KAPITEL II
»Ich bin ein Depp, lasst mich hier rein!«
 
 
 
 
Gegen die herrschenden Spießer und Spaßmacher, Blödmacher und Banausen in die entscheidende Schlacht zu ziehen – ach, wäre das schön! Ach, wäre das unterhaltsam! Ach, wäre das spannend! Motiviert durch beispiellos freche Ideen, bewaffnet mit grenzenloser Fantasie, ausgebildet von abtrünnig gewordenen Blödmachern ließen sich die Blöden besiegen.
Die verdeckt operierenden Spezialkommandos von »Enduring Wisdom« müssten sich der Mittel des Gegners bedienen, ohne Bedenken ihre Taktik kopieren und dürften – insbesondere aus moralischen Gründen – keinen der schmutzigen Tricks scheuen, mit denen die von der anderen Straßenseite arbeiten. Bis zu einer Entscheidung, die jedoch erst am Ende des Buches fallen wird, müssen die feindlichen Heere mit verbalen Gemeinheiten attackiert und, sooft es nur machbar ist, mit überraschenden Ein- und Ausfällen konfrontiert werden.
Am einfachsten wäre es, ihnen eines ihrer populären Formate zu klauen und listig mit anderen Inhalten zu füllen.
Geht das?
Und ob das geht.
So zum Beispiel:
Deutsche ab sechs Jahren werden nach diesem notwendigerweise in strikter Geheimhaltung entwickelten Plan X aufgerufen, während eines live übertragenen Fernsehevents aus der Schar der ihnen bekannten Blödmacherinnen und Blödmacher eine Königin oder einen König zu wählen. Mittels Teledialog (TED) soll das gesamte Volk telefonisch einen Superstar unter all denen küren, die ansonsten in ihren als Show getarnten Seichtgebietsvergnügen selbst nach einem Superstar suchen lassen. In Deutschland lebende Ausländer dürfen, falls sie ein Handy bedienen können – aber das können die meisten, bevor sie zu lesen gelernt haben -, bei der Wahl mitmachen. Deutschkenntnisse sind nicht erforderlich. Die werden bei gebürtigen Deutschen ja auch nie hinterfragt. Jede abgegebene Stimme zählt. Damit dabei möglichst viele aus der Zielgruppe derer mitspielen, die sich dumm und dämlich lachen, wenn sie mal wieder nicht merken, dass sie für dumm verkauft werden, müsste als Sponsor ihr Zentralorgan gewonnen werden, die »Bild«-Zeitung.
Schon wären zwei Essentials aus dem skizzierten Strategiepapier verwirklicht – ohne moralische Bedenken ein Erfolgsformat kopieren und ohne Scham den stärksten Verbündeten wählen. Geistiger Diebstahl als Vorwurf kann mit der Bitte gekontert werden, in dem Zusammenhang doch gefälligst mal das Wort »geistig« zu definieren.
Das Spiel wäre ein Spiel ohne Grenzen, weil der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind. Die unterscheidet sich von der Realität unter anderem dadurch, dass mit ihr Seit’ an Seit’ auf der Welt alles möglich ist. Es soll zwischen Himmel und Erde bekanntlich mehr geben, als Schulweisheit sich träumen lässt. In diesem Zwischenreich siedeln die Erfinder des Unvorstellbaren ihre ultimative Show an, verankern sie aber aus taktischen Gründen Richtung Erde in den unterirdischen Wünschen des Publikums und lassen sich trotzdem nach oben gleichzeitig alle Möglichkeiten offen.
Übertragen wird das nicht, wie es im realen Fernsehalltag Sitte ist, als übliche Freakshow von RTL oder Sat.1 oder ProSieben, den für Ausscheidungen zuständigen Kanälen der Unterschicht. Sondern als Themenabend, der ohne Beispiel ist in der Geschichte des seriösen Fernsehens, von Arte oder als Kulturzeit in 3sat, die in diesem einmaligen Fall in gelassener Selbstironie der Macher als »Kultzeit Extra« angekündigt würde.
Wer den gewaltigen Unterschied zwischen Kultur und Kult kennt, freut sich auf seinem gehobenen Niveau, wer ihn nicht kennt, versäumt auf seiner Ebene auch nichts. Denn der Begriff des Kults, der eigentlich die unsterblichen Mythen der Kultur umfasst und zutrifft auf Legenden wie Jim Morrison, James Dean, Jimi Hendrix, Jerome D. Salinger, Marilyn Monroe, Greta Garbo etc., ist über Jahre systematisch entseelt worden durch sprachlose Dummschwätzer, weltweit werktätige Leichenschänder, die sich inzwischen in allen Medien herumtreiben. Hier geht es zwar vorrangig um deutschsprachige Deppen, um heimisches Leergut, doch im globalen Netzwerk lässt sich jede Dummheit innerhalb weniger Sekunden online in alle leeren Köpfe pflanzen.
Prominente Nullnummern werden von Gossenguys und -girls in bunten Blättern oder TV-Magazinen schon in dem Moment als »kultig« bezeichnet, wenn sie bei ihren Auftritten von pubertierenden Kreischkindern bedrängt oder auf Jahrmärkten der Eitelkeiten umschwärmt werden, obwohl sie eigentlich nichts weiter können, als zu massieren, zu frisieren, zu frittieren. Es gab Zeiten, da hätte man ihnen nicht nur geraten, sondern befohlen, uns mit ihren Dummheiten zu verschonen und sich auf- oder untereinander zu vergnügen – aber das ist lange her.
Solche Pauschalurteile sind verlockend wie Pauschalreisen. Der Verzicht auf Originalität macht beide billiger. Pauschal urteilend schreibt es sich deshalb leichter. Doch ist es wirklich besonders originell, die Frage zu stellen, wie viel Dummheit eine Gesellschaft verträgt, ohne dass die demokratische Kultur in Gefahr gerät? Wer sie so pauschal stellt, gilt fast als Philosoph, zumindest als Leser von Peter Hahne, und gehört zu den nicht ganz so Blöden. Die in diesem Zusammenhang rein zufällig passende Metapher des unvergessenen Heinz Erhardt, wonach viele deshalb einen Kopf besitzen, damit sie ihr Stroh nicht mit beiden Händen tragen müssen, beweist nur, dass Verblödung kein neues Phänomen ist. Früher waren nicht schon automatisch alle besser, weil alles besser war oder die Klugen klüger oder die Blöden nicht gar so blöd.
Man könnte tatsächlich recht haben mit der Vermutung, dass es damals in der Gesellschaft kaum weniger Blöde gab als heute. Die fielen nicht weiter auf. Jedes Dorf hatte seine eigenen Trottel. Die vom Nachbardorf lernte man nie kennen.
Eine Massenbewegung, vernetzt durch eigens für sie produzierte Zeitungen, Zeitschriften und TV-Programme, sind die als Individuen unauffälligen und ungefährlichen Seichtmatrosen erst seit dem Start des privaten Fernsehens, der Stunde null im Jahre 1984. Auf Kiel gelegt wurden die Kommerzdampfer von Politikern, die sich von einer ihnen dankbaren Masse massenhaften Zuspruch für ihre Partei versprachen, die zufällig CDU hieß. Gesteuert wurden die fröhlichen Wellenbrecher von ausgebufften Blödmachern, die sich als Pioniere fühlten.
Wichtiger als irgendwelche Inhalte war ihnen von Anfang an, für die angebaggerte Masse Blödköpfchen zu zeugen und die populär zu machen. Profis wie sie wussten, dass jedes Rudel einen Leitwolf braucht, jede Gruppe einen Führer und viele Gruppen entsprechend viele Helden. Bis dahin hatten die Blöden keinen Überblick darüber, wie viele sie waren. Sie ließen höchstens im engsten Freundes- und Familienkreis die ihnen vertraute dumme Sau raus. Erst an dem Tag, an dem sie eine für die Werbung relevante Zielgruppe wurden, begann ihr Aufstieg. Seichtes gibt es inzwischen für jedes Alter. Die Jungen treffen sich bei Castings oder bei Übertragungen der für sie produzierten Freakshows, ihre Eltern und Großeltern, die Alten, bei Festen der Volksmusik.
Zurück zum Geheimplan.
Die Lieblinge der Unterschicht ausgerechnet auf den Sendern der geistigen Oberschicht, Arte und 3sat, gegeneinander kämpfen zu lassen wäre schon deshalb unter strategischen Gesichtspunkten betrachtet ein genialer Einfall, weil die Grundbedingungen für spannende Unterhaltung erfüllt sind – durch Verfremdung mit genau den Inhalten zu überraschen, die allen wohlvertraut scheinen.
In dem Fall sind Arte und 3sat das fremde Terrain, das die aus RTL und Sat.1 und ProSieben und VOX und Kabel eins bekannten Helden der Unterschicht betreten müssten. Millionen von Deutschen würden, um ihre Lieblinge live zu erleben, zwei Sender einschalten, von deren Existenz sie bisher nichts ahnten; es würde deswegen überraschend Kulturgut auf Leergut prallen. Und alle Stammkunden von Arte und 3 sat, die sich als was Besseres dünken, die nie gesehen haben, wie spielend es in sich geschlossenen Anstalten gelingt, mit talentlosen Trotteln und tapsenden Vollidioten, mit kultigen Knallchargen und furchtlosen Zotenlümmeln traumhafte Einschaltquoten zu erzielen, würden durch diese Show auf ihren Heimatsendern erschaudernd die »Wonnen des Trivialen« (Medienforscher Norbert Bolz) erfahren. Über die haben sie bislang, eigenen Angaben zufolge bei jeder Zeile von Ekeln geschüttelt, allenfalls in den Feuilletons der Gebildeten gelesen.
Der Begriff »Massenkultur« bekäme in einer solchen Show eine ganz andere Bedeutung, denn Anspruch und Amüsement sind bekanntlich selten miteinander kompatibel. Es ist also ein Experiment.Wird es gelingen, die simplen Vergnügungen der Massen dadurch kulturell wertvoller zu gestalten, dass ihre Stars auf einem ganz anderen Feld auflaufen? Werden die Blöden trotz ihrer Blödheit die böse Absicht merken? Die fantasiereiche Taktik durchschauen, ihre Lieblinge lächerlich zu machen? Sie bloßzustellen und nackt vorzuführen?
Bestimmt hätten 3sat und der deutsch-französische Kulturkanal Arte einen in ihrer von hohem Anspruch statt von hohen Quoten geprägten Geschichte noch nie erreichten und bestimmt nie wieder erreichbaren Marktanteil in der sonst den anderen Sendern hörigen Zielgruppe zwischen erster Zahnspange und erstem Zungenkuss. Und eventuell bliebe was hängen bei denen. Zum Beispiel ein noch zaghafter, aber zu Hoffnungen doch berechtigender Gedanke, diese Sender auch dann mal auszuwählen, wenn es nichts zu gewinnen gibt außer Erkenntnis.
Der harte Kern der Fernsehsüchtigen lebt im Osten Deutschlands. Nicht nur bei den dortigen Jugendlichen wird mehr geglotzt als unter Gleichaltrigen im Westen. Die Ostdeutschen triumphieren in allen untersuchten Altersgruppen, von den Dreijährigen bis zu denen über siebzig. Liegt es daran, dass die Arbeitslosigkeit nach wie vor trotz aller Aufbauhilfen Ost doppelt so hoch ist wie die im Westen, also mehr Zeit totgeschlagen werden muss, und dies nun mal am besten, und winters sowieso, vor dem Fernseher geschieht? Wie ist der diesbezügliche Vorsprung der Kleinen Ost vor den Kleinen West erklärbar? Hat der von ARD und ZDF gemeinsam betriebene Kinderkanal KiKa etwa deshalb einen sich in Quoten niederschlagenden Heimvorteil, weil die Verantwortlichen in Erfurt sitzen? Oder lassen Eltern und Großeltern ihre Nachkommen im Osten so lange vor dem Familienmittelpunkt TV-Apparat sitzen, bis auch sie selber eingeschlafen sind?
Bei Superstar-Extra muss die ganze Nation vereint wach bleiben, auf ihre Stimmen kommt es schließlich an. Gesendet wird deshalb im Oktober am Abend vor dem Tag der deutschen Einheit, damit alle anderntags ausschlafen können.
Die Teilnehmer an dem als Mega-Event angekündigten Showdown müssten selbstverständlich nach den gleichen Kriterien ausgewählt werden wie die Kandidaten für die täglich versendeten Formate, die als unterhaltend gelten, weil sie vor keinem unterirdischen Thema und keinem unterschichtigen Volksvertreter haltmachen. An den gewohnten Abläufen – eene, meene, muh, raus bist du, hässliche Kuh – würde ebenfalls nichts geändert. Doch bei dieser Premiere, einmalig in der Geschichte des Fernsehens, würden erstmalig nicht die Verführten vorgeführt, sondern ihre Verführer.
Bei deren Anblick dürfte zwar den geistig normalen Zuschauern von Arte und 3sat das Lachen im Hals stecken bleiben, aber das müssten sie nun bitte mal schlucken. Sie dürfen auch nicht den Ton wegschalten – es gehört zu ihren Pflichten als Staatsbürger, sich anzuhören, wie die ihnen unbekannten anderen reden und was sie reden und worüber sie reden.Verglichen mit dem Erkenntnisgewinn über die wahren Bedürfnisse ihrer Mitmenschen, ist der Preis, den sie zu zahlen haben, nachgerade lächerlich.
Weil sich naturgemäß viele Deppen aus lokalen TV-Seichtgebieten zum Superstar berufen fühlen, braucht es regionale Vorwahlen vor der nationalen Entscheidung. Bei den üblichen Blödsendungen gibt es vorher Castings, im zynischen Jargon ihrer Produzenten auch »Migrantenstadl« genannt. Ähnliche Castings sind jetzt erforderlich, wenn unter den TV-Profis eine Auswahl getroffen werden muss. Ohne Ansehen von Aussehen und Alter und wegen der Einschränkungen durch die Bestimmungen des Datenschutzes auch ohne Andeutung des Intelligenzquotienten dürfen dabei alle mitmachen, die jemals vor laufenden Kameras auftraten und fehlerfrei einen ganzen Satz aufsagen konnten.
Das unter Fernsehverantwortlichen einst geltende Gesetz »Wehret den Anfängern!« ist zugunsten ihrer seit Viagra gewachsenen ständigen Hoffnung, bei mancher Anfängerin könnten sie mit ihren eigentlichen Bedürfnissen endlich mal richtig liegen, falls sie zuvor die ihren erfüllen, außer Kraft gesetzt worden.
Ausgeschlossen von der Teilnahme sind nur die aus der Zunft, die sowohl von privaten als auch von öffentlich-rechtlichen Sendern bereits entsorgt wurden und in diversen Homeshopping-Kanälen ihr Gnadenbrot verzehren.Also die Menschendarsteller, deren Wert sich ausschließlich danach bemisst, ob es ihnen gelingt, möglichst vielen noch Blöderen einzureden, durch das Anwählen einer gebührenpflichtigen Telefonnummer, von denen die Sender ihren Anteil kriegen und damit die Honorare ihrer Namenlosen bezahlen, eine günstige Diamantenhalskette für 19,90 Euro zu bestellen oder für nur 23,99 Euro die garantiert wasserdichten Schlüpfer für den reifen Herrn und die noch reifere Dame.
Selbst auf diesen Sendern der Massenverarschung gibt es Ratgeber-Formate mit unmittelbar der Kundschaft einleuchtendem Nutzwert.Wenn einer zur Fortbildung bereiten Schar Frauen von der mütterlichen Moderatorin erklärt wird, wie sie die Batterien eines Dildo auswechseln und welche Farben der kleine Lümmel haben sollte, damit er sie beim Gebrauch nicht an den Fleischfarbenen erinnert, der neben ihnen im Bett schnarcht, lachen alle gemeinsam Reste ihrer vielleicht doch noch vorhandenen Scham weg.
Weil Arte oder 3sat nicht einfach nur wertfrei unter dem in diesem besonderen Fall naheliegenden Aspekt, Schadenfreude sei eben die reinste Freude, unterhaltend sein dürfen – denn wertfrei Luftiges würde ihre seriöse Marke beschädigen -, müsste beim Schau-Laufen der sich gegenseitig prominent Düngenden aus den Biotopen des Massengeschmacks eine zum Anspruch der Sender passende Botschaft vermittelt werden.
Aber welche Botschaft passt?
Wie bei den meisten Sinnfragen des Lebens hilft bei der Suche nach Sinn auch in dem Fall einer von Deutschlands Besten, nämlich Goethe. »Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie lächerlich finden«, ist als Merksatz des Überlebensgroßen ganz okay, aber eben nur bedingt einsetzbar, weil zu viele aus der zusehenden Unterschicht, die schließlich erreicht werden soll, damit hoffnungslos überfordert wären. »Faust« im Kopf, leicht variiert – gleich sehe man des Volkes Getümmel, wo zufrieden jauchzet Groß und Klein, hier sei man Mensch und dürfe es sein usw. -, passt ebenfalls nicht. Diese doppeldeutigen Anspielungen versteht von den Fremdbestimmten bestimmt niemand. Sie kennen die Faust aufs Auge oder die geballte eigene in der Tasche.
Die etablierten Blödmacher haben es einfacher, zugegeben. Denen reicht ein simplerer Anspruch, der die Bedürfnisse ihrer Gemeinde voll total trifft, etwa der: Ich bin ein Depp, lasst mich hier rein! Dass jederzeit als Vollidiot wieder rausfliegen kann, wer als normaler Idiot irgendwo reinwill und damit zur allgemeinen Belustigung beiträgt, dass sich öffentlich knechten lassen muss, wer unbedingt König werden will, ist den Willigen zwar nicht fremd, aber egal.
Egal, ob es ein Container ist, in dem sich jugendliches Prekariat wohlfühlt, weil da alles so aussieht und nach ein paar Tagen so riecht wie zu Hause jeden Tag. Egal, ob alleinerziehende Mütter mit ihren verschiedenen Kindern von verschiedenen abwesenden Vätern gemeinsam mit den Scouts von RTL nach einem neuen Ernährer suchen. Egal, ob ein echter Gerichtsvollzieher klingelt, klopft, kassiert, was der Sat.1-Klientel bekannt vorkommen dürfte aus ihrem häuslichen Alltag. Egal, ob man auswandern, rückwandern, ausreißen oder nur mitten im Leben stehen muss, sich für eine Woche bei einer fremden Familie einquartieren lässt oder den Traum vom eigenen Restaurant beerdigt: Geht nicht gibt’s hier nicht. Bei solchen Sendeformaten geht – ungeniert kommt nach dem Fall – alles. Unter die Haut. Unter die Gürtellinie. Unter aller Sau. Wer mitmacht, muss nur irgendwas können, und sei es auch Pfeifen im Wald, muss nicht zu Besonderem, aber zu allem fähig sein.
Unvergessen die Jubiläumssendungen des privaten Marktführers RTL zum 25-jährigen Bestehen seines Seichtgebietes. Nicht die Gäste auf dem Sofa schreckten ab, obwohl da an zwei Abenden viele Horrorfiguren aus versendeten Lemurenkabinetten saßen. Nicht die Schwenks aufs verzückt klatschende Publikum, wo die Ahnung zur schrecklichen Gewissheit wurde, dass im Saal zusammensitzt, was zusammengehört. Am dämlichsten wirkte Oliver Geissen, der so aussieht und spricht, als könne er kein Wässerchen trüben und damit geschickt alle täuscht. Er kann tatsächlich keines trüben.
Wie könnte beim Themenabend Superstar für Arte und 3sat ausgeschlossen werden, die beiden Sender beim Zappen trotz der sichtbaren Auftritte von Sumpfblütlern und Paradiesvögeln mit RTL oder ProSieben oder VOX oder Sat.I zu verwechseln?
Eingängig müsste der Titel der Show sein, doch gleichzeitig nicht allzu banal.Verbale Verballhornungen der Gebildeten wie »Arten-Miss-Wahl« oder »Dreist auf Sat« versteht außer denen kein normaler Mensch, werden bereits bei der Planung abgeschmettert. »Was ihr wollt« dagegen wäre ein passender Titel, weil sich die einen, die immer wissen, was sie zuvorderst wollen, angesprochen fühlen und die anderen sich mit Verweis auf Shakespeare vorab Absolutionen erteilen dürfen, weil sie sich freiwillig auf Banales wie eine Superstar-Show einlassen.
Shakespeare übrigens lieferte vor fünfhundert Jahren bereits den Beweis dafür, dass sich Qualität und Quote, falls beide gleich ernst genommen werden, bestens heiter miteinander verbinden lassen. Die Aufführungen seiner Komödien im Londoner Globe Theatre wurden von allen Schichten bejubelt, weil die Spiele um Liebe und Lüge, Intrigen und Irrungen im Wortsinne volkstümlich waren, das niedere wie das höhere unverbildete Volk die Sprache verstand und am Ende entweder die Guten siegten oder aber die Bösen, falls sie es sein mussten, die gewannen, von der Macht des Schicksals oder den eigenen inneren Dämonen bestraft wurden. Richtig los ging es übrigens erst im zweiten Akt. Die per Kutsche oder hoch zu Ross anreitende Oberschicht wollte sich nicht mit den zum Theater strömenden Unterschichtlern gemein machen und traf deshalb erst dann ein, wenn das Volk seine Stehplätze eingenommen hatte.
Shakespeare wusste, was alle Menschen zu allen Zeiten bewegt: Menschliches, allzu Menschliches. Deshalb fehlt auf keinem Spielplan deutscher Bühnen ein Stück vom Volksverführer Sir William, dem immer noch populären Garanten für ein ausverkauftes Haus. Seine Dramen sind quotenträchtig. Vor fünfzig Jahren sangen im Film Das Wirtshaus im Spessart, der auf Wilhelm Hauffs Märchen für Söhne und Töchter gebildeter Stände basierte, die beiden komödiantischen Gauner Wolfgang Müller und Wolfgang Neuss einen Schlager aus dem Cole-Porter-Musical »Kiss me Kate« nach Shakespeares »Widerspenstigen Zähmung«-Komödie: »Schlag nach bei Shakespeare / denn da steht was drin / Kommst du mit Shakespeare / sind die Weiber alle hin« usw.
Selbst durch Goethes »Faust« ließe sich, mit ein paar unwesentlichen Änderungen, die nötige Stimmung erzeugen. So einst geschehen in einem Hamburger Volkstheater. Gegeben wurde »Faust« pur, also die bekannte Fassung, die ja nicht so gut endet, wie viele seit ihren Schulzeiten noch wissen. Hier auf St. Pauli jedoch war das normale Volk im Publikum überhaupt nicht mit Goethe pur einverstanden, als es merkte, es würde böse ausgehen. In Gruppen zogen die Besucher in Richtung Bühne, und die starken Männer unter ihnen drohten lautstark dem Darsteller des Faust nachhaltige Bekanntschaft mit ihren Fäusten an, falls er nicht sofort und öffentlich das von ihm so schändlich entehrte Gretchen heiraten würde. Das hatten sie ihren Begleiterinnen versprochen.
Erklärungsversuche des Mimen, dies sei nicht so ganz im Sinne des verblichenen Autors, machten keinen Eindruck. Entweder reiche er ihr sofort die Hand fürs Leben oder er bekäme von ihnen ein paar aufs Maul. Schließlich gab er improvisierend nach. Der Abend endete mit ungeteiltem Beifall aller Besucher. Die einen freuten sich übers Happy End, die anderen über die überraschende Schlussvariante, die sie so nie wieder erleben würden.
Alle fühlten sich gut unterhalten.
Nichts aber scheint schwerer machbar als die hohe Kunst der Unterhaltung. Nichts schwerer zu produzieren als lässig leichtfüßig daherkommende Heiterkeit. Also muss es von Fall zu Fall mit List und Tücke versucht werden. Weil zum Beispiel Pocher nicht nur ein manchmal unerträglicher Angeber ist, sondern auch ein gewitzter Puck sein kann und kein einfältiger Punk, spielte er lange bei Harald Schmidt den Proll Oliver und anschließend mit den Kritikern, die sein Spiel ernst genommen hatten. Die hätten einfach ein Problem damit gehabt, aber dies sei deren Problem, und nicht seins, dass einer wie er, eine »Ausgeburt des Privatfernsehens«, mit einem Intellektuellen wie Harald Schmidt eine Sendung in der seriösen ARD gemacht habe. Am Ende der Zweisamkeit kehrte er allerdings dann doch wieder dahin zurück, wo er geboren war. Zwar wollte ihn das Erste unbedingt verpflichten – es nagte der zuständige Koordinator Thomas Schreiber ständig an ihm -, doch die anderen hatten inhaltlich die stärkeren Argumente: Sie boten Pocher mehr Geld.
Vieles in den öffentlich-rechtlichen Programmen, Fernsehen wie Rundfunk, ist nach wie vor besser als vieles, was die anderen auf dem Markt anbieten. Das gilt für Magazine und Dokumentationen, in denen es um Politik geht, um Wirtschaft, um Kultur. Das betrifft alle unterschiedlich guten, aber nur selten unter null angesiedelten Talkshows im Ersten, im Zweiten und bis auf das im Seichtgebiet seiner regionalen Zielgruppe dümpelnde Riverboat auch alle im Dritten.
Auf dem weiten Feld der Unterhaltung blüht bei ARD und ZDF allerdings nicht so viel. Uwe Kammann, Direktor des renommierten Grimme-Instituts, das jährlich Preise für die angeblich Besten vergibt, kritisierte bei der Verleihung 2009, wo die RTL/ORF-Serie Doctor’s Diary in der Kategorie Unterhaltung ausgezeichnet wurde und auf die Öffentlich-Rechtlichen nur ein Spezialpreis für die Kunstfigur Johannes Schlüter innerhalb der NDR-Reihe Extra Drei fiel, den bei beiden Sendern in der Unterhaltung nach wie vor herrschenden »Mangel an Innovation und kreativem Witz«.
Das liegt am System. TV-Total-Unterhalter Stefan Raab, der für ProSieben aktiv ist: »Beim WDR kann keiner was entscheiden, bevor nicht der Ältestenrat zusammengetreten ist.« Und Oliver Pocher, der sich auch deshalb für Sat.1 entschied, weil es da jemand wie ihn geben müsse, der mal sagt, dass viele Sendungen wie Explosiv und taff und SAM »der letzte Schrott« seien, hat ähnliche Erfahrungen gemacht, denn bei der ARD »redet ja nicht nur einer allein, sondern 84 Gremien reden mit. Und mindestens ein Dutzend Chefs muss alles abnicken. Das ist einfach sehr anstrengend.«
Es muss, weil sie doch stets auch an ihrem Anspruch gemessen werden wollen, von den beiden Dinos ARD und ZDF mehr verlangt werden als gut gemachte, hochrangig besetzte TV-Movies, geschickt zum Fernsehevent des laufenden Jahres dann hochgejubelt, falls die Geschichte papieren dünn ist oder wieder mal Veronica Ferres die Hauptrolle spielt. Der Leute-Heute-Boulevard-Deutschland-Blick auf spracharme Tussis und deren wechselnde, nur im Body und nicht etwa im Kopf gebildete Begleiter, ein Winter- oder Sommerabend der Volksmusik, der Aufstieg des Eisbären Knut zum Ehrenbürger von Berlin – alles gleich unterhaltend? Oder doch eher der Beweis dafür, dass den Machern nichts Besseres eingefallen ist und, weil es so gut angekommen ist, sie gnadenlos alles auswringen bis zum letzten Tropfen Substanz?
Für die Samstagabende hat man Thomas Gottschalk und Frank Elstner und, Gott möge uns schützen, Jörg Pilawa. Die beiden Guten, sichtlich nicht mehr die Jüngsten, können nicht alles selbst machen, können nicht alles moderieren, was andere nicht können. In welchen Anstalten, in welchen Abteilungen, in welchen Schubladen vermodern für Anke Engelke oder das blonde Gift Barbara Schöneberger passende Formate? Warum hievt die sonst lautstark alles besser wissende WDR-Intendantin Monika Piel nicht Zimmer frei ins Abendprogramm des Ersten? Sie schreit doch immer nach Qualität, und die läge nah, ein paar Stockwerke unter ihr in Köln.Warum ist angemessen bezahlten Unterhaltungsprofis von ARD und ZDF nicht etwas so Witziges eingefallen wie die Schillerstraße auf Sat.1, wo live von den Komödianten spontan gespielt werden muss, was ihnen eine Moderatorin aus dem Regieglaskasten über ihre Kopfhörer aufträgt, zur allgemeinen Belustigung des anwesenden Publikums? Warum ist Neues aus der Anstalt in manchen Wochen das einzig Witzige, was aus der Anstalt ZDF nach außen dringt? Warum darf Olli Dittrich nur in seiner norddeutschen Trinkbude nachts am Tresen herumlabern? Warum hat es so lange gedauert, bis Ina Müller ins Erste durfte?
Intelligente Unterhaltung gibt es, allerdings bei RTL: Günther Jauchs Wer wird Millionär? Die Sendung lebt nicht wie andere Quizsendungen nur von der Gier der Kandidaten, berühmt oder reich zu werden, oder davon, dass Millionen zu Hause mitraten und stolz in den Werbepausen ihre Nachbarn und Verwandten anrufen, weil sie wieder mal mehr wussten als irgendeine Kandidatin, sondern von der selbstironischen Schlagfertigkeit des Moderators. Der übrigens als Beruf den ehrenwerten des Journalisten angibt.
Was ist überhaupt gute Unterhaltung? Hunderte von Versuchen, unterhaltend zu sein, sind versendet und längst vergessen worden, und zwar in allen Sendern. Was nicht nur daran lag, dass die Zuschauer einfach zu blöd sind für bestimmte Formate, deshalb die Quoten nicht stimmten und die Versuche scheitern mussten. Es stimmt zwar, dass es Millionen von Blödem zu begeisternde Blöde gibt, sonst müsste ein Superstar-Abend der Blödmacher wie hier nicht erfunden werden. Aber es stimmt auch, dass sowohl in den für Unterhaltung zuständigen Hauptabteilungen von ARD und ZDF als auch in den entsprechenden Ressorts der Privatsender viele fest angestellte Feiglinge sitzen, die andere ihnen gemäßere Berufe schwänzen – welche bloß? – und sich nicht trauen, ihrer Klientel etwas mehr als das Übliche zuzutrauen.
Oder sind sie gar einfach zu blöde?
Von den Gebühren- und Geschmacksfreien wird genommen, was unter dem Gesichtspunkt »Zoten = Quoten« mal erfolgreich war und schon deshalb von der Zielgruppe gern gesehen wird, weil ihre Angehörigen entweder eine besonders Doofe in ihrer Unterschichtennachbarschaft kennen, auf die das zutrifft, oder sie selbst zur vorgeführten Spezies der Verblödeten gehören. Als da, selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit, zum Beispiel wären:Auspeitscher, Einpeitscher, Machos, Schwule, Tunten, Transen, Bettnässer, Tätowierte,Vollbusige, Scham- und Schmallippige, Spaßvögler, Verklemmte, Pornografen. Nichts allzu Menschliches auf Seichtgebieten aller Art bleibt den Machern fremd und damit denen, für die sie senden. Dies ist allerdings keine Aufforderung an die von Gebühren lebenden Sender, sich Gedanken in diese Richtung zu machen.
Wirklich nicht.
Am Beispiel unzähliger und oft ungenießbarer Kochshows ist beweisbar, dass mit nur einer geglückten Zeugung – in dem Fall war Alfred Biolek Vater aller Töpfe – Dutzende von halb gar gekochten Bastarden in die Welt gesetzt werden können, TV-Surrogate wie Küchenschlachten, Restauranttester, Der Traum vom eigenen Restaurant, Fast Food Duell, Einsatz am Herd, Kochprofis, Kochen mit Kerner und Co., Perfektes Dinner, Promi-Dinner, wo am Ende warmes Essen ausgeteilt wird an alle, die außer ihrer unmittelbaren Verwandtschaft niemand kennt, geschweige denn jemand einladen würde. Heiteres würzt mitunter die Gerichte bei Lafer! Lichter! Lecker! im Nachmittagsprogramm des ZDF oder das, was Markus Lanz freitagnachts im Zweiten anrichten lässt, was aber eher an seinem einnehmenden Wesen liegt.Vorkocher Johannes B. Kerner hat sich, weil er nicht blöde ist, aus der Küche geschlichen, bevor der Kundschaft alles gleich fad schmeckt und das nicht den Köchen, sondern ihm als Restaurantbetreiber angelastet wird.
Dass allerdings der Hamburger Wirt Christian Rach, Besitzer eines anspruchsvollen Esslokals, mit seinen Restauranttests zum Liebling der Masse geworden ist, dass ihn bis zu sieben Millionen Zuschauer bei seinen Reisen durchs fetttriefende Deutschland begleiten, hat weder mit den üblichen TV-Verköstigungen noch mit ihm zu tun. Er ist keiner jener künstlich gezüchteten Helden der Unterschicht, er ist ein gebildeter Transmissionsriemen auf zwei Beinen. Bei ihm gibt es in Serie, fein abgeschmeckt vor jeder Ausstrahlung, im Bedarfsfall auch aufgewärmt, weil das Gericht laut Quote schon mal sehr gut schmeckte, allzu menschliche Tragödien des Alltags zu sehen.
Rach vereint in seiner Person die aus verschiedenen Formaten beliebten Prototypen, spricht gleich vier, fünf verschiedene Zielgruppen an – Verschuldete,Verblödete,Verzweifelte, Geschmacklose, Hungrige. Mal ist der studierte Mathematiker Schuldenberater, falls sich bei einer Visite herausstellt, dass der Küchenchef nicht nur nicht kochen, sondern auch nicht rechnen kann und mit jedem verkauften Gericht dem Bankrott einen kleinen Schritt näher kommt. Mal nützt Rach sein Studium der Philosophie, wenn er als eine männliche Super Nanny einem dickleibigen Faulpelz erklärt, warum es wie im richtigen Leben auch in der Kneipe ohne Fleiß keinen Preis zu gewinnen gibt. Mal schlüpft er streng in die Rolle eines Inspektors vom Gesundheitsamt, wenn er verdreckte Küchen von erstarrten Saucen früherer Jahre frei schrubben lässt. Mal verordnet er eine radikale Kneipenkur und gibt den stilsicheren Dekorateur, wenn er die Tischordnung so verändert, dass kein Gast mehr dem anderen das Essen auf den Teller spucken kann.
Die meisten Nachmittagsprogramme im Ersten und im Zweiten und in den Dritten sind allenfalls tierisch unterhaltend. Gezeigt wird vom Tausendfüßler bis zum Elefanten alles, was in deutschen Zoos von Leipzig bis Gelsenkirchen kreucht und fleucht, aber auch alles, was da um sie herum keucht und flucht. Menschen dürfen mitspielen, weil die Tiere gepflegt, gefüttert, gestreichelt werden müssen. Oft braucht es bei den Sendungen, deren Überraschungsmomente inzwischen nur noch selten sind, jedoch Untertitel, weil sonst nicht auszumachen ist, ob die hörbaren Urlaute von einem Gorilla oder einem Pandabären stammen oder nur deshalb so unverständlich klingen, weil sich der zuständige Tierpfleger in einem Dialekt äußert, den außerhalb von Baden-Württemberg oder Sachsen sonst niemand versteht.
Sobald es darum geht, zu definieren, was Unterhaltung bieten muss, um gut zu sein, fühlen sich viele zu Antworten berufen, denen keiner je Fragen gestellt hat und auch keiner Fragen stellen möchte, weil man ahnt, wie die Antworten ausfallen.Vor allem Rundfunkräte wollen ihre unmaßgebliche Meinung äußern. Weil sie schon mal im »Caesar’s« in Las Vegas waren oder im »Moulin Rouge« in Paris, sind sie überzeugt davon, aus dieser Erfahrung heraus mitreden zu dürfen. Man müsse es machen wie die Amerikaner oder die Franzosen.Wie denn?
Irgendwie so eben.
Eben.
Erstens sind die Unterhaltungsformate aus dem Menschenzoo in den USA und in England und in Frankreich und besonders in Italien, wo Berlusconi das Niveau vorgibt, noch seichter als die laufenden in Deutschland, und zweitens entzieht sich gut gemachte Unterhaltung landläufigen Definitionen. Wäre es anders, dürfte nicht nur jeder hergelaufene Blödmann mitmischen, dann würde Esprit mindestens so viel gelten wie Entblößung, dann würde es so etwas wie Switch (ProSieben), wo auf heitere Art Entblödung betrieben wird, zur Prime Time gesendet und nicht erst nach 22 Uhr.
Bei dem ausgedachten Themenabend auf Arte oder 3sat, in der Live-Übertragung auf einem der beiden Sender für gebildete Stände, dürfte es keine der üblichen Jurys geben, die mit ihrem Votum Volkes Stimmungen vertreten und den Daumen senken oder heben. Es ginge an diesem Abend sauber frühdemokratisch zu. TED-Mehrheiten allein entscheiden, nicht irgendwelche Juroren, in ihrer Vergangenheit mitunter bekannt aus Funk, Film und Fernsehen, in der Gegenwart aber schon lange nicht mehr nur aus Zufall frei.
Keiner von denen wird ohne fremde Hilfe verstehen können, was die coolen Erfinder des Blödfernsehens, gebildete amerikanische Zyniker, als Maßstab heute ihren Scouts mit auf den Weg geben, wenn geeignetes Menschenmaterial für die unsäglichen Formate gesucht wird, für ein Aquarium, aus dem die Gefischten nicht werden entkommen können. »Between the legs: heaven. Between the ears: zero«, frei übersetzt etwa, dass man für die Best-of-Shows Kerle und Bräute brauche, die jederzeit ihren Mann stehen oder denselben überstehen können, aber blöd genug sein sollten, dass sie nicht merken, wie sie manipuliert und für johlende Massen vorgeführt werden.
Na und, ist das denn so schlimm? Erwachsene sollen sehen, was sie wollen, dürfen lachen, worüber sie wollen, und falls das unterhalb der Gürtellinie stattfindet, sie dabei aber glücklich glucksen, weil sie dumm bleiben können und weil sie nicht überfordert werden durch Moderatoren, die ebenfalls vergessen wurden, als Gott Talent und Verstand verteilte … na und.
Nebbich.
Kritiker des Zweitgeistes verhöhnen voll intellektueller Wonnen die Exhibitionisten und Voyeure und Scherzunholde auf den Kanälen, die sie angeblich nie einschalten, erreichen aber mit ihrer Häme deren Zielgruppe nie. Insofern könnten sie es lassen, stattdessen lieber den Erstling eines unbekannten Autors lesen, und falls der ein guter ist, eine wirklich gute Tat tun und darüber schreiben.
Die Denkanstöße der zur Beobachtung der Seichtgebiete staatlich berufenen Medienwächter, Beratungspapier genannt, versickern im Ungefähren. Direktoren der Landesmedienanstalten forderten im Frühjahr 2009 eine »Selbstverpflichtung zur Einhaltung moralisch-ethischer Regeln bei Dokusoaps und Castingshows«, was sie so begründeten: »Auch wenn viele Inhalte keine konkreten Rechtsverletzungen darstellen, werden doch Toleranzgrenzen von einzelnen Zuschauern und Zuschauergruppen strapaziert und Gefühle verletzt.Wenn weiterhin die Grenzen der Rundfunkfreiheit bis zum Letzten ausgereizt werden, drohen die Programme massiv an Glaubwürdigkeit zu verlieren und tragen zu einem Verlust gesamtgesellschaftlicher Werte bei.« Anstößiges und Provokantes, Sensationelles oder Monströses erhielten so einen unangemessenen Rang, und zudem würden die Schwächen von medienunerfahrenen Laien zum Zwecke der Unterhaltung »ausgestellt und ausgenützt«.
Die real versendete Lage ist zwar präzise beschrieben, aber da sie keine bestimmten Sendungen auflisteten, fühlte sich von den gemeinten Blödmachern auch keiner angesprochen. Die Hölle sind ja immer die anderen, auch in diesem Fall. Und mit Moral und Ethik haben sie es nicht so oft bei ihrer Arbeit zu tun, sondern eher täglich mit Quoten.
Also lachten sie sich mal wieder ins Fäustchen und machten sich an die Produktion einer weiteren unsäglichen Reality-Show unter dem Titel »Erwachsen auf Probe«, bei der unschuldige Babys von ihren verantwortungslosen Eltern an andere, noch kinderlose Paare ausgeliehen werden, auf dass die was fürs Leben lernen.
Das Lachen ist im Zuge der Evolution entstanden als Nebenprodukt des Sprechens. Weil das so ist, können auch Affen lachen, und falls man Ratten kitzelt, grinsen die für Momente ähnlich wie bestimmte Moderatoren dauernd. Miteinander zu lachen bringt Volk in Stimmung, das Miteinander entsteht sogar virtuell und springt direkt aus dem Fernsehapparat auf die über, die einsam in Kämmerchen sitzen unterm Dach im Plattenbau Ost oder dem Reihenhaus West. Eigentlich haben sie kaum was zu lachen angesichts trister Wirklichkeit draußen, aber lachend fühlen die sich als Teil der ihnen vorgeführten Masse. Das verbindet.
Einen Volltreffer bei den Blödmachern und Blöden, von denen viele im Saal saßen, schaffte einmal nur Marcel Reich-Ranicki, als er 2008 bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises, Aug’ in Aug’ mit talentlosen weiblichen und männlichen TV-Kanal-Arbeitern, über den zur Wahl stehenden versendeten Schund lamentierte und den ihm zugedachten Preis fürs Lebenswerk dankend ablehnte: »Ich kann nur diesen Gegenstand, der hier verschiedenen Leuten überreicht wurde, von mir werfen oder jemandem vor die Füße werfen.«
Doch wie es sich für einen gebildeten Feuerkopf gehört, der sich seine Meinung nicht durch Fakten kaputt machen lässt, hatte er das, worüber er so zornig herzog, noch nie gesehen. Die an jenem Abend gezeigten Ausschnitte reichten ihm für ein Pauschalurteil. Für Reich-Ranicki ist es gute, wahre, schöne Unterhaltung, wenn Arte oder 3sat möglichst täglich Literaturverfilmungen senden. Das kann man zwar sehen wie er, ist jedoch fern einer Sendewelt, in der Zoten und Quoten regieren. Seit das Privatfernsehen in Deutschland zu senden begann, geht es nicht mehr um Qualität, sondern um Quote. Falls beides zusammenfällt, prima. Falls nicht, fällt die Qualität eben flach.Wer die Doofen erreichen will, muss mehr können, als über sie zu lachen.
Das Privileg nimmt die Oberschicht für sich in Anspruch. Um ihre Schadenfreude zu befriedigen, sagen sie von oben herab, würden sie sich gelegentlich mal Frauen suchende Bauern anschauen und von Würmern beladene Altblondinen im Dschungelcamp und gepiercte Teenager im Container und pubertierende Kichererbsen im Alter zwischen vierzehn und vierundzwanzig, getrieben von der Gier, als Supermodel berühmt zu werden und dafür jede Hemmung abzulegen bis auf die Unterwäsche.
Die gängige Erklärung, man schaue sich den Schrott nur an, um sich an der Dummheit der anderen zu weiden, ist nicht glaubhaft. Diese Kritiker des schlechten Geschmacks wissen einfach zu viel über Situationen, die sie als verblödet beschreiben, als dass ihre Erkenntnisse von nur seltenen Abstechern in eine Bauern- oder Adelsversteigerung herrührten. Grundsätzlich werde eh am liebsten »madig gemacht, was komisch ist«, kontert der Arzt und Komödiant Eckart von Hirschhausen, der nebenbei auch noch als komisch geltende Bücher schrieb und damit Bestsellerautor wurde.
Also muss es Mitglieder der Blödgemeinschaft Deutschland geben, die sich nach außen als unheimlich Kluge tarnen, doch heimlich ähnlich primitive Bedürfnisse haben wie die prolligen Armeen, gegen die sie geistreich ankämpfen. Der einzige Unterschied: So blöd, sich zu offenbaren oder sich gar für ein Casting zu melden, so doof sind die stillen Teilhaber nicht. Sie würden nie auf die Idee kommen, sich die RTL-Show Zehn Jahre jünger anzuschauen, wo nach dem Prinzip Vorher-Nachher ungewaschene, ungekämmte, Badelatschen und schlabbernde Leggings tragende Unterschichtler so lange gestylt werden, bis aus ihnen menschenähnliche Wesen geworden sind und sogar die eigenen Lebensabschnittspartner vor ihnen fremdeln.
Komisch nur, dass die Klugen darüber witzeln können, obwohl sie diese Verjüngungskur, die deshalb prollig ist, weil ausschließlich Prolos mitmachen dürfen, nie gesehen haben. Das Format ist ein ehrliches Angebot für die Zielgruppe. Da sehen viele für immer so aus, wie die Gezeigten vorher aussahen – und wahrscheinlich bald wieder aussehen, wenn die von RTL wieder abgereist sind. Die ARD dagegen schämte sich zwar nicht, eine sogenannte Style-Show mit einem radebrechenden Typberater namens Bruce Darnell ins Programm zu nehmen, weil man dem seichten Wahn verfallen war, damit jüngere Zuschauer zu gewinnen.Vergaß aber dabei, dass die Zuschauer, die sie erreichen wollte, solche Blödheiten längst besser besetzt und besser gemacht in ihren eigenen Bedürfnisanstalten zur freien Auswahl hatten und nie auf die Idee kamen, ins Erste umzuschalten.
Öffentlich-rechtliches Fernsehen ist qua Staatsvertrag verpflichtet, aufzuklären, zu informieren, zu unterhalten: »Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten.« In den Bestimmungen steht also nichts von einem Planziel, das per Quote zu erreichen ist.Verankert ist Kulturgut, nicht Leergut. Mit den ihnen von den Gebührenzahlern zur Verfügung gestellten Etats soll vorrangig Qualität produziert werden, wodurch sich die Zuschauer fortbilden lassen zu denkenden, wissenden, heiteren Wesen. Also solchen Deutschen, wie es sie bis zur Befreiung durch die Alliierten vom Hitlerregime kaum noch gab.
Kann wenigstens in Ruhe hören, wer nichts Lautes sehen will? Die Auswahl an Rundfunkprogrammen ist doch riesig. Die Auswahl an Moderatoren jedoch nicht. Das fällt besonders bei den Öffentlich-Rechtlichen auf, in die man schaltet, um sich vor den Dummdödeln und Scherzkickserinnen der Privaten zu retten. Jeder Sender leistet sich zwar – noch? – ein Nischenprogramm, in dem das Wort regiert und nicht die blöden fröhlichen Sprüche von denen, die sich aus dem Wort nichts machen, weil sie auf dem Weg zur Arbeit wieder mal keine Wörter gefunden haben und vor den Mikrophonen sitzend es für eine Suche bereits zu spät ist, aber von morgens bis abends viele Worte ums Nichts flechten. In welcher Klitsche wurden die ausgebildet? War es ein Fernkurs? Wer nimmt denen nach ihren Sendungen gelegentlich das Brett vom Kopf und haut es ihnen auf denselben? Wer hat die mal engagiert, statt ihnen eine Ausbildung in einem für sie passenden Beruf zu empfehlen?
Heeren von Verblödeten stehen Scharen von mit Vernunft und Witz Begabten gegenüber. Sie treffen in der Realität aber nur selten aufeinander, weil den einen die Gewalt wesentlich und den anderen wesensfremd ist. Sie reden allenfalls bei nationalen Katastrophen wie dem zu frühen Ausscheiden bei einer Weltmeisterschaft im Fußball miteinander in einer gemeinsamen Sprache, denn ansonsten leben sie in getrennten Welten. Mit einem Grand Brie der Stars zwecks Kür eines Superstars ausgerechnet auf Arte und 3sat würden Brücken gebaut. Über sieben davon muss man bekanntlich gehen, bevor der helle Schein erstrahlt. Um in der Sprache derer zu bleiben, die für die Organisation eines Spektakels nötig sind, weil sie mit den verbalen Möglichkeiten der Kandidaten vertraut sind: Wie ließe sich aus dem Anspruch der einen und dem Trieb der anderen Honig saugen und Kohle für die Veranstalter ranschaffen?
Im geheimen Strategiepapier der für die entscheidende Schlacht einberufenen Fantasiebegabten stünde folgende irrwitzig gute Idee:Weil es seit der deutschen Einheit sechzehn Bundesländer gibt, kämen sechzehn Volks-Vertreter ins Finale. Um die Show im nötigen Glamour zu präsentieren und da Werbeblöcke zur Finanzierung nicht erlaubt sind aus den bekannten Gründen, reicht der TV-Etat nicht. Deshalb wären die Landeszentralen für politische Bildung und die Stiftungen der Parteien als Co-Sponsoren neben Hauptsponsor »Bild« mit von der Party.
Trefflicher könnten die Institutionen ihren politischen Auftrag nicht erfüllen und die ihnen dafür erteilten Steuergelder einsetzen, denn ihre eigentlichen Aktivitäten gehen am eigentlichen Ziel, die Dummen aufzuklären, vorbei. Immer dann, wenn sie einen deutenden Referenten zu bedeutenden Themen auftreten lassen, kommen hauptsächlich die zu ihren Veranstaltungen, die man nicht mehr überzeugen muss. Eine aufrüttelnde Philippika gegen Blöd-Formate wie Dschungelcamp oder Big Brother wird ja auch nicht in »Geo Wissen« veröffentlicht. Predigen macht nur dann so richtig Spaß, wenn die Kirche voll ist mit denen, die noch nie zuvor in einer Kirche waren.
Anders jetzt. Eine einmalige Chance. Millionen von Deutschen, viele an Politik desinteressierte Jugendliche, würden beispielsweise erfahren, dass es tatsächlich sechzehn Bundesländer gibt – Sach bloß, Mann! – und dass sie durch die Abgabe ihrer Stimme doch etwas bewirken könnten, und sei es in diesem Fall die Kür eines Superstars, der ihnen Hoffnung macht, auch mal einer zu werden. Genauso blöd wie sie, aber reich und berühmt.Vielleicht wären sie danach versucht, die Erfahrungen auch bei richtigen Wahlen einzusetzen.
Selbstverständlich würde vor Beginn der Show, die dem Niveau der Sender entsprechend von Roger Willemsen moderiert werden müsste oder wenigstens von Elke Heidenreich, etwas Historisches als Thema angeboten. Das könnte ein Beitrag über Charles Darwin sein, weil der »The Survival of the Fittest«, das Überleben der am besten angepassten Lebewesen, in seiner Evolutionsgeschichte über die Entstehung der Arten begründet hat und damit so was wie ein erstes Handbuch verfasste für alle kommenden Wettbewerbe, auch für die Wahl eines Superstars.
Denkbar wäre auch ein Rückblick auf das Römische Reich und die am Tiber einst so beliebten Gladiatorenkämpfe. Auch da konnte am Ende nur einer gewinnen, weil die anderen entweder tot in der Arena lagen oder bereits die Löwen deren Reste verdauten. Brot und Spiele waren schon damals die beiden Grundbedürfnisse des Volkes, heute würde man Panem et Circenses (ein wenig Latein für die eigentliche Zielgruppe von Arte und 3sat muss schon mal erlaubt sein) in die Neuzeit beispielsweise übertragen als ALG 2 und RTL 2.
Ein einzelner Mensch, beispielsweise einer, der über die wachsende Verblödung der Deutschen ein Buch schreibt, ist ein bedauernswertes armes Schwein, weil er bei stündlich wachsenden Depressionen beim Anblick der als »Unterhaltung« getarnten Formate von Mittag bis Mitternacht auf fast allen Kanälen einfach überfordert ist. Da treten Menschen auf, die entweder gebeutelt sind von allen Schrecknissen des Lebens – drückende Schulden, schwangere Teenager ohne Schulabschluss, arbeitslos und mit den Raten für den Flachbildschirm in Rückstand, Pferdeschwanz, gar keinen Schwanz, Hängebusen, gar keinen Busen, Schweißfüße – oder aber von den Betreibern dieser Talkshow-Verschnitte, die sich intern Redakteure nennen, auf solche Schicksale eingeschworen wurden.
Letzteres liegt oft näher. Die Konkurrenz vor allem am Nachmittag ist hart, die Themen sind austauschbar und abgegrast, also muss man erst einmal neue erfinden, nach einem vielleicht doch noch nicht gebrochenen Tabu forschen und erst dann den darauf passenden Fall suchen. Falls es den nicht gibt, weil es das Thema als Problem nicht gibt, hilft nur Falschspiel. Stefan Raab: »Früher saßen in den Nachmittagsshows reale Personen, heute sind das Schauspieler oder solche, die sich dafür halten.«
Manche Lügen, mit denen angeblich zufällig auf der Straße entdeckte Betroffene vorgeführt werden, haben nicht die berühmten kurzen, sondern offene Beine. Es gibt ihn tatsächlich, jenen Kölner Arbeitslosen, der insgesamt siebenmal als Gebeutelter auftrat und einmal die besagten offenen Beine, nicht mehr heilbar nach einem Behandlungsfehler, betroffen in Nahaufnahmen zeigte.Vom Maskenbildner waren sie zwar draufgemalt worden, aber das durfte er aufgrund einer gegen ihn erlassenen einstweiligen Verfügung nicht behaupten, als er aufflog und dann für ein letztes Honorar in einer Rundfunksendung auspacken wollte.
Es blubbern noch nicht ausgeschöpfte Tümpel im Seichtgebiet. Man könnte den besten Bordellbetreiber suchen, die leitenden Herren würden bestimmt mitmachen und dann Freudenhaus gegen Freudenhaus in verschiedenen Stellungen antreten lassen. Quote und Dauererektion bei der männlichen Zielgruppe wären garantiert. Man könnte die besten Tricks wählen lassen, mit denen man vom Staat doppelte Beihilfen erschleicht. Das wäre ein auf die Zielgruppe perfekt zugeschnittenes Format. Oder man könnte im Osten die besten Baumärkte suchen lassen samt Krönung des begabtesten Düblers, oder man könnte die härtesten Zugbegleiter küren, denen kein Weg zu weit ist, auf den sie ein Kind jagen würden, das seinen Fahrausweis vergessen hat.
Wenn es etwas mit Anspruch sein darf und deshalb besser zu ARD und ZDF passen würde als zu den als Schaumschläger geborenen Seichtsendern, sollte man sich derart auch aktuellen politischen, gesellschaftlich relevanten Themen und Gruppen nähern. Gewählt wird dabei, nach genauer Recherche in den Kellern, in denen faule Papiere verrotten, und nachdem die Vorstände in einer Bütt ihre Sünden gebeichtet haben, die Bank, die verstaatlicht und so gerettet werden soll. Die Verlierer müssten Insolvenz anmelden, ihre Manager die Bonuszahlungen an Amnesty International spenden und außerdem mit ihren Frauen einkaufen gehen.
Schwieriger würde es werden, die ebenfalls in dem Zusammenhang naheliegende Idee für ein Konzept unter dem Titel »Wer WAR Millionär?« fernsehgerecht umzusetzen. Allerdings ließe sich in den Archiven von ARD und ZDF etwas Fernsehgerechtes finden. Eine Variante von Robert Lembkes einst berühmtem Ratespiel Was bin ich? böte sich an: Fünf Kandidaten werden gegrillt, dürfen auf Fragen des Moderators – Hans-Olaf Henkel? – nur mit Nein oder Ja antworten, und erst am Schluss wird enthüllt, wer mal reich war und heute von Hartz IV leben muss.
Bleiben wir in der Realität.
Die muss beurteilt werden.
Soll sich der Mensch, der ein armes Schwein ist, siehe Seite 47, in der freiwillig gewählten Rolle als Juror nur für einen einzigen Sender entscheiden? Oder nur für ein ganz bestimmtes Format? Lieber den dünnflüssigen Inhalt wiegen oder ausschließlich die Performance derer wägen, die sich Moderatoren nennen? Ist es am Ende vielleicht sogar eine selbstgefällige Anmaßung, sich in intellektueller Arroganz zum Richter über den Geschmack anderer zu erheben, sie aufgrund ihrer schlichten Bedürfnisse verächtlich zu machen?
Denn weil die nichts lesen außer den Schnäppchen-Anzeigen von Lidl, Aldi und Co., erfahren sie ja eh nie was von der Verachtung der ihnen fremden anderen. Was den Umkehrschluss erlaubt, dass allenfalls offene Türen unter seinesgleichen einrennt, wer von den üblichen verdächtigen Besserweisen in Zeitungen und Zeitschriften des aufgeklärten Bürgertums seine Verachtung fürs Prekariat in wohlfeile Sätze verpackt.
So betrachtet wäre es ein Quantensprung und ein Quotensprung, könnte man aus der selbst verschuldeten Not eine selbstkritische Tugend machen und die Entscheidung über die blödeste Moderatorin oder den blödesten Moderator dem gemeinenVolk überlassen. Man gehört ja schließlich nicht zu der Schicht – danke! -, die sich Florian Silbereisen oder Marco Schreyl als Schwiegertochter oder Schwiegersohn vorstellen kann.
Sie ein wenig zu quälen allerdings ist erlaubt. So machen sie es ja auch in ihren Sendungen mit ihren Kandidaten. Die sechzehn in den regionalen Castings für das Finale Ausgewählten müssten vor der Nacht der Stars eine Woche lang mit ihren Konkurrenten nicht die Wohnung oder die Gattin oder den Mann oder ein Haustier tauschen, sondern ihre Sendungen. Das wäre mal ein echter Härtetest. Denn wer einmal gesehen hat, wie eine Frau aus besseren Kreisen der Oberschicht, die blöd genug war, sich für die Vorführung in einem allen einsichtigen Menschenkäfig freiwillig gemeldet zu haben, beim Blick in die ihr zugewiesene Wohnhöhle und auf deren stinktierähnliche Bewohner hilflos schluchzend zusammenbrach, weiß um die Schwere dieser Aufgabe und ahnt schaudernd, wie auf den Ebenen des Gewöhnlichen der deutsche Alltag mieft.
Deshalb sollen den die Moderatoren auch mal erleben. Ihnen werden die Aufgaben gestellt, die sie bisher anderen kalt lächelnd zugemutet haben. Ihre Gemeinheiten rächen sich nun. Wer schon möchte Jörg Pilawa das Frühstück ans Bett bringen müssen? Wer für Hugo Egon Balder den Sprachmüll trennen? Wer mit Jörg Kachelmann den Samstagabend auf der Couch verbringen und gemeinsam im Ersten einen Film aus der ARD-Unterschichten-Reihe Da wo … (die Freundschaft wohnt, die Liebe ruckeldizuckelt, die Berge glühen, der Wildbach rauscht etc.) – Hauptrolle bis zum letzten Almabtrieb stets Hansi Hinterseer – durchstehen müssen?
Eine ganz bestimmte Moderatorin, nennen wir sie zum besseren Verständnis hier einfach Inka Bause, dürfte beispielsweise nicht wie sonst in einer ihrer Shows einen Bauern von der ihm nahen Ziege wegzerren und mit einer läufigen Ex-Friseuse paaren, sondern müsste dem Landadligen, bei dessen Anblick selbst Frankensteins Töchter ins nächste Kloster flüchten würden, eine standesgemäße Braut vor seine Flinte treiben. Ein bestimmter Moderator dürfte dann beispielsweise nicht wie gewohnt mit dümmlichen Fragen täglich um 14 Uhr die eigentlich auf seinem Niveau agierenden Gäste an ihrem eh geringen Verstand zweifeln lassen, sondern müsste als Oliver, der etwas andere Restauranttester, in versifften Küchen deutscher Vorstadtkneipen die im ranzigen Fett um ihr Leben kämpfenden Kakerlaken vor Köchen retten, die sie als Beilage fürs Eisbein garnieren wollten.
Und sie alle müssten sich unter schadenfreudiger Anteilnahme des Millionenpublikums in Aufgaben bewähren, die sie in ihren Sendungen denen vorgeben, die trotz ihrer beschränkten Möglichkeiten bei der öffentlichen An- und Hinrichtung mitmachen. Ein paar willkürliche, aber nicht zufällig gewählte Beispiele: sich einen ganzen deutschen Satz überlegen, den sie nicht auf dem Teleprompter ablesen, sondern selbst zu formulieren hätten. Sich bis auf die Unterwäsche ausziehen. Mutter und Tochter Hellwig oder die Überlebenden der Jacob Sisters samt Pudel interviewen. Den Moonwalk von Michael Jackson tanzen. Wenigstens einen Fernsehfilm benennen, in dem Veronica Ferres garantiert nicht mitgespielt hat. Wissen, nach welchem Tor in welchem Spiel Lothar Matthäus seine Leidenschaft, statt zu ballern in fränggischen Urlauten zu labern, entdeckt hat.
Wäre das nicht schön?
Wäre das nicht erfolgreich?
Wie nähert man sich denen am besten, die »Wow!« sagen, wenn sie auf der Suche nach einem möglicherweise passenden Wort in einer überraschenden Situation nicht weiterkommen? Um Kriterien aufzustellen für eine Beurteilung der vielfältigen niedrigen Instinkte des Volkes, müsste das weite Feld des Seichtgebietes in einzelne Parzellen aufgeteilt werden. Es wird nicht nur den einen Superstar für alles Mögliche geben können, es dürften viele Mögliche für alles Unmögliche sein. Ein Kanal könnte zum benutzerfreundlichsten Superstar erklärt werden, der alle seine Zuschauer warnt – Pfeifton? Aufblinkende rote Lampen? -, falls die Gefahr droht, dass sich, von unten her aufsteigend, das Niveau des Versendeten der Marke IQ 80 nähert. Dann hätten die aufgeschreckten Konsumenten noch die Gelegenheit, rechtzeitig per Fernbedienung umzuschalten von Super RTL auf 9Live.
Über das Dschungelcamp herzufallen, wo die Zicke und der Dicke boshaft grinsend beweisen, dass sie nicht so blöd sind wie die vielen total bescheuerten Ex-Irgendwasauchimmer, denen sie die Würmer aus Nase und Ohren ziehen, ist langweilig. Die Show erfüllt ihren Zweck, die Blöden für Stunden von den Straßen fernzuhalten und die dadurch sicherer zu machen. Es fallen anschließend für eine gewisse Zeit, solange das Honorar von RTL reicht, arbeitslose C-Prominente nicht mehr dem Sozialstaat zur Last.Wer in Insekten baden musste, wird in Zukunft nicht nur einmal pro Woche beim Nachbarn duschen. Selbst für früh Ausgeschiedene wird sich ein Auftritt in irgendeiner drittklassigen Talkshow bei Frau Bärbel, Frau Birgit, Frau Britt arrangieren lassen.
Immer noch gut genug, egal, wie schlecht sie auch waren, sind sie für eine Wiederholung in der Müllverbrennungsanlage Voll Total, von Montag bis Donnerstag jeweils zur selben Zeit wie die ARD-Tagesthemen, wenn auf Super-RTL alles verwertet wird, was bei RTL, in welchem Debil-Format auch immer, angefallen und dem Moderator, der stets das gleiche Hemd, den gleichen Anzug, die gleichen Schuhe trägt, aufgefallen ist. Im Grunde eine geniale Idee: Man macht aus den Resten der anderen hauseigenen Blödmacher selbst was Blödes. Billiger geht’s nicht.
Oder ist es vielleicht die heimliche Rache einer verschworenen Gemeinschaft von zutiefst Verzweifelten innerhalb der Anstalt, einer Untergrundorganisation, die auf die geniale Idee gekommen ist, sich als bescheuert zu tarnen, um am Beispiel unterschichtiger Brüllshows von bescheuerten Schamlosen in Serie zu beweisen, dass kein Unterschied besteht zwischen den befragten und den fragenden Blöden?
Sich außerhalb der Anstalten zu retten in allgemeine rhetorische Fragen, die nach vorgetäuschtem Tiefgang (VGT) klingen, ist zwar schnell vollbracht. Beispielsweise: Gab es nicht immer schon und zu allen Zeiten mehr Blöde als Kluge? Ist Volksverdummung nicht immer schon ein herrschaftserhaltendes Bestreben der Mächtigen gewesen? Fällt die allgemeine Verblödung nur deshalb so auf, weil die Blöden zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit über eigene Sender verfügen?
Tolle Fragen. Dreimal kurzes Ja als Antwort.
Bei einzelnen Originalformaten wird es weitaus schwieriger, sich zu entscheiden. Hilfreich ist eine Beschränkung auf die beiden erfolgreichsten Mütter allen Schlachtens, einmal Deutschland sucht den Superstar, zum anderen Germany’s Next Topmodel. Beide Formate haben im Gegensatz zu versendeten Plagiatoren wie The Biggest Loser, wo Katarina Witt gut sichtbar die Vergeblichkeit allen irdischen Trachtens verkörpert, auf Dauer das Gewicht zu halten oder den nächsten Uri Geller zu finden, wo schon der tatsächliche nicht zu unterbieten ist, zwei absolute Superstars als Markenzeichen für Kompetenz: Dieter Bohlen und Heidi Klum.
Diese von ihnen selbst erarbeitete Fallhöhe ist genau berechnet worden, auf dass sie beim Sturz der Kandidaten wirksam sei, sie ist sozusagen das Pfund, mit dem sie wuchern. Was beide wissen und sich entsprechend ihrem Gewicht bezahlen lassen für die zugeteilten Rollen. Ihre Popularität, der eine bekannt als Modern-Talking-Sangesbruder und als Gefährte von Teppichludern, die andere als Supermodel und Mutter, die ihre Brüste zärtlich Hans und Franz nennt, ist ihr Kapital.
Ähnliche Traumquoten in seiner Zielgruppe erreicht nur noch der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR). Der gehört zu den öffentlich-rechtlichen Kanälen, obwohl er auch unter den Privaten keinen zu fürchten hätte, eben weil er sich vor nichts scheut. Zum Beispiel keine Scheu kennt, Grenzen zu unterschreiten. Allerdings schafft der MDR die Quoten nicht in der von Bohlen und Klum avisierten Altersklasse ab dreizehn Jahren, sondern bei deren Großeltern.
Weil der MDR verantwortlich von höchst bescheidenen Menschen geleitet wird, die sich nicht für moralischer, klüger, anspruchsvoller dünken als ihr Publikum und das Programm machen, das ihnen selbst gefällt, sind sie zum Marktführer unter allen regionalen Dritten der ARD geworden. Aus Sicht des Westens ist es ein »Paralleluniversum« (Stefan Niggemeier) der unbekannten Art, mit dessen Bewohnern als Fremden von einem anderen Stern. Die vom MDR beglückten Menschen bekommen für ihre Gebühren genau das, was sie lieben, und damit das, was ihnen gebührt. Gern sehen sie nach wie vor bunte Kessel voller Toupetträger, kichernder Blondinen, scherzender Nervensägen, die in anderen geschlossenen Anstalten längst Hausverbot haben. Im anwesenden Publikum amüsieren sich, wie bei den Kameraschwenks ins schunkelnde Volk sichtbar wird,Vertreter der Frisurenmode Vokuhila – vorne kurz, hinten lang – mit ihren entsprechend hochtoupierten Frauen.
Der MDR ist offenbar eine menschenfreundliche, keine menschenverachtende Vereinigung. Sein Unterhaltungschef hat sich schon im untergegangenen Zwei-Kanal-System der DDR intensiv um die Probleme seiner Mitmenschen gekümmert und deren Kummer weitergegeben ans Ministerium für Staatssicherheit. Menschenverachtung könnte vielmehr anderen Sendern vorgeworfen werden, zum Beispiel dem Sender, in dem Big Bohlen mit zitternden Prolos umgeht wie mit Leibeigenen.
Die bunten Kesselflicker des MDR holen in ihrer Güte dagegen nicht nur ostdeutsche Scheintote aus ihren Altenheimen, lassen sie vor laufenden Kameras singen, tanzen, blödeln. Sondern sie geben auch lahmen westdeutschen Zirkuspferden noch Zucker, fördern so die innere Einheit der Nation. Was den Privatsendern die Suche nach irgendwelchen Superstars, ist dem Marktführer Ost die Volksmusik. Da blubbert’s im Biotop vor Glück. Alle dort heimischen Brüder und Schwestern sowie alle, die nicht rechtzeitig aus den Wernesgrüner Musikantenschenken fliehen konnten, werden von der Moldau bis zur Mulde versendet.
Ist es überhaupt sinnvoll, den Unterschied zwischen Gasse, Gosse und Boulevard zu erklären, weil es die sich dort Tummelnden eh nicht verstehen würden? Lässt sich unterscheiden zwischen Provokation auf allertiefstem Niveau, um sich im Sinne des geheimen Konzepts an den Reaktionen zu ergötzen, und hörbar werdender Kumpanei auf ebendiesem Niveau? Nehmen die öffentlich geschlachteten Jugendlichen jede Bohlen-Demütigung hin, weil sie nur so ihre zwei Minuten Fernsehpräsenz bekommen, mit der sie wenigstens in ihren Dunstkreisen angeben können? Ist es schwarzer Humor oder nur Ausdruck von menschenverachtender Dreistigkeit, wenn Ilka Bessin alias Cindy aus Marzahn bei ihren Auftritten vor augenscheinlich eindeutig gedankenfreien Prolos für den Satz bejubelt wird: »Ich habe Alzheimer-Bulimie, erst esse ich alles, dann vergesse ich zu kotzen«?
Schlimmer geht’s nicht?
Ach was, geht noch.
Auf Viva, dem einst frechen Alternativkanal zu öffentlich-rechtlichen Musiklangweilern, inzwischen aufregend wie 9Live, wo Moderatorinnen und Moderatoren beschäftigt werden, die nicht mal mehr der MDR vor die Kamera lässt, lief ein Casting-Surrogat namens Are U Hot. Zu allen anderen Shows dieser Art, egal, auf welchem Sender, verhält sich die wie Roger Whittaker zu Frank Sinatra. Bei Viva treten junge Menschen auf, die berechtigte Zweifel an Darwins Evolutionstheorie wach werden lassen, was aber ebenso gilt für die Ansagerin und die Jury und das Publikum. Insofern kann man das Ganze auch eine in sich stimmige Sendung nennen. Worum es dabei geht, wer gewinnt und was er/sie dafür tun müssen, ist egal.
Befragt, was er denn tun würde, um ins Fernsehen zu kommen, und sei es auch bei Viva, antwortete ein voll geiler Halbwertiger, er sei bereit, sein Auto gegen einen Baum zu fahren. Was ihm einen Auftritt im Motormagazin Grip auf RTL 2 bescheren würde beim Themenschwerpunkt, der unter dem Motto stand, was wohl passiere, wenn einer mit »Highspeed durch eine geschlossene Schranke donnert«. Zumindest würde er das Brett vor dem Kopf dabei verlieren, aber selbst dann bliebe ja der Kopf weiterhin leer.
Lange Zeit führten in einer gemeinen persönlichen Rangliste des Ekels Katarina Witt (ProSieben), Oliver Geissen (RTL) und Birgit Schrowange (ebenfalls RTL). Bis schließlich dann doch drei Formate gewannen, die von Grenzdebilen für Debile mit Berufsziel Hartz IV produziert worden sein müssen. Ihnen gilt der Seufzer: Herr, nimm sie zu dir, und dies möglichst bald! Einmal das bereits erwähnte Are U Hot auf Viva, dann die Gerichtsshow Echt gerecht auf Super RTL, wo von Mimen, die selbst Betreiber von Geisterbahnen, vom Grauen gepackt, sogar dann ablehnen dürften, falls die Bewerber als Gagen nur ein warmes Mittagessen verlangen würden, sogenannte alltägliche Fälle nachgestellt werden. Und schließlich Mister Perfect auf Sat.1, präsentiert von einem Moderator namens Alexander Mazza, der sogar bei jenem oben spielerisch ausgedachten regionalen Wettbewerb nicht zugelassen worden wäre. Nicht mal die Verantwortlichen schauten sich das lange an und machten das Licht bald aus.
Bei Mister Perfect gab es, na was schon: eine Jury – doch weil diesmal der rundum tollste Mann gesucht wurde und nicht irgendein aus dem Hals singender Tanzbär, saßen in der nur drei weibliche D-Prominente. Ein Gentleman hört sich die an und schweigt. Alexander Mazza ist keiner. Er kommentierte die supergeilen Sprüche, und es gelang ihm mühelos, jeden sprachlich und gedanklich zu unterbieten. Im Studio freuten sich vierhundert jüngere Frauen auf die Chance, per Knopfdruck einen Kandidaten rauszuwählen. Wen es dabei in Form eines Wasserschwalls traf, war egal, denn die Männer waren in ihrer Schlichtheit austauschbar. Was wiederum nicht überraschend ist.Wer sich für ein solches Spiel meldet, muss ganz einfach eine Klatsche haben, auch wenn die nicht auf den ersten Blick deutlich erkennbar ist.
Das liest sich so hingeschrieben natürlich menschenverachtend gemein. Denn eigentlich können die Genannten nichts dafür, dass sie blöd sind. Im normalen Leben würden sie gar nicht weiter auffallen. Sie wären da nie einsam, nie allein, Millionen sind genauso wie sie. Die eigentlichen Menschenverächter sind aber die verantwortlichen Produzenten für diese und viele andere Formate. Sie bleiben unsichtbar. Keiner kennt sie außer ihren Familien. Über sie und ihre unterschiedlichen Brüder unter gleichen Kappen wie jene aus dem zweitältesten Gewerbe der Welt, die Verleger von Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, wird noch zu schreiben sein. Freundlicher wird das nicht. In diesem Kapitel hier geht es nur um sichtbar werdende Beleidigungen, um die täglich versendeten Attacken auf Geschmack und Verstand.
Kann man sich denn nicht einfach ausblenden und die Pflege der Blöden den Blöden überlassen? Wer ist gezwungen, sich auf Seichtgebiete zu begeben?
Niemand, das stimmt.
Aber bedeutet das nicht, sich resignierend damit abzufinden, dass Deutsche mehr denn je verblöden, was ja nicht ohne Auswirkungen bleiben kann auf die innere Verfassung der Republik? Und damit doch die ganze Gesellschaft betrifft?
Wieder nur rhetorische Fragen. Es ist ja längst so, wie es in denen umschrieben wird. Die hemmungslose Verblödungsmaschine läuft und läuft und läuft. Was sie ausspuckt, findet in der Gegenwart statt. Täglich. Stündlich. Immer.
In einer Nacht wie vielen anderen beklagte eine Frau, die von hinten blond aussah wie Sydne Rome in ihren männermordenden besten Zeiten und, als sie sich zur Kamera drehte, wie Leni Riefenstahl nach ihrem letzten Tauchgang, dass sie als seriöse Schauspielerin (!) keine Rollen mehr bekommen würde, sobald die Produzenten ihre prallen Möpse erblicken würden. Sie sagte tatsächlich »Möpse« und hielt dieselben, mit beiden Händen klammernd, anklagend hoch. Das hohe Gericht blickte beeindruckt.
Worum ging es in diesem offensichtlich besonderen Fall bei »Echt gerecht«? Eine Krankenschwester war angeklagt, weil sie vor einer Schönheitsoperation aus Versehen die Akten von zwei Patientinnen verwechselt hatte. Die eine wollte kleinere, die andere größere Brüste.Wie das Leben so spielt, tat der Arzt gemäß der Vorgabe, die in den Akten stand, seine schnittige Pflicht. Leider machte er dabei die großen Brüste noch größer und die kleinen noch kleiner. Kann er was dafür? Hätte er vielleicht nachdenken sollen, bevor er zum Skalpell griff? Nein, hätte er nicht. Fürs Nachdenken wird er nicht bezahlt. Freispruch! Die Krankenschwester dagegen wurde zu sechs Monaten mit Bewährung verurteilt.
Dass die Szenen alle von irgendwelchen Knattermimen gestellt waren, die alle eine ihnen vorgeschriebene Rolle erfüllten – nein, spielen darf man das nicht nennen -, mag Gemüter erfreuen, die gern mal kleinere oder größere Möpse im Fernsehen betrachten. Dass die Erfinder solchen Schwachsinns, die wahrscheinlich als Beruf beim Finanzamt »Drehbuchschreiber« angeben, nicht längst verurteilt worden sind, und zwar ohne Bewährung, ein Jahr lang in einer Bahnhofsmission die Klos zu säubern, ist auch nicht wesentlich. Gott der Gerechte wird sie irgendwann erwischen, genau in dem Moment, in dem sie wieder mal nichts denken.
Der Mutterkonzern des ausstrahlenden Senders, bei dem es ähnlich geschmackvoll zum Beispiel um Vaterschaftstests geht, was für die Zielgruppe ALG 2 abwärts ja durchaus von Nutzwert sein kann, um ihre wahren Verhältnisse und wer aus denen tatsächlich stammt, kennen zu lernen, heißt Bertelsmann.Warum dieser dem christlichen Menschenbild verpflichtete Konzern, zu dem auch der Verlag gehört, in dem dieses Buch erschienen ist, nicht längst strafend und ohne Bewährung zu geben eingegriffen hat, ist zwar erstaunlich.
Aber leicht erklärbar. Es geht ums Geld. Je höher die Quote, desto teurer sind die einzelnen Werbeminuten. Je jünger die Zuschauer, desto besser lassen sich die Formate verkaufen. Niemand will die richtig Alten außer bei den Abenden der Volksmusik, aber die laufen in den öffentlich-rechtlichen Sendern nach der Tageschau, wenn Werbung nicht mehr erlaubt ist. Die hohen Quoten wiederum kann man immerhin für Eigenwerbung nutzen, die heben den Durchschnitt am Monatsende. Es führt ARD knapp vor dem ZDF, danach folgen RTL, Sat.1, ProSieben, VOX, RTL 2, Kabel eins, Super RTL.
Super RTL? Wäre das nicht der ideale Sender für alles, was mit »Super« zu tun hat? Also ein Spartenkanal für Superdeppen? Wäre das am Ende vielleicht die einzig sinnvolle Antwort auf die so oft gestellte Frage, wo denn verdammt noch mal das Positive bleibe – die aber erst im letzten Kapitel beantwortet werden soll?
Man könnte allerdings schon mal einen Hinweis geben.
Vor vielen Jahren gab es ein Ereignis in der Fernsehgeschichte, das die Deutschen so erschüttert hat wie keines davor und keines mehr seitdem. In allen dritten Programmen lief damals die Fernsehserie Holocaust – die Geschichte der Familie Weiss. Die Einschaltquoten lagen zwischen 32 und 41 Prozent. Bei den Westdeutschen – in der DDR konnten die dritten Programme der ARD nicht empfangen werden – zwischen vierzehn und neunundzwanzig Jahren, genau der Altersgruppe, in der heutzutage Bohlen und Klum und Co. regieren, schalteten fast siebzig Prozent jede Folge ein. Die Geschichte von zwei Familien, eine jüdischen Glaubens, die andere nazigläubig, entfaltete mit den Stilmitteln spannender Unterhaltung, was Historiker trotz aller Aufklärung nicht geschafft hatten: nachhaltige Wirkung. Mit den Emotionen wurden fünfzehn Millionen Menschen erreicht, von denen viele für blöd gehalten worden waren, weil sie nicht wussten, was man über die Verbrechen der Deutschen hätte lesen können, oder aber nicht hatten wissen wollen, weil sie mitgemacht hatten.
Die größte deutsche Illustrierte, der »Stern«, nutzte damals die kollektive Scham, die Erschütterung, erzeugt durch die Symbiose von Realität und Fantasie, und zeigte auf zwanzig Doppelseiten das Grauen in den KZs, Fotos des Massenmordes, Aufnahmen von Opfern und von Tätern. Überschrift: »So war es wirklich«.
Gepredigt wurde, als die Kirche überfüllt war.
Gute Unterhaltung weckt Bewusstsein.
Sie muss nicht so blöd sein, wie sie gemacht wird.