschen etwa so erläutert werden:Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.
Klar? Na klar.
Unterschichtler wie Oberschichtler, Ungebildete und Eingebildete, deutschstämmiges und Deutsch radebrechendes Volk eint aber im Gegenteil in einem von verblödeten Massen besetzten Flachland der Kampf gegen Klasse. Jedwede Geschmacksverletzung wird dabei selbstverständlich vorausgesetzt. Wer sich in diesem Klassenkampf voll krass danebenbenimmt, kommt unter seinesgleichen gut an. Schlechtes Benehmen ist die Voraussetzung, um überhaupt mitmachen zu dürfen, denn Rücksichtslosigkeit zählt sowohl zu den Pflichten als auch zu den Rechten. Insbesondere von denen wissen die verrohten Blöden vieles, auch wenn sie sonst nicht viel wissen und sich einen Teufel scheren um möglicherweise durch sie verletzte Rechte der anderen.
Kombattanten und Schlachtenbummler aus den verschiedenen Schichten unterscheiden sich zwar im Aussehen, im Auftreten, im Anspruch, im Ambiente. Die einen geben nur aus, was sie haben, weil ihnen anderenfalls der Schuldenberater von RTL in die Tür fällt, die anderen geben an mit dem, was sie besitzen, weil sie aus sich heraus sonst nichts zu sagen haben. Die einen haben durch die von Bankräubern der Oberschicht angestoßene Weltwirtschaftskrise ihren Arbeitsplatz verloren, die anderen die Hälfte ihres Vermögens. Die einen sind noch ärmer dran, die anderen nur ein bisschen weniger reich. Alle aber, sowohl die gemeinten Prolos wie die allgemeinen Protzer, gehören zum selben, nicht nur zum gleichen gemeinen Verein. In dessen Satzung steht eingetragen als Vereinszweck: Geist ist ungeil.
Was in diesem Geiste in trauter Eintracht rülpst, rotzt, rempelt, räsoniert, ist keine randalierende jugendliche Randgruppe, die man womöglich durch gezielte Schläge auf die Hinterköpfe zur Besinnung bringen könnte. Millionen von Vereinsmitgliedern,Alte und Junge, Frauen und Männer, haben sich bereits in die Mitte der Gesellschaft gepöbelt. Kleider machen da längst keine Leute mehr. Ihr Benehmen bestimmt nicht nur ihren eigenen Alltag, was akzeptabel wäre, solange sie unter sich blieben und sich gegenseitig antäten, was immer sie wollen.
Doch man trifft ihre Vertreter flachlanddeckend überall:
Den auf Bahnsteig 7 wartenden Reisenden erster Klasse, in feines Tuch gekleidet, der einem Verkäufer der Obdachlosenzeitung nicht nur keinen »Straßenfeger« abkauft, sondern ihm zusätzlich ungefragt empfiehlt, sich eine anständige Arbeit zu suchen, statt anständig Arbeitende wie ihn zu belästigen, und anschließend laut räsoniert, man werde überall von solchem Pack angebettelt.
Das fettarschige Leggings-Mädchen, grob geschätzte sechzehn Jahre alt, das zunächst die Fahrgäste in der U-Bahn herausfordernd mustert, dann den Kaugummi aus dem Mund nimmt, an eine Haltestange klebt, noch mal kräftig Rotz hochzieht und sich zungenküssend seinem ebenfalls gepiercten Freund widmet.
Die silbern ondulierte Trenchcoat-Dame, der man den Bildung suggerierenden gespreizten kleinen Finger an der im Salon gereichten Teetasse anzusehen glaubt, bis sie diesen Eindruck von Wohlerzogenheit verblassen lässt, sich in der wartenden Schlange von Passagieren nach vorne rempelt und das nächstbeste Taxi besetzt, ohne sich um die Proteste zu kümmern.
Den jugendlichen Mitbürger mit Migrationshintergrund, Oberarme dick wie die Oberschenkel der Prinzessin aus dem Plattenbau Ost, Cindy aus Marzahn, der im Kino laut mampfend seine Tacos verzehrt, deren Geruch wenigstens den ihm eigenen überdeckt, einmal noch aus der Tiefe seines Seins einen gewaltigen Rülpser holt und, als er merkt, dass er im falschen Film sitzt, weil es einer mit Dialogen ist, »Scheiße, Alter« pöbelnd die Vorführung verlässt.
Auf solche Szenen, beispielhaft für viele selbst erlebte ähnliche Momentaufnahmen, ließe sich alttestamentarisch reagieren, Auge um Auge, Zahn um Zahn, statt sie naserümpfend als nun mal nicht mehr zu verändernde Realität hinzunehmen und sich in die geschützten Refugien und Stadtviertel der bürgerlichen Schicht zurückzuziehen. Es würde doch Spaß machen, Lustgewinn bedeuten, sich entschlossen gegen die Grenzverletzungen zu wehren, nicht etwa mit dem Flammenschwert des selbst ernannten Sittenrichters, wozu sich viele ungebeten eh berufen fühlen, sondern mit einem gemein gespitzten Florett.
Das hieße konkret, den Erstklässler verbal zu provozieren und vor anderen auf die erste Klasse Wartenden zu blamieren, indem man ihm zwei Euro anbietet, weil er sich offensichtlich die Zeitung nicht leisten könne. Das hieße konkret, kurz vor der nächsten Station der Rotztussi in der U-Bahn ihren Kaugummi in die Haare zu schmieren und dann freundlich winkend auszusteigen. Das hieße konkret, die Taxiräuberin per Handy zu fotografieren und zu behaupten, von der Fughafenverwaltung den Auftrag zu haben, eine Fotoausstellung über Verstöße gegen die Transportverordnungen vorzubereiten. Das hieße konkret, dem türkischen Rülpser zu gratulieren, weil er sich soeben als Kandidat für die neue Super-RTL-Show Boah.Ey. qualifiziert habe; Bedingung sei jedoch, dass er am nächsten Morgen pünktlich um zehn Uhr im Studio Z in der Kreuzweisestraße 4 aufschlage.
Alles nur Spiegelfechterei. Aber eine befriedigende Vorstellung von »Was wäre, wenn...«?
Schon deshalb aber zum Scheitern verurteilt, weil es zu viele Typen der geschilderten Art gibt und niemals alle getroffen werden könnten.Von den geschilderten Prototypen hochzurechnen auf ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung wäre aber dennoch unredlich.
Der Schein könnte schließlich trügen.
Er trügt aber immer seltener. Sobald ein bestimmtes Sein das Bewusstsein prägt, hat das anscheinend doch sichtbare Folgen.
An seinem rüpelhaften Benehmen in der Öffentlichkeit war einst treffsicher das Proletariat erkennbar. So schien es zumindest. Es wurde den Proleten aber gestattet, solange sie unter sich blieben und nicht störten in der bürgerlichen Welt. Sie tummelten sich eh lieber in der ihren. Sie wussten sich nicht besser zu benehmen, sie konnten gar nicht anders sein als so, wie sie waren, denn sie hatten nicht das Privileg einer guten Erziehung und einer umfassenden Bildung genießen dürfen. Sie waren also in solchen Fällen nicht schuldig. Wer von ihnen trotzdem aus eigener Kraft den Aufstieg von unten nach oben schaffte, wurde vom Volk bewundert. In der höheren Spielklasse einmal angelangt, spielten schlechte Manieren keine Rolle mehr.
Ausgehend von sichtbaren und hörbaren Manieren lässt sich heute nicht mehr sicher sagen, wer wohin gehört. Längst schon sind schlechtes Benehmen, Menschen beleidigender Umgangston und moralfreie Grobschlächtigkeit nicht mehr nur bei Proletariern typische Erkennungsmerkmale. Kante statt Kant bestimmt ebenso das Verhalten einer Oberregierungsrätin aus München, eines Sachbearbeiters aus Göttingen, eines Chefredakteur aus Köln. Ob man Klasse hat, ist unabhängig von der Klasse, in die man geboren wurde und in der man aufwuchs. Das ist auch gut so – oder wie es im deutschen Sprichwort heißt: Jeder ist seines Glückes Schmied.
Schön wär’s, schön simpel vereinfachend, ließen sich auch für die Verrohung der Sitten, die befördert worden ist durch die allgemeine Verblödung, die Blödmacher des Fernsehens verantwortlich machen. Geht leider nicht so einfach. Denn die wollen ja im Gegenteil gerade keine klassenlose Gesellschaft, sondern zielen in ihrem Bestreben, Menschen nach ihrer Art glücklich zu schmieden, auf eine ganz bestimmte Klasse, in der banale Wünsche des Alltags direkt ohne irgendeinen geistigen Überbau am Schwanz gepackt werden. Solche Wünsche werden hemmungslos von ihnen erfüllt. Siehe Super Nanny, Raus aus den Schulden, Superstar, Supermodel, Papa gesucht usw.
Würde es ein quotenmäßig relevantes Potenzial an Pöbel geben, dem Manieren beizubringen sich lohnen könnte, weil sie eine von RTL oder Sat.1 oder ProSieben oder Kabel eins erfüllbare, bisher noch verborgene Sehnsucht haben nach anständigen Umgangsformen oder auch nur weil sie wissen wollen, ob sie Pizzas und Döner mit Messer und Gabel essen und Bier auch aus Gläsern statt aus Dosen trinken können, bei welchen Anlässen sie Krawatte tragen sollen zum Trainingsanzug und wann ein Kerl von Welt der Tussi seines Herzens die Tür nicht ins Kreuz fallen lässt, sondern sie vor ihr öffnet – längst hätten die fest angestellten Blödmacher der Sender ein passendes Format mit zehn, zwölf ausgesuchten Rüpelinnen und Rüpeln gestartet, statt die wie bisher unbearbeitet toben zu lassen im Big-Brother-Container. Titel hätte lauten können »Volle Kante«, gecoacht von Nina Hagen und moderiert von Hans Meiser.
Von Sendung zu Sendung müsste sich im Sinne eines Spiels herausstellen, welche Fortschritte in Benehmen und Wortwahl erzielt worden sind, wobei die Juroren – Hera Lind, Jürgen Fliege, Achim Mentzel – unverbesserliche Rüpel nach dem Vorbild anderer Formate regelmäßig beleidigen, ausmustern und zurückschicken dürften in ihre speziellen Seichtgebiete. Die Gewinner werden beim Promi-Dinner auf VOX zu Tisch gebeten, wo sie unter Beweis stellen dürfen, was sie gelernt haben, und wo neben ihnen ebenfalls sattsam Unbekannte vor sich hin mampfen.
Falls jetzt und hier jemand auf die Idee kommen sollte, diese Idee zu verwirklichen – die Idee ist längst schon geschützt.
Verwahrlost sind nicht nur die Sitten.Verkommen ist normal menschliches Empfinden, das sich zum Beispiel im Mitleid zeigt. Kante statt Kant lautet auch das Motto für unmoralisches Verhalten im Alltag. Ein geradezu erschreckend gutes Beispiel dafür ist jener Sachbearbeiter des Sozialamts in Göttingen, der einem Bettler nicht etwa ein paar Cents in die vor dem Mann stehende Blechdose warf, aus der er als Beamter nie würde fressen müssen, sondern grob schätzte, was drin lag. Etwa sechs Euro. Am Tag drauf, auf dem Weg zur Mittagpause, prüfte er erneut, erneut ohne was von sich zu geben. Diesmal waren es von dem Groben geschätzt nur etwa 1,40 Euro. Der Sozialleistungsbeamte ging zurück in sein geheiztes Zimmer, waltete dort seines Amts, errechnete einen Durchschnittswert möglicher Tageseinnahmen des Bettelnden, denn er hatte ja nur zählen können, was bis Mittag in der Büchse lag. Mit dieser Aufgabe war er tagelang beschäftigt. Schön für ihn, hatte er doch was zu tun.
Aber warum wird diese Geschichte aus einem deutschen Alltag ausgerechnet hier erzählt? Hat doch nichts mit dem Thema zu tun, oder doch?
Doch.
Der Hochrechner im Dienst kannte den Mann nämlich als Kunden seiner Abteilung, die Göttinger Hartz IV-Empfänger zu betreuen und ihnen ihr Geld auszuzahlen hat. Beim betreffenden Bettler von der Straße beträgt die Summe 351 Euro pro Monat. Davon konnte der Mann nicht leben, deshalb setzte er sich vor einen Supermarkt und bat Einkaufende um ein paar Almosen. Die gaben ihm gerne. Nur von der Amtsperson bekam er statt Almosen ein amtliches Schreiben. In dem wurde ihm mitgeteilt, dass aufgrund von Hochrechnungen, basierend auf geschätzten Einnahmen durch Bettelei, was als Zusatzeinkommen betrachtet werde, vom Regelsatz monatlich 120 Euro abgezogen würden, also fast ein Drittel. Mit freundlichen Grüßen. Ihr Sozialamt.
Proteste ließen den Beamten kalt. So stehe es im Gesetz, und daran halte er sich als getreuer Untertan. Nach wenigen Tagen aber ließ der SPD-Bürgermeister der Stadt, moralisch unterstützt vom CDU-Sozialminister des Landes Niedersachsen, die Anordnung zurücknehmen und untersagte zukünftige ähnliche Gesetzestreue von Beamten, die sich sekundärtugendhaft für genau die Bürger halten, die ein Staat in Krisenzeiten brauche.
Bürger hielten sich zu anderen Zeiten, egal, wie schlecht es ihnen ging, was darauf zugute, in jeder Lebenslage wenigstens die Form zu wahren. Diese Haltung hatten sich viele vom Adel abgeschaut. Selbst die Blöden dieser beiden Stände, die zahlreich waren, aber wegen der den Alltag dominierenden Proleten nicht so auffielen, wussten zumindest, wo das Klavier stand, auch wenn sie nicht darauf spielen konnten.
Nachdem aber die überwältigte Mehrheit der gebildeten Deutschen, Reihen dicht geschlossen, die spießigen Kleinbürger der gemeingefährlichen Himmler-Sorte fest untergehakt, dem aus Österreich stammenden Prolo Adolf Hitler gefolgt war, was dann Millionen ihrer jüdischen Mitbürger das Leben kostete, was dann viele anständige Proleten, die beim braunen Pack nicht mitmarschieren wollten, das Leben kostete, was die dann endlich besiegten Deutschen ihre nationale Einheit kostete, hatte diese selbst ernannte Elite ihren einst selbstverständlichen Anspruch auf Führung verloren.
Selbst wenn sie für ihre Untaten, Mörder oder Schreibtischtäter, auf Erden nicht zur Verantwortung gezogen wurden und ungestraft davonkamen – irgendwann werden auch sie drankommen. Beim Jüngsten Gericht sind alle Verbrecher gleich, egal, in wessen Namen sie gemordet haben. Man müsste allerdings an eine göttliche Gerechtigkeit glauben.
Die irdische Konsequenz des politisch-moralischen Sündenfalls war zu besichtigen in der inzwischen ehemaligen DDR, wo das hehre Ziel einer gerechten Gesellschaft, in der alle Menschen gleich seien, keiner den anderen ausbeuten würde, verwirklicht werden sollte. Die Theorie hörte sich menschlich anspruchsvoll visionär an, doch die regierenden Einheitssozialisten setzten bekanntlich die Vision von einer besseren Welt in der Praxis auf diktatorische Art um. Statt gleiche Rechte für alle zu garantieren, schalteten sie rücksichtslos alle ihre Staatsbürger mit allen Mitteln gleich. Wer sich wehrte und sich auf die DDR-Verfassung berief, wo ja, theoretisch zumindest, alle Freiheiten garantiert waren, wurde mundtot gemacht.
Oder auf der Flucht erschossen.
Die Lehre von der Diktatur des Proletariats war Pflichtfach in den Schulen. Der Begriff »Diktatur« hätte den realen Zuständen im anderen deutschen Staat zwar entsprochen. So aber war das von den jede freie Wahl scheuenden Politbürokraten nicht gemeint. Diese realistische Bewertung ihrer tatsächlichen Herrschaft blieb dem Klassenfeind vorbehalten. Die Einschätzung, dass es sich beim SED-Staat um eine real existierende deutsche Diktatur handle, wurde gekontert mit den klassischen Mitteln der Gegenpropaganda, was ihnen lange Zeit nicht schwerfiel, weil in der Bundesrepublik die bürgerlichen Nationalsozialisten wenige Jahre nach der Befreiung bereits wieder zur herrschenden Klasse gehörten.
Die proletarische Elite betrachtete ihre den Menschen gerecht werdende Diktatur, die mit einer richtigen Diktatur, gar mit der untergegangenen deutschen, nichts gemein hätte (was prinzipiell richtig ist, denn die eine stand für Auschwitz, die andere für die Mauer, und die eine ist mit der anderen in ihrer mörderischen Substanz nicht vergleichbar), als einen von der Arbeiterklasse getragenen vorübergehenden Zustand, der höchstens bis zum endgültigen Sieg der Weltrevolution währen sollte. Sie gaben vor, freiwillig einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus eingeschlagen zu haben.Wenn Letzterer erst einmal gesiegt habe, also ideale Zustände auf Erden existieren würden, woran nicht zu glauben im Paradies der Arbeiter und Bauern bei Strafe verboten war, dann sollte die bis dahin notwendige Diktatur des Proletariats beendet werden.
Mit dieser Theorie von Marx und Lenin legitimierte die SED vierzig Jahre lang ihre Herrschaft, bis es das systematisch für dumm verkaufte Volk satthatte, auf die versprochenen sozialistischen Wunder zu warten, weil sichtbar war, dass die Architekten der Zukunft in Wahrheit nichts weiter waren als Ruinenbaumeister. Über Nacht jagte es sie zum Teufel. Woran erinnert dieses Wunder?
Richtig, an ein Märchen.
Sieh da, sagte einst das Kind, der Kaiser hat ja gar keine Kleider an. Der ist ja nackt.
Für das Individuum, für einen mündigen Bürger, gab es in der DDR keine Freiräume.Wer sich gegen den Anspruch der Einheitsproleten wehrte, im Besitz der Wahrheit zu sein, wurde – beruflich, privat, gesellschaftlich – rücksichtslos als Verräter an der Arbeiterklasse ausgegrenzt, aller Chancen auf eine anständige Zukunft beraubt oder weggesperrt.Was zur Folge hatte, dass bis zum Bau der Mauer 1961, womit dann alle eingesperrt wurden, rund 2,1 Millionen Bürger, die in ihrem Land als Bürger rechtlos waren, der DDR den Rücken kehrten.
Was wiederum zur Folge hat, dass es heute der Gesellschaft Ost an Bürgern fehlt, also der für eine Zivilgesellschaft nun mal notwendigen Substanz.
Im Westen, wo sich in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die Nachgeborenen endlich von ihren Nazivätern befreiten, wuchsen sie in die Gesellschaft integriert zu mündigen Bürgern heran. Als endlich doch ein Wunder geschah und die Mauer fiel, feierten zunächst alle, Ost wie West, gleichermaßen trunken vor Glück und viele betrunken vom Sekt fröhlich den Sieg der Demokratie, umarmten die Freiheit, besangen gemeinsam die ihnen leuchtenden Götterfunken. Nach abgeflautem Orgasmus und dem Vollzug der deutschen Ehepflichten – »post coitum omne animal triste!« – stellte sich bald heraus, was in den neuen Bundesländern neben vielem anderen fehlte: Bürger und eine wehrhafte Zivilgesellschaft.
Das merkten zuerst die Neonazis. Sie machten sich, angetrieben von Funktionären aus dem Westen, in demokratiefreien Zonen breit. Gewannen Zuspruch ausgerechnet im Osten, wo der Antifaschismus jahrzehntelang von Staats wegen gepredigt wurde. Gepredigt ja.Aber gespeist von niedrigen Intelligenzquotienten – doch wie man seit dem Dritten Reich weiß, schützt Bildung nicht vor geistiger Verrohung -, war der Dreck nur unter die Teppiche gekehrt worden. Man hatte nur so getan, als habe es nach dem Krieg im anderen Teil Deutschlands keine Nazis mehr gegeben. Nach der Einheit staubte es braun, als die Teppiche entfernt wurden. Gewaltbereite junge Männer atmeten den aufgewirbelten Staub ein. Und der stieg in die eh leeren Köpfe. Aus Verblödung wächst Verrohung.
Was noch kein Grund ist, pauschal ein Loblied auf die Bürger West anzustimmen.Viele dort fordern ihre Rechte als freier Bürger nicht nur ein, wenn es gilt, einer in autoritäre Verhaltensmuster zurückfallenden Obrigkeit die Kante zu zeigen. Protestieren nicht nur dann, wenn es dringend geboten ist, sich lautstark zu wehren gegen Versuche einer Regierung, dem Leviathan Staat zu viel Futter zu geben.
Nein, viele pochen auch im normalen demokratischen Alltag auf ihre nun wirklich nicht in der Verfassung verankerten Grundrechte. Beispielsweise auf ihre Rechte als Autofahrer. Die populäre Parole gegen die Forderung nach Geschwindigkeitsbegrenzungen auf westdeutschen Autobahnen lautete einst: »Freie Fahrt für freie Bürger!« Dieser Forderung schloss sich der motorisierte Pöbel an. Die Politiker gaben der großen Koalition nach. So herrscht auf den Straßen nach wie vor das Recht der Stärkeren. Die fühlen sich stärker denn je.
Das Recht auf Selbstbestimmung beinhaltet zwar nicht, selbst zu bestimmen, was Recht ist und was nicht.Aber auch auf Straßen in der ehemaligen DDR, saniert mit Milliardenaufwand im Aufbau Ost, wird das Recht auf freie Fahrt rücksichtslos erfahren.
Beispiele?
Aber gern.
Abgeleitet von ihren offenbar höchstpersönlich selbst bestimmten Rechten als bessere Hälfte von Besserverdienenden, die es sich finanziell leisten können, mit spritschluckenden Off-Roadern die Dschungel der Großstädte zu durchqueren, was gleichzeitig den Mitbürgern ihre herausgehobene Stellung beweist, parken freie Bürgerinnen ihre blechernen Dinos vor Kindergärten, in denen sie ihre lieben Kleinen abgeben, liebend gern in der zweiten Reihe. Das bezeichnen sie auf höfliche Nachfrage als ihre ureigenen Mütterrechte. Nur widerwillig unterbrechen sie dabei die Gespräche mit anderen Müttern, die hinter und vor ihnen auf gleiche Art ihre Autos abgestellt haben. Der Hinweis, dass sie den Verkehr aufhalten, in dem es gewisse Regeln gebe, und dass die für alle Autofahrer gelten würden, ohne Ansehen des Einkommens, werden in der Regel mit der Bemerkung gekontert, man sehe doch, dass sie als Mütter Wichtiges zu besprechen hätten, und außerdem hätten sie ja voller Rücksicht die Warnblinklampen eingeschaltet.
Dies ist jetzt keine frauenfeindliche Beschreibung alltäglicher Rücksichtslosigkeiten, denn auch bessergestellte Männer parken ihre Autos in gleicher Manier beim Bäckerladen, beim Zeitungsladen. Sie reden sich nicht heraus auf ihre Menschenrechte, wie es die Mütter tun, sondern kontern das Hupen von Geschlechtsgenossen, die nicht aus ihrer Parkbucht herausfahren können, prollig mit einem klassischen Satz des Pöbels: »Die paar Minuten werden Sie wohl warten können, Sie Nervsack.«
Und wo bleibt die Polizei, um Respekt vor Gesetzen einzufordern? Die muss sich zu oft selbst ihrer eigenen Haut wehren. Seit 1998 sind in Deutschland die Übergriffe gegen Polizisten um 20 Prozent gestiegen. Wobei auch Schubsen in dieser Statistik als Übergriff gilt. Geschah es früher noch öfters, dass sich eine angespannte Lage automatisch beruhigte, sobald Uniformierte nur auftauchten am Rande eines zur Schlacht bereiten Haufens, genügt heute immer häufiger bereits ein einziger Funke, um Auseinandersetzungen loszutreten. Das mit dem Funken ist wörtlich zu verstehen. Der Respekt vor seinen Beamten, klagt der Chef der Bundespolizei, Matthias Seeger, sei zwar ganz allgemein gesunken, allerdings besonders auffällig bei jugendlichen Migranten. Schon die Aufforderung an die, eine Zigarette zu löschen und die Funken auszutreten, führe zur Gewalt.
Dass es nach Fußballspielen zwischen verfeindeten Hooligans zu Straßenschlachten kommt, dass bei den erlaubten Aufmärschen von Rechtsradikalen oder Linksautonomen das in der Verfassung festgelegte Grundrecht auf Demonstrationen mit Füßen getreten wird, dass immer mehr Polizisten bei solchen Einsätzen verletzt werden, ist so alltäglich wie das tägliche Auftreten der kleinen Monsterrüpel in Grundschulen.
Dass aber Polizisten gezielt von Jugendlichen in einen Hinterhalt gelockt werden, um sie dort totzuschlagen, einfach nur so, weil Gewalt nun mal geil sei, ist als Kräftemessen mit dem Staat eine neue Dimension der Gewalt. Die entsprechenden Täter wurden gefasst, weil sie blöd genug waren – in dem Fall half ihre Blödheit bei den Ermittlungen -, auf der Flucht ein Handy zu verlieren.
Konrad Freiberg, Bundesvorsitzender der Polizeigewerkschaft (GdP), nennt als Ursachen für die steigende Gewaltbereitschaft »gescheiterte Integration, vernachlässigte Erziehung, berufliche Perspektivlosigkeit« und fordert die Politik auf, nicht nur immer wieder die Wirkungen solchen Versagens zu diskutieren, sondern endlich dem Übel an die Wurzel zu gehen. Über die notwendigen Maßnahmen müssten sich alle Parteien Gedanken machen. Es sei höchste Zeit. Sein Kollege Rainer Wendt von der anderen deutschen Polizeigewerkschaft (DPoIG) sieht Polizisten als Leidtragende der sozialen Verwahrlosung. Die Täter greifen sich Uniformierte als Sündenböcke, weil sie »Politiker nicht erreichen können. In Berlin oder im Duisburger Norden gibt es Stadtteile, in denen sich die Kollegen kaum noch trauen, ein Auto anzuhalten, weil sie wissen, dass sie dann 40 oder 50 Mann an der Backe haben«, klagte er in einem Interview mit »Spiegel Online«.
Während für wandernde Kröten und ähnliche Kriechlinge unter großem Aufwand entweder deren Leben rettende Tunnels unter viel befahrenen Straßen gebaut werden oder für aufrecht rennende Säugetiere Brücken über Autobahnen, auf denen freie Bürger ihr Grundrecht auf rasend freie Fahrten blinkend ertrotzen, bleibt für alte Menschen nur die Flucht nach vorne. Falls sie dabei unter die Räder kommen, ist das eben Schicksal. Aber nicht gar so schlimm, weil sie sowieso nicht mehr so viel Leben übrig haben. Ampeln an den Fußgängerüberwegen sind oft so geschaltet, dass nur austrainierte Jungdeutsche es über die Straße schaffen, bevor das Signal wieder aufs rote Männchen (Ost) oder die pure Farbe Rot (West) springt. Wären die Verantwortlichen vom Straßenbauamt – oder wie immer die zuständige Behörde heißen mag – im Alter der gehetzten Alten, würden sie selbst mal erleben, wie lange man braucht, um die andere Straßenseite zu erreichen, wäre das Problem längst gelöst. Einfach nur ein anderer Rhythmus in der Ampelanlage programmiert. Aber auch sie sind zunächst und in erster Linie – na was denn wohl? – Autofahrer, und die treten zu gern aufs Gas, sobald ihre Ampel Grün zeigt.
Es gibt zu viele Prolos auch unter Taxifahrern. Nicht nur, dass sie auf ihren selbst bestimmten Rechten bestehen, weil sie nicht verwechselt werden wollen mit normalen Autofahrern, die sie für dahinschleichende Arschlöcher halten, die ihnen durch regelgerechtes Fahrverhalten den Broterwerb erschweren. Die Drotschkisten in Berlin verlieren sogar »offenbar sofort ihre Lizenz«, schrieb der Kolumnist Klaus Kocks in der »Frankfurter Rundschau«, falls an ihnen Anzeichen von Umgangsformen oder auch nur Freundlichkeit festgestellt würden.Wenn sie zum Beispiel Müttern mit Kindern helfen oder einer alten Dame behilflich sein würden, das schwere Gepäck in den Kofferraum zu wuchten. Immerhin sind sie ja bereit, per Automatik von ihrem Sitz aus den Kofferraumdeckel zu öffnen.
Von den verallgemeinernden Beispielen zum Besonderen. Um den Trend weg von Kant, wonach das eigene Handeln stets anderen als Vorbild dienen sollte, hin zur Kante, wonach man rücksichtslos gegen andere handeln darf, belegen zu können, braucht es keine Trendforscher. Jene Scharlatane des Unbelegbaren, die auf ihre Art viele Jahre lang bei blöden Gläubigen mit ihren in des Kaisers neue Kleider gehüllten Zukunftsprognosen – Horx, was kommt von draußen rein? – erfolgreich waren, haben seit Ausbruch der großen Krise ihre Zukunft hinter sich.Was sie auf Symposien, in Büchern, bei Kongressen erzählt und mit allerlei Fremdwörtern untermauert haben, ist im Wahrheitsgehalt vergleichbar mit dem, was einst in der DDR an Parolen bei den verordneten jährlichen Aufläufen zu lesen war.
Kante statt Kant ist nicht nur typisch für die Unterschicht, weil dort in Ermangelung von Sprachgewalt die Auseinandersetzungen mit rücksichtsloser Gewalt entschieden werden. So aggressiv geht es auch in besseren Kreisen zu. Der Fahrer eines teuren Jaguars, einer Automarke, die beim Prekariat selten anzutreffen ist, gehört ja eher zur Oberschicht.
Zum Beispiel der hier:
In der Nacht zum 26. Januar 2008 war der 29-jährige Dzevad Johic in einem Hamburger Vorort mit seinem Fahrrad unterwegs zu seinem Arbeitsplatz. Er musste so früh am Morgen anfangen, um pünktlich in Kaltenkirchen zu sein, denn Johic arbeitete als Lokführer einer privaten Bahngesellschaft, die in Schleswig-Holstein verkehrt. Er kam nie in Kaltenkirchen an. Ein betrunkener Autofahrer rammte ihn. Johic lebte nach dem Zusammenprall noch, wie die Gerichtsmediziner später feststellen, er lag zwar verblutend auf der Straße, aber er hätte noch gerettet werden können.
Doch weil der Unfallverursacher, wie das im Juristendeutsch heißt, seinen drei Tonnen schweren Wagen ein paar hundert Meter nach dem Zusammenprall wendete und das Opfer noch einmal überrollte, hatte dieses keine Chance zu überleben. Johic starb auf der Straße. Der Jaguar-Fahrer floh, aber er wurde bei seiner Flucht beobachtet, sein Nummernschild notiert. Kurze Zeit später hatte ihn deshalb die Polizei ermittelt und nahm ihn im Haus seiner Mutter fest.
Zum Zeitpunkt des Unfalls hatte Christian L. mindestens 1,11 Promille Alkohol im Blut. Auch das konnte bewiesen werden. Wie die Beamten nach dem Verhör in einem Protokoll notierten, zeigte er nicht nur keine Reue, sondern verhöhnte sein Opfer. Der sei doch ein fetter Kerl gewesen, der hätte das doch vertragen müssen, von ihm angefahren zu werden, außerdem zahle er stolze 600 Euro Versicherung pro Jahr, dafür dürfe er doch wohl mal einen überfahren. Ärgerlich sei nur, dass bei einem Unfall mit einem Erwachsenen das Auto beschädigt werde. Besser sei es, ein Kind zu überfahren, weil da an seinem Jaguar kaum Schäden blieben. Es spricht für die Moral der Vernehmungsbeamten und ihre gute Ausbildung, dass sie nach diesen Aussagen nicht spontan auf eine Art und Weise geantwortet haben, die selbstverständlich verboten ist, aber seiner Aussage durchaus angemessen gewesen wäre. Ein Richter immerhin, der Herrn L. zu drei Jahren Haft wegen fahrlässiger Tötung,Trunkenheitsfahrt und Unfallflucht verurteilte, rügte das »menschenverachtende Verhalten des Angeklagten«, aber da es keine Paragraphen gibt, die Menschenverachtung unter Strafe stellen, blieb es bei der Rüge.
Rücksichtsloses Verhalten ist alltäglich. Handy-Terroristen laufen frei herum. Sie nerven im Restaurant, sie labern laut in überfüllten Zügen, sie belästigen ihre Mitmenschen am Strand, in den Bergen, und auch bei Trauerfeiern ertönt die Aufforderung an Carmens Torero, in die Schlacht zu ziehen. Sie sind von einem unstillbaren Mitteilungsbedürfnis befallen, sobald sie die heimische Höhle, ihre Wohnung, verlassen haben.Wer nicht dauernd erreichbar ist, auch wenn ihn niemand erreichen will, ist so gut wie tot.
Aus dieser unüberhörbaren Tatsache ließe sich doch Kapital schlagen. In der Krise liegen auch unerhörte Chancen. Beispielsweise wäre es eine einmalige Gelegenheit für die Deutsche Bahn, erneut das Konzernergebnis zu verbessern und parallel imagefördernde Eigenwerbung zu machen. Dafür müsste sie diesmal weder E-Mails löschen noch Daten vergleichen noch Journalisten ausspähen lassen. Alles wäre ganz legal. Dass eine gute Tat sich sofort niederschlägt in guten Zahlen, ist sonst eher selten. Hier genügt eine einfache Anordnung – E-Mail reicht -, die so wirksam wäre wie die gute Idee, zu einem bestimmten Datum 2008 über Nacht alle deutschen Züge in Nichtraucherzonen umzuwandeln, indem man schlicht das Rauchen in denen untersagte. Punkt.
Und was wäre die simpel gute Idee, auf die nicht mal der ehemalige Bahnchef Hartmut Mehdorn gekommen war, der eigentlich alles wusste und vor allem immer besser als alle anderen?
Hier die Idee. Kostenlos! Zeitlos! Konkurrenzlos!
Vor wenigen Jahren verkehrte zwischen den Metropolen Hamburg und Köln ein besonderer Zug, der Metropolitan. Dass er für die Fahrt nicht so lange brauchte wie andere Züge auf dieser Strecke, weil er bis auf einen Halt in Essen haltlos durchs Land raste, war nicht das Besondere an ihm. Auch nicht besonders erwähnenswert das an den reservierten Platz gereichte Mahl. Nein, wesentlich war, dass es im Metropolitan Oasen der Ruhe gab, weil in den Silent Cars genannten Waggons keine Handys benutzt werden durften, keine Laptops, keine Musicplayer. Seliges Schnarchen bis zu einer gewissen Dezibelstärke war gestattet.Weil himmlische Ruhe herrschte, weil man verschont blieb von den lauten Laberern aus der Oberschicht und aus Führungsetagen, und nicht etwa, um Zeit zu sparen, wählten viele Mitbürger diesen Zug, in dem die Ruhe erste Bürgerpflicht war. Irgendwann nahm die Bahn diesen Service von den Gleisen und strich ihn aus ihren Plänen. Der Luxus Ruhe lohnte sich angeblich nicht mehr, machte sich nicht bezahlt.
Eine Fehlentscheidung.
Allerdings reparabel.
Denn die Marktlücke namens Ruhe bitte! ist inzwischen größer, als sie es je war, weil die zuginternen Lärmpegel dramatisch gestiegen sind. Man könnte die Lücke füllen mit drei, vier Waggons auf den meistbefahrenen Strecken zwischen Frankfurt und Köln, Frankfurt und Hamburg und vor allem zwischen Hamburg und Berlin, wo sich die meisten Sprachmaschinisten sammeln. Was offenbar daran liegt, dass sich alle für wichtig halten, die unterwegs sind in die Hauptstadt, und dies hörbar für alle auch kundtun wollen. Die Fahrt von und nach Berlin ist auch deshalb bei Journalisten so beliebt. Sie bekommen so viele Neuigkeiten und Intrigen mit, ohne sich für eine separate Eigenrecherche bewegen oder anstrengen zu müssen.
Nach Testläufen folge die flächendeckende Markteinführung mit zwei, drei Silent Cars pro ICE, bis es irgendwann zu bestimmten Stoßzeiten ganze Silent Trains geben würde. Der nötige Aufpreis wird von Ruhebedürftigen stillschweigend bezahlt. Verletzungen der Stille durch Ruhestörer, die per Handy unbedingt ihrer Gattin glauben mitteilen zu müssen, dass sie an Bahnsteig 7 einen Verkäufer von Obdachlosenzeitungen gefaltet hätten, würden stillschweigend unter uns geregelt. Zusätzliches Personal ist nicht erforderlich. Immerhin wird bereits getestet, ob Ruhe wieder ankommt bei den Fahrgästen. So geschehen unlängst überraschend zwischen Hamburg und Stuttgart. An den Türen eines Waggons stand unübersehbar Ruhezone. Das Angebot wurde angenommen. Bald waren alle Plätze besetzt. Es folgte eine entspannend ruhige Fahrt durchs weite Land, und selig schnarchten die sonst vom Lärm Verfolgten.
Gegen Rücksichtslosigkeit könnte wohl besser rücksichtsloses Vorgehen helfen, und zwar bereits zu einem frühen Zeitpunkt, bevor aus der hemmungslosen Verblödung der Gesellschaft alltägliche Verrohung wächst. Der kategorische Imperativ hilft eher weniger. Den muss man erst einmal vergessen. Macht man sich aber nicht gemein mit gemeinen Rüpeln, falls man ihnen mit harter Kante begegnet, statt sie Kant zu lehren?
Macht man. In der Tat.
Deshalb ist diese Alternative, so befriedigend sie auch wäre, nicht erlaubt. Stattdessen müssen die Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die jetzt schon per Gesetz geboten werden. Eine wehrhafte Demokratie hat nicht nur ein Recht, sondern die Pflicht, ihre friedlichen Bürger davor zu schützen, von unfriedlichen Prolos angepöbelt und belästigt zu werden.
Der Staat darf Flagge zeigen, wann immer er es für nötig hält. Falls seine Repräsentanten im Falle eines Falles wie dem des Massakers von Winnenden Rücksicht nehmen auf wort- und vor allem schussgewaltige Lobbyisten, weil Schützenbünde und -vereine ein gewaltiges Potenzial an Wählern mobilisieren können, sobald ihnen der Gesetzgeber an die gelagerten scharfen Waffen gehen will – geschätzt in privaten Haushalten rund acht Millionen! -, nennt man das Feigheit vor dem Feinde. Damit machen sie sich mitschuldig am nächsten Amoklauf. Sie sollten sich deshalb überlegen, was sie tun, und schnell entscheiden.
Sonst werden es ihnen viele heimzahlen und zurückschießen. Gewaltfrei selbstverständlich. Mit der Waffe eines Wählers.
Dem Kreuz.