KAPITEL IV
Little Monster Horror
Schools
Als sie von einem
Neunjährigen gefragt wird, ob sie gestern gut gefickt worden sei,
woraufhin seine Mitschülerinnen und Mitschüler der dritten Klasse
zu kichern beginnen, weiß die junge Lehrerin, es dürfte mal wieder
einer jener Tage werden, an deren Ende sie nur noch eine Migräne
umarmt. Eine Schulstunde, die so beginnt, ist nicht mehr zu retten.
Zwar ahnt der Kleine mit den vorstehenden Zähnen, dass dies
irgendetwas sein muss, was nur die Größeren tun. Doch welche
Tätigkeit nun genau mit dem Wort beschrieben wird, das er in seiner
Frage benutzte, weiß er natürlich nicht.
Zu Hause hat er es aber schon oft gehört.
Morgen-Grauen dieser Art, konfrontiert mit dem, was im
Einzugsbereich ihrer Lehranstalt aktuell den elterlichen Dialog am
Abend davor geprägt hat, sind weder für sie noch für ihre
gleichaltrigen Kollegen an Grundschulen die Ausnahmen. Schon lange
nicht mehr. Solche Momente stehen in keinem Stundenplan, und solche
zu meistern ist sie beim Studium nie gelehrt worden. Sie musste
sich deshalb eine passende eigene Strategie ausdenken, um mit
derartigen Situationen fertig zu werden, denn Gespräche mit älteren
Lehrerinnen und Lehrern, um dort Rat zu finden, halfen nicht
weiter.Von denen haben viele resigniert.
Zu viele zählen allenfalls noch frustgeplagt die
Jahre, bis sie sich so früh wie irgend möglich in den Ruhestand
zurückziehen können, vermitteln so lange nur noch pflichtschuldig
den im Lehrplan vorgeschriebenen Stoff, um ihren vorgesetzten
Behörden keine Angriffsflächen zu bieten. Die ganz Jungen, die noch
unverbraucht sind und Kraft hätten zum Widerstand, schauen sich das
alles fassungslos an und beschließen nach kurzer Zeit, sich für
höhere Schulformen zu bewerben, statt am Bodensatz der Gesellschaft
Pionierarbeit zu leisten.
Es ist vielen Lehrern egal, ob sie ihre Schüler
noch erreichen oder nicht, es ist zu vielen von ihnen egal, ob die
noch etwas lernen oder nicht. Sie sind ausgebrannt, fühlen sich
ausgenutzt, engagieren sich nicht mehr. Seit viele dank moderner
Technik auch noch im Netz von anonym bleibenden Rufmördern
attackiert werden, zum Beispiel unter www.schulradar.de,
ohne sich konkret wehren zu können, während viele andere Kollegen
sich im anonymen Online-Lob sonnen, gibt es auch untereinander
keine alle schützende Solidarität mehr. Die einstige Leidenschaft
für den Beruf, für den sie sich heißen Herzens berufen fühlten, ist
auf dem Schulhof beerdigt worden. Grabreden waren im Lärm der
klingelnden Handys nicht zu verstehen.
Ist das Beispiel der Lehrerin, deren Intimsphäre
am frühen Morgen vor Unterrichtsbeginn hinterfragt wird, nur
deshalb als Einstieg gewählt, um möglichst hautnah die These zu
belegen, dass die seit Jahren täglich versendete Verblödung via TV
aus deutschen Schulen des künftigen Lebens Little Horror Shops
gemacht hat, bevölkert von vielen kleinen Monstern?
Nein, ist nicht so.
Vielerorts geht es so zu wie beschrieben. Die
Empörungsschwelle jedoch ist mittlerweile zu hoch, als dass
alltägliche Verstöße gegen Benehmen und Anstand noch registriert
werden. Vergleichbar etwa, nicht in der Wirkung, aber typisch für
abgestumpfte Wahrnehmungen – und dieser Vergleich kommt nicht mal
von ungefähr, sondern von daher -, einem Überfall von
rechtsradikalen Dumpfbacken auf Fremde und Andersdenkende.Was im
Übrigen kein nur deutsches Phänomen mehr ist, sondern ebenso in
Österreich passiert und, aufnehmend die Stimmung der Straße, sich
in der Schweiz bei einer staatstragenden Partei wie der SVP in
Stimmen niederschlägt. Entsprechende Volksbegehren immerhin werden
dort von einer aufgeklärten bürgerlichen Mehrheit bisher noch stets
niedergestimmt.
In Deutschland werden längst nicht mehr alle
Überfälle von rechtsradikalen Jugendlichen in den Zeitungen
vermeldet. Man hat sich daran gewöhnt, so wie sich Lehrer an ihre
Monster gewöhnen mussten. Der Bodensatz an gewaltbereiten
Einfaltspinseln wird als Preis der Freiheit hingenommen, die
schließlich für alle gilt, also auch für ihre Gegner. Der Rückzug
des Staates allerdings aus ländlichen Regionen vor allem im nahen
deutschen Osten gibt Rattenfängern alle gewünschten Freiheiten,
sich im Leerraum niederzulassen und beim Leergut Nester
einzurichten. Nach einer Studie des Kriminologischen
Forschungsinstituts Niedersachsen sind angeblich dreißig Prozent
von 45 000 befragten Jugendlichen aus neunten Klassen, also meist
15- bis 16-jährige Schüler, der Meinung, dass zu viele Ausländer in
Deutschland leben. Und rund zweieinhalbtausend von ihnen in
rechtsextremen Gruppen und Kameradschaften organisiert, mehr als in
den demokratischen Parteien.
Alarm?
Dass es zu viele sind, ist unbestritten. Aber
dennoch hinkt der Vergleich des Instituts mit demokratischen
Jugendorganisationen von Parteien, Kirchen, Sozialverbänden.
Mitglieder bei CDU, SPD, FDP und Grünen sind mehr als 200 000 junge
Erwachsene zwischen 14 und 35 Jahren, bei den Katholiken sind es
650 000, und die Evangelische Jugend nennt sogar eine Zahl von 1,2
Millionen.
Weil es bei Erlebnissen wie jenen, die der oben
erwähnten Lehrerin X in ihrem Klassenzimmer fast täglich
widerfahren, nicht um talkshowträchtige Schulen der Gewalt in
Problemvierteln von Berlin, Dresden, Duisburg, Frankfurt geht oder
gar um singulär schreckliche und allen hilflosen Versuchen der
Deutung zum Trotz unerklärliche Ereignisse wie den Amoklauf eines
Siebzehnjährigen in der beschaulichen Kleinstadt Winnenden in
Baden-Württemberg, sondern wie bei den Neonazis um den Teil eines
inzwischen als normal empfundenen Alltags, wird dies achselzuckend
abgehakt als nicht zu ändernde deutsche Realität. Schließlich
handele es sich doch immer noch um Kinder, und dass die in den
ersten Schuljahren noch nicht wissen könnten, was sie tun oder was
sie daherreden, sei doch verständlich.
Oder etwa nicht?
Aber genau da, in den Grundschulen der Nation,
fängt es an. Genau da wird bereits Leergut gestapelt, das viele
Jahre später die staatlichen Sammelstellen entgegennehmen müssen,
wofür dann Pfand in Form von ALG 2 bezahlt wird, was wiederum die
aufregt, die sich zuvor nie ums Leergut gekümmert haben. Kinder
aber sind kein Leergut, egal, wie hoffnungslos leer ihre Köpfe auch
schon zu sein scheinen. Man könnte sie füllen. Mit Wissen. Mit
Zuneigung. Mit Hoffnung. Mit Träumen. Mit Wissen.
Man könnte.
Aber man tut es nicht.
Ist es eh zu spät?
Zu viele Grundschulen, in denen grundsätzlich die
Reisen zu jenen fernen Horizonten und das damit verbundene
spannende Abenteuer namens Lernen beginnen sollten, in denen einst
die Grundsteine gelegt wurden für die folgenden Schuljahre, sind
abgeschrieben. Und damit auch die meisten, die dort eingeschult
wurden. Die Formel:Verblödete Eltern plus blöd gehaltene Kinder
plus frustrierte Lehrer = zukünftiges verblödetes Prekariat, ist so
einfach aufgestellt zwar nur vereinfachend blöde.
Aber kommt der Realität oft verdammt nahe.
Die Eltern von der Sonnenseite, die sich bei
verschiedenen vorschulischen Informationsveranstaltungen kundig
gemacht haben, bevor sie sich entscheiden, welche der Anstalten mal
gut genug ist für ihr Kind, scheuen keine weiten Wege. Sie nehmen
nicht die nächstbeste Grundschule, sondern die beste, egal, wie
weit entfernt die von ihrer Wohnung auch sein mag. Und wenn ihnen
selbst die beste nicht genug ist, melden sie ihre Kinder auf
Privatschulen an, die mit inzwischen fast 700 000 Zöglingen einen
ähnlichen Boom erleben wie Billigmärkte, wo sich die Unterschicht
trifft.
Letzteres nicht etwa, weil es dort so schön ist,
sondern weil wegen Wirtschaftskrise, steigender Arbeitslosigkeit
und sinkender Einkommen die günstigen Angebote, an denen sich aber
auch Mittel- und Oberschicht erfreuen, für sie nicht nur Lebens-,
sondern auch Überlebensmittel sind.Vorübergehend erlebte
Marktführer Lidl einen Extra-Boom, weil seine Stammkundschaft
darauf hoffte, bei ihren Einkäufen fürs Fernsehen entdeckt zu
werden.Als die von Überwachungskameras aufgezeichneten
Alltagsszenen gelöscht werden mussten, es also nichts mehr werden
konnte mit einer Karriere bei Super RTL, gingen sie wieder zu
Aldi.
Die Schere zwischen Arm und Reich, auch die
zwischen nicht ganz so Arm und nicht ganz so Reich, zwischen denen,
die von ihrer Arbeit leben können, und denen, die keine haben und
keine Hoffnung, irgendwann wieder eine zu bekommen, weil sie das
nicht können, was gebraucht wird, weil sie es nie gelernt haben,
öffnet sich immer weiter. Das ist bekannt. Nicht so bekannt ist,
dass eine ganz andere Schere auseinandergeht, die zwischen
Informationsarmen und Informationsreichen, und wie früh sich der
Klassenunterschied schon zeigt, nämlich in der ersten Klasse.
Den Satz von Seneca, »Non vitae, sed scholae
discimus« – Nicht fürs Leben, sondern für die Schule lernen wir -,
mit dem er das pädagogische Geschwurbel an römischen
Philosophieschulen aufs Korn nahm, haben Generationen von
Lateinlehrern unwidersprochen für ihre Zwecke umgedreht und falsch
zitiert, nämlich: Non Scholae, sed vitae discimus, also dass man
auf den Schulen fürs Leben lerne. Aber was von ihnen als Motivation
gedacht war, um faule Schüler aufzustacheln, mit eigenen Beiträgen
den Unterricht zu beleben, verpufft inzwischen im Hier und
Nichts.
Mit lebenslang spürbaren, sichtbaren Folgen. Das
zutreffende Schlagwort lautet Hartz-IV-Falle. »Drei Viertel der
arbeitslos gemeldeten Jugendlichen ohne Schulabschluss beziehen
Hartz IV«, stellte der Deutsche Gewerkschaftsbund in einer Studie
fest, die der Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy im Februar 2009
vorstellte. Insgesamt neunhunderttausend Jugendliche zwischen
fünfzehn und vierundzwanzig Jahren sind auf staatliche Hilfe
angewiesen, im Osten mehr als im Westen der Republik, da ist es
jeder sechste in der entsprechenden Altersgruppe, im Westen jeder
zehnte. Wer einmal in dieser Falle gefangen ist, sagt die
Untersuchung, habe ohne fremde Hilfe kaum Chancen, sich jemals aus
eigener Kraft zu befreien.
Was hat das mit den oben erwähnten Kindern auf den
Grundschulen zu tun? Jenes deutsche Sprichwort, dass Hans
nimmermehr lernt, was Hänschen nicht gelernt hat, umschreibt
präzise deren Zukunft. Die Schande Kinderarmut könnte zwar ein ja
immer noch reiches Land wie Deutschland dadurch mildern, dass es
einen gesetzlichen Anspruch auf ein Frühstück und eine warme
Mahlzeit in allen Schulen gibt, in denen die Mehrheit der Kinder
aus Familien kommt, die sich entweder darum nicht weiter kümmern,
weil die Hauptnahrung der Eltern flüssig ist und es dafür bei ihnen
gerade noch reicht. Oder weil es wirklich nicht mehr fürs Essen
reicht und sich die Eltern schämen, das zugeben zu müssen oder gar
sich mit ihren Kindern einzureihen in die Schlangen vor den
Suppenküchen der Sozialverbände und der großen Kirchen. Die gehen
in ihren Berechnungen davon aus, dass zweieinhalb Millionen Kinder
unter die sogenannte Armutsgrenze fallen.
Nahrung aber braucht nicht nur der Bauch. Nahrung
braucht auch der Kopf. Nahrung braucht nicht nur der Körper.
Nahrung braucht auch die Seele. Das Leergut Kopf zu füllen haben
sich die Fastfood-Hersteller der medialen Verblödungsindustrie als
Ziel gesetzt. Die sind mit ihrem Speiseplan erfolgreich. Aus dem
Tagebuch der Lehrerin X: »Der TV-Konsum wird immer schlimmer.Als
ich einen Zehnjährigen frage, was er am liebsten in seiner Freizeit
macht, antwortet er: abhängen vorm Computer oder vorm Fernseher.
Die ALG-Familien unter meinen Schülern sind alle (!) ausgestattet
mit Handy, DVD (Video ist doch überholt), PC und Playstation, von
der die Spiele pro Stück fünfzig bis siebzig Euro kosten.Als
liebster Film wird Die Mörderpuppe genannt,
das ist Action pur, und was dort passiert, wird auf dem Schulhof
brutal nachgespielt. Als ich eingriff, waren sich aber alle
einig:Wir spielen doch nur.«
Während sich die Eltern der einen um alles kümmern
und bei jeder sich bietenden Gelegenheit über Lehrer beschweren,
statt mal ihr Verhalten zu hinterfragen, betrachten die Väter
und/oder Mütter der anderen die Schulen, in die sie ihre Kinder
schicken müssen, mal weniger, mal öfter, mal ohne Frühstück, mal
mit, aber möglichst mit Handy, als eine Art staatliche
Verwahranstalten. Ihre Kinder versäumen ihrer Meinung nach nichts,
wenn sie zur Schule gehen.Vormittags werden nur die Sendungen im
kommerziellen Fernsehen wiederholt, die schon am Tag zuvor oder
spät in der Nacht gelaufen sind.
Was die Kinder der Unterschicht tagtäglich in
ihren häuslichen Biotopen erleben, die von eingebildeten Ständen
Seichtgebiete des Prekariats genannt werden, die es aber in all
ihrem spießigen Schrecken tatsächlich gibt, gleicht dem Auftritt
des sagenhaften Murmeltiers, das gestern so grüßte, wie es heute
grüßt und wie es morgen grüßen wird. Solange sich an einem Alltag
nichts ändert, der ursächlich ist für Fragen wie die des
Neunjährigen, werden jeden Morgen die Lehrer mit den entsprechenden
Auswirkungen konfrontiert.
Es ist deshalb Alltag an vielen Grundschulen
normaler deutscher Städte, an denen laut hehrer Vorgabe des
Gesetzgebers »sprachliche und mathematische Grundkenntnisse als
Fundament für die Übergänge zu Haupt-, Real- und Gesamtschulen
sowie Gymnasien« vermittelt werden sollen. Der früher gebräuchliche
Name »Volksschule« statt »Grundschule« wäre heute übrigens wieder
passend, weil sich dort im Grunde das eigentliche Volk
sammelt.
Als normal gilt, was vor wenigen Jahren noch
örtliche Politiker aufgeschreckt hätte. »Solange sie sich nur
verbal Gewalt antun, gegenseitig als ›Hurenkind‹ oder ›Arschloch‹,
als ›Wichser‹ oder ›schwule Sau‹ beschimpfen, sind wir inzwischen
so abgestumpft, dass wir so tun, als hätten wir es nicht gehört.
Erst dann, wenn sie sich tatsächlich prügeln, schreiten wir ein«,
sagt eine andere Lehrerin, die allerdings bis heute nicht verwunden
hat, dass einer ihrer zehnjährigen Schüler in blinder Wut wegen
ihrer Aufforderung, nicht mehr auf einen bereits am Boden liegenden
noch Kleineren zu treten, so auf sie einprügelte, dass sie im
Krankenhaus behandelt werden musste.Verwunden nein, verziehen
ja.
Denn der kleine Schläger saß weinend im
Klassenzimmer, als sie zurückkam in die Schule, und flüchtete sich
in seiner Hilflosigkeit auf ihren Schoß. Sie musste ihn trösten,
denn er wusste, dass er, wie er es ausdrückte, »große Scheiße
gebaut« hatte. Seine Eltern hat sie trotzdem nicht informiert, weil
sie ahnte, wie die reagieren würden. Die hätten ihn verprügelt,
weil sie eine andere Sprache der Verständigung mit ihren Kindern
nie gelernt hatten.
Man nennt solch kindliches Verhalten auffällig
oder gestört, je nach Schwere der Vorfälle. Zu viele Lehrer, die in
ihrer Mehrheit nicht, wie das Vorurteil der eingebildeten
Oberschicht lautet, faul sind, sondern am Ende ihrer
Widerstandskraft, wissen sich in ihrer Hilflosigkeit nur noch mit
dem Ruf nach speziellen Kindertherapeuten zu helfen. Deren Diagnose
lautet am liebsten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, kurz ADS, und zur
Bekämpfung wird nicht etwa die Ursache erforscht, sondern schlicht
das Syndrom mit Medikamenten behandelt. Ritalin heißt eines der
Zaubermittel, das alle Probleme lösen soll. Zu möglichen
Nebenwirkungen könnte man Ärzte oder Apotheker befragen.
Gefeiert werden dagegen öffentlich jene Schulen,
die sich nach den verheerenden PISA-Urteilen über das sich
abzeichnende Dritte-Welt-Bildungsland Deutschland selbst aktiv aus
dem Sumpf gezogen haben, obwohl sie ihre Zukunft hinter sich zu
haben schienen. Da strahlen dann Rektoren, Schulräte,
Schuldezernenten, auch mal der Bundespräsident, in die
aufgestellten Kameras der verschiedenen Sender.
Und alles scheint wieder gut.
Doch der Schein trügt. Gegen die von diesen
Sendern verbreiteten Lebenshilfen in allen möglichen
Dummy-Formaten, präsentiert von Lehrbeauftragten ohne Ausbildung,
mit dem einzigen Auftrag, Quoten zu erzielen, haben die wirklichen
Lehrer auf der untersten Sprosse der Bildungsleiter keine Chance.
Sie können ihre Botschaften schließlich nicht singend, tanzend oder
barbusig verkünden, sich als Germany’s Next
Topmodel oder kommender Superstar
verkleiden, damit ihnen die Kleinen auch lauschen, weil sie solche
Anreize und Formate gewohnt sind von RTL und Sat.1 und ProSieben
und Kabel eins und RTL 2 und Super RTL und Viva und VOX oder wie
sie sonst noch heißen mögen, die Relaisstationen der niederen
Instinkte.
Die bringen ihnen ihre besten Freunde frei Haus.
Nach deren Verhalten richten sie ihr eigenes Verhalten.Was die
supergeil finden, halten auch sie für supergeil. In einer
Untersuchung, repräsentativ für sechs Millionen deutscher
Schulkinder zwischen sechs und dreizehn Jahren, der sogenannten
KIM-Studie 2008, hat der Medienpädagogische Forschungsverbund
Südwest festgestellt, dass »Fernsehen die wichtigste Rolle« spielt
im Alltag der befragten jungen Deutschen. Das ist nicht
erstaunlich. Diese erste große Liebe schlägt sich nieder in der
Verweildauer vor dem Fernsehapparat, durchschnittlich 91 Minuten
pro Tag. Lesen steht mit 23 Minuten abgeschlagen hinter
Computerbenutzung und Radiohören auf Platz vier, und diese frühe
Liebe prägt ihr Leben. Sie schauen nicht nur gebannt ins Programm,
sie schenken dem Medium tatsächlich ihr Herz – oder in den Worten
der Nachforscher: »Die Kinder weisen dem Fernsehen gegenüber eine
hohe emotionale Bindung auf.«
Da inzwischen quer durch alle Schichten fast die
Hälfte aller Kinder ein eigenes Fernsehgerät besitzen, pflegen sie
diese Bindungen meist ohne den sie dabei störenden Einfluss ihrer
Eltern. Sie lassen sich lieber von ihren Lieblingen erziehen als
von den lieben Eltern.Auf ihrer Werteskala steht zwar nicht einer
der üblichen Blödmacher oben, sondern der öffentlich-rechtliche
Kinderkanal KiKa, aber das verändert sich, je älter sie werden.
Dann werden hauptsächlich Super RTL und RTL und RTL 2 und ProSieben
eingeschaltet, weil man bei denen mitmachen, etwas gewinnen, sich
für irgendein Casting bewerben kann. Das ZDF liegt im Ranking vor
Sat.1, aber die ARD noch dahinter.
Was so gesehen nach einem knappen Rennen aussieht,
schlägt sich in Antworten auf die Frage, ob sie einen
Lieblingssender haben, jedoch anders nieder. Das Rennen um die
Gunst der Jugendlichen ist längst entschieden: Die als Garanten des
Seriösen geltenden ARD und ZDF laufen abgeschlagen auf den letzten
Plätzen ihren Zielgruppen hinterher. Marktführer Super RTL wird von
21 Prozent der Mädchen und 23 Prozent der Jungen eingeschaltet, das
ZDF von drei bzw. zwei Prozent, die ARD erreicht bei Mädchen wie
Jungen gleich geringe zwei Prozent.
Die Forscher untersuchen das Verhältnis der jungen
Deutschen in dieser Altersgruppe zu Medien, Computer und Internet
seit zehn Jahren. Sie können deshalb Entwicklungen in deren
Verhalten präzise aufzeigen. Um dennoch mehr zu erfahren als das,
was ihnen die befragten Kinder und Jugendlichen diktieren, haben
sie stets parallel dazu auch deren Erzieher mit einem schriftlichen
Fragebogen konfrontiert. Meist waren es die Mütter, die geantwortet
haben. Die Forscher können somit vergleichen, was die einen
behaupten und was die anderen angeben. Dass Gameboys,Videospiele,
Computer eine große Rolle spielen, ist ebenfalls nicht
verwunderlich. Die Nachfrage stieg in den vergangenen zehn Jahren
entsprechend dem Angebot, was logisch ist.
Und es sank die Zahl derer, ebenfalls logisch, die
in ihrer Freizeit lieber lesen: Der Anteil der Nichtleser, wie es
in der Studie heißt, lag 2008 bei einem Sechstel der Befragten. In
absoluten Zahlen ausgedrückt entspricht das einer stattlichen Masse
von rund 950 000 Kindern und Jugendlichen. Sie ist gestiegen von
420 000 (2005) über 640 000 (2006) auf diese erschreckende Höhe.
Die meisten der Nichtleser sind Jungen. Diese Zahlen können
selbstverständlich auch positiv interpretiert werden. Immerhin
lesen noch über fünf Millionen Jungdeutsche gelegentlich oder sogar
öfter ein Buch. Die Frage, ob die Bücher, die sie lesen,
tatsächlich im klassischen Sinne auch Bücher sind oder zum Beispiel
nur als Bücher verkaufte Biografien ihrer Superstar-Lieblinge,
wurde nicht gestellt.
Die Lehrerin, die anfangs von ihrem Schulalltag
erzählt hat, unterrichtet in einem der alten Bundesländer hoch oben
im Norden, und sie hat Vorgänge wie die am Beginn ihrer
Morgenstunde über Jahre hinweg aufgeschrieben. Sie spricht nur für
sich, doch aus vielen Gesprächen, Telefonaten, Begegnungen weiß
sie, dass es anderen ebenso ergeht wie ihr. Zwar gibt es für sie
immer noch Erlebnisse der berührenden Art, wenn sich Kinder zu ihr
flüchten, Rat und Trost und Verständnis bei ihr suchen – ansonsten
hätte sie sich längst schon umschulen lassen.
Aber solche Glücksmomente einer Lehrerin, für die
sie einst den Beruf so liebte, sind seltener geworden. Manche
Notrufe der Sprachlosen erreichen sie per SMS. Dann simst sie
sofort zurück. Auch das gehört heutzutage zum Kontakt zwischen
Lehrern und Schülern. Wer von denen ohne Handy ist, muss wirklich
arm sein.
Grob geschätzt besitzt bereits die Hälfte aller
Schüler zwischen sechs und dreizehn Jahren – und das wären immerhin
dann drei Millionen Mädchen und Jungen – ein eigenes Handy. Und sie
benutzen es nicht nur zum Telefonieren oder Simsen, sondern zum
Fotografieren oder um Filmchen zu drehen. Was zu oft auf dem
Display zu sehen ist, hätte man früher als nicht jugendfrei
bezeichnet.
Als einer Zweitklässlerin, also einer
Achtjährigen, von ihrer Berliner Lehrerin verboten wurde, ihr Handy
während des Unterrichts eingeschaltet zu lassen, wehrte sich das
kleine Mädchen. Sie benutze es ja nicht, könne aber gleich hören
und sehen, falls eine SMS ankomme. Außerdem würde es die anderen ja
nicht stören, sie wolle gar nicht telefonieren, nur ab und an mal
ein Spiel machen, wenn es ihr zu langweilig werde im
Unterricht.
Einem Jungen aus der Nebenklasse, ebenfalls acht
Jahre alt, wird das Handy abgenommen, weil er allen Bitten zum
Trotz während der Mathe-Stunde eine SMS verschickte. Mir egal,
grinste der Kleine, er habe noch drei andere zu Hause. Sein Vater
arbeite in einer Handyfabrik. Die Lehrerin, eine noch
frisch-kräftige, junge, hatte es irgendwann satt, Morgen für Morgen
die Schüler daran zu erinnern, ihre Handys auszuschalten.
Stattdessen sammelt sie die vor Beginn des Unterrichts ein.
Proteste ignoriert sie. Auch die von Eltern.
Einen Rest von ihrem einst so großen sozialen
Engagement hat sich Lehrerin X trotz aller Erfahrungen des Alltags
bewahrt. Viele Kollegen haben zum Selbstschutz solchen Ballast
abgeworfen, den Glauben an ihre Möglichkeiten, etwas ändern zu
können, längst aufgegeben. Sie aber, deren Namen man nicht nennen
darf, um sie zu schützen vor Eltern, Kollegen, Schulräten, hat sich
nicht auf die Beschreibung der Wirkungen beschränkt, sondern nach
Ursachen geforscht. Mit auffällig gewordenen Kindern nach
Schulschluss oder auf Klassenfahrten gesprochen und ihrer Pflicht
bewusst bei Problemen, von denen sie erfuhr, die Eltern zu
erreichen versucht. Erreichen ist im doppelten Sinne gemeint –
einmal tatsächlich durch Hausbesuche, zum anderen mit Versuchen, in
deren Gedankenwelt, wenn es da noch so etwas wie Gedanken gab,
vorzudringen und ihre Hilfe anzubieten.
Falls die gewünscht war.
Die war selten gewünscht.
Ihre Angebote wurden vielmehr als Störung
empfunden. Ihre Bilanz ist deshalb ernüchternd.Wer sich engagiert,
stößt schnell an Grenzen. Nicht nur an die eigenen, sondern auch an
die in der Außenwelt vorhandenen, die staatlichen. Selbst dann,
wenn ihre angebotene Hilfe akzeptiert würde, dauerte es Monate, bis
zum Beispiel ein Mensch von der Jugendfürsorge oder gar eine
Therapeutin, die nicht nur wie üblich Ritalin verschriebe, Zeit
hätte für einen dringenden Fall. Auch diese Schieflage der Nation
ist seit Jahren bekannt, geändert hat sich aber nichts.
Wie zum Teufel ein Kind auf die Frage kommt, ob
die Frau Lehrerin gefickt habe, ist einfach zu beantworten. So
reden die von und auf der Gosse. Früher wechselte man bei deren
Anblick die Straßenseite, heute laufen die den Kindern auf fast
allen Kanälen über den Weg. Der Unterschied zwischen Gosse und
Gasse ist so groß wie der zwischen Prolo und Prolet. Dieser
Unterschied ist nicht nur gewaltig, sondern entscheidend. Lässt
sich ein Zusammenhang feststellen zwischen steigenden Quoten von
verdummenden Formaten und sinkender Lust auf Lernen? Oder ist das
nur eine Vermutung, basierend auf der natürlichen Arroganz von
Bessergestellten und Bessergebildeten?
Muttis aus gehobenen Kreisen blicken angewidert
auf das Treiben der Unterschicht. Warum die so sind, wie sie
glauben, dass die sind, behaupten sie zu wissen. Sie verbieten
ihren Kindern deshalb den Konsum bunt-prolliger Fernsehwelten.
Erlauben nur Dokumentationen auf Phoenix oder Übertragungen von
Opern auf Arte. Sagen sie. Was so verlogen ist wie ihre auf ihr
eigenes Leseverhalten bezogene Behauptung, nur »Zeit« und »Spiegel«
und »FAZ« zu lesen, obwohl sie doch beim Klatsch mit Freundinnen
über jede neue Liebelei von Nadja Abd El Farrag oder Michelle
Hunziker herziehen, wovon sie doch nur aus den üblichen, ihnen
angeblich doch so verdächtigen Klatschorganen erfahren haben
konnten.
Jeder Schul-Pups ihrer Nachkommen ist ihnen einen
gewaltigen Donner wert, den sie am liebsten über die Lehrer
abladen. Alles natürlich zum Wohl ihrer Kinder. Aber die Verblödung
wächst auch bei den vermeintlich nicht so Blöden, die alles tun,
damit es ihren Schätzchen gut geht und ihre Schätzchen nicht nur
Englisch als Pflichtzweitsprache in der Grundschule haben, sondern
auch noch bei der Arbeitsgemeinschaft Spanisch angemeldet sind, bei
der AG Internet, damit die Mädchen tanzen lernen, falls sie später
mal Ballerina werden wollen, und die Jungs Einzelunterricht im
Tennisclub bekommen, statt mit ihren möglicherweise doch
vorhandenen Freunden draußen zu spielen. Die Kinder sollen es doch
mal besser haben als wir, nicht wahr?
Was sie nicht haben: Zeit für ihre Kinder.
Was gut für die ist, bestimmen nur sie. Gut sind
zum Beispiel bessere Schulen, egal, wie weit die von ihrer Wohnung
entfernt sind, Hauptsache weit weg von den normalen Grundschulen,
über die sie so viel Schlechtes gehört haben. Zur Not muss man halt
umziehen. Gut sind fortbildende Maßnahmen, für die sie selbst den
Stundenplan aufgestellt haben. Für diese verschiedenen Aktivitäten
sind sie mit ihren Kindern dann hektisch unterwegs, anstatt sie
lieber mal stressfrei und ohne Zielvorgaben spielen zu lassen. Der
niedersächsische Familientherapeut Wolfgang Bergmann, dem die
Thesen der Bestseller-Propheten Bernhard Bueb (»Lob der Disziplin«)
und Michael Winterhoff (»Warum unsere Kinder Tyrannen werden«) viel
zu autoritär und simpel sind, glaubt dagegen, dass ausgerechnet die
Oberschichteltern, die vorgeblich nur das Beste für ihre Kinder
wollen, in der Erziehung versagen: »Viele Mütter hetzen mit ihrem
Nachwuchs von einem Termin zum nächsten«, wetterte er in einem
Interview mit der »Süddeutschen Zeitung«, dabei sei nun wirklich
nicht jeder Termin wichtig. »Würden sie weniger hetzen, so hätten
sie und ihre Familie viel mehr Spaß. Ein Kind kann uns zu dieser
Ruhe verlocken. Ein spielendes Kind berührt doch das Herz, oder
nicht?«
Früher entzogen sich Kinder, wann immer es ging,
ihren Müttern und eroberten sich ihre eigene Welt. Sie spielten
unbeaufsichtigt auf der Straße, im Park, im Wald die Abenteuer des
Lebens nach, von denen sie bislang gelesen hatten. Heute lauern
dort, wie sie aus dem Fernsehen schließlich wissen, tödliche
Gefahren – wild rasende Autofahrer, als Onkel getarnte Päderasten,
diebstahlgestählte Jugendbanden.
Die Kinder des Prekariats spielen sich stattdessen
bei Bohlen und Co. auf, und wenn man sie nicht mitspielen lässt,
weil die Konkurrenz der Blöden zu groß ist, spielen sie sich in der
Schule so auf, wie es ihnen im Fernsehen vorgesetzt wurde. Gier,
Schadenfreude, Ruhmsucht, Gewalt sind ihre ständigen Begleiter.Was
die nicht können, die in der ersten Runde einer Castingshow
rausfliegen, das kann ich zwar auch nicht – singen, tanzen -, aber
wenn die trotzdem im Fernsehen gezeigt werden, kann ich kleiner
Depp es auch mal versuchen. Oder aber sie adaptieren für ihre
kindliche Welt die bei der Suche nach Germany’s
Next Topmodel, dem König des Dschungelcamps, dem Superstar etc. vorgeführten Demütigungen.
In der Welt der Erwachsenen sind Demütigungen als
»Mobbing« zum festen Begriff geworden. Bei Kindern gibt es das
längst auch. Die müssen sich früh entscheiden, ob sie lieber Täter
sein wollen oder Opfer. Ein Opfer ist allein, wer es mobbt, ist
nicht allein. Schwer zu erraten, wie sich die Mehrheit entscheidet?
Wenn die Zahl stimmt, von der Pädagogenverbände ausgehen, werden an
deutschen Schulen rund 500 000 Kinder und Jugendliche von ihren
Mitschülern gemobbt. Täglich. Das würde bedeuten: Es ist in jeder
Schulklasse mindestens ein Kind betroffen. Und zwar verteilt auf
alle Schulen – Grundschulen wie Hauptschulen, Realschulen wie
Gymnasien.
Die Lehrer, die das abtun mit der Bemerkung, so
etwas hätte es immer schon gegeben, sind in der Tat fahrlässig dumm
und machen sich deshalb mitschuldig, wenn das ausgewählte Opfer,
meist unter den Kleinsten zwischen acht und vierzehn, am Mobbing
zerbricht. Das übrigens, und auch das ist typisch für die zynische
Sprache der Mitleidlosen, nicht bei seinem Namen, sondern bei den
Hetzjagden einfach nur »Opfer« genannt wird.
Dem muss man gar nicht mal mehr ins Auge sehen auf
dem Schulhof oder im Klassenzimmer. Cyberbulling ist angesagt. Was
bedeutet, dass virtuell attackiert wird, online auf dem Computer
oder per SMS und Foto auf dem Handy. Wie in der Szene der
Rechtsradikalen fühlen sich die Angreifer nur als Gruppe stark. Und
ihre Gruppe ist die Klassengemeinschaft. Die hat sich eine oder
einen als Opfer ausgesucht, und wenn es endlich herauskommt, wenn
endlich eines der Opfer nicht mehr alles erduldet aus Angst, als
Petzer zu gelten, ist es für die Seelen der Betroffenen meist zu
spät.Viele brauchen therapeutische Behandlung.
Hilfreicher wäre ein überraschender Gegenschlag.
Einen Größeren, einen Stärkeren, den Anführer des mobbenden Mobs
direkt und mit aller Härte zu attackieren genau dann, wenn er sich
seines Sieges mal wieder sicher glaubt. Also zwischen die Beine zu
treten, was aus bestimmten Gründen wehtut und nachhaltige Wirkungen
hat, oder die Faust ins Gesicht zu setzen. Aus der Rolle des Opfers
schlagartig in die des Täters wechseln, was die Täter zutiefst
verstört. Diese Verstörung hält sogar an.Weil sie nie mehr sicher
sein können, erneut so behandelt zu werden.
Die Methoden des Gegners adaptieren darf man unter
moralischen Aspekten natürlich nicht. Da würde man sich ja selbst
ins Unrecht setzen. Ist nur eine spontane, unmoralische, wirksame
Idee. Die auftaucht aus der Erinnerung an eigene Schulzeiten.
Aufmerksame Lehrer könnten die Idee aber grundsätzlich mal
aufgreifen und umsetzen in eine selbstverständlich nur verbale
Attacke. Überraschend vor der versammelten Schülerschaft erklären,
warum gewalttätige Mobber nichts weiter sind als blöde Mitläufer
und verklemmte Feiglinge, dass es morgen schon die treffen kann,
die heute glauben, bei den Stärkeren zu sein. Und sie könnten
unmissverständlich klarmachen, dass sie zukünftig jeden einzelnen
Fall mit genau jener rücksichtslosen Härte verfolgen, mit der die
Opfer verfolgt würden. Außerdem würden bei jedem einzelnen Fall,
ohne Gnade zu gewähren, sowohl das Schulamt als auch die Eltern
informiert.
An ihrem Ende der gesellschaftlichen Skala
reagieren die vom Prekariat genau wie die der Oberschicht mit
Verboten, um durchzusetzen, was sie für Erziehung halten. Die
Oberen schicken Widerspenstige zwecks Zähmung auf Internate oder
streichen ihnen das Taschengeld. Die Unteren erziehen durch
Entziehen, indem sie ihren Sprösslingen deren TV-Lieblinge sperren
oder den Gameboy wegnehmen.
Oder aber sie reagieren mit gnadenloser
Härte.
Nach den Herbstferien kam in einer Grundschule in
Nordrhein-Westfalen ein kleiner Junge mit vereiterten, offenen
Knöcheln an beiden Händen in die Schule. Seiner entsetzten Lehrerin
erklärte er, Mama habe ihm die Hände auf den heißen Herd gedrückt,
damit er nicht mehr da dran gehe. Die Lehrerin schlug bei der
Fürsorge Alarm, und die kümmerte sich auch, was ja nicht immer so
ist, sofort um den Fall. Die befragte Mutter, die fünf Kinder hat
von vier verschiedenen Männern, war erstaunt, dass man sich darüber
aufregen würde, die Methode sei doch erfolgreich gewesen. So habe
es ihr Sohn doch endlich begriffen.
Als ein Klassenlehrer bei einem der an sich
seltenen Besuche eines echten leiblichen Vaters bei einem
Elternabend an einer sächsischen Schule berichtete, dass dessen
Sohn und zwei weitere Zehnjährige per Handy auf der Schultoilette
eigenen Aussagen zufolge einen Porno drehen wollten, was ein
Vierter mitbekommen und ihm sofort ganz aufgeregt gemeldet habe,
woraufhin er die drei vor der Klotür erwartet und zur Rede gestellt
habe, meinte jener Vater voller Empörung, so was könne sein Sohn
nur aus dem Fernsehen erfahren haben, von ihm habe der das ganz
bestimmt nicht. Sei eh alles Scheiße, was die dort zeigten. Dieser
Radetzky habe völlig recht.
Welcher Radetzky?, fragte der verblüffte
Lehrer.
Na ja, der da, der sich so aufgeregt hat über den
Mist, der immer gesendet wird.
Gemeint war Marcel Reich-Ranicki, und der
naheliegende Vorschlag des Lehrers, in Zukunft seinen Zehnjährigen
nicht jeden »Scheiß« anschauen zu lassen, wurde zurückgewiesen.
Dann müssten er und seine Frau ja auch verzichten. Schließlich
schliefen die Kinder im Wohnzimmer, wo der Apparat stehe.
Der Pädagoge gab nicht auf, obwohl er es dabei
hätte bewenden lassen können. War schließlich nicht sein Problem.
Und wenn Eltern kein Problem darin erkennen wollten, dass es
vielleicht nicht dem normalen Verhalten von Kindern entspricht,
wenn sie vor ihrem elften Geburtstag bereits das drehen, was ihre
Erzeuger nachts anschauen, dann ist denen eben nicht zu
helfen.
Doch den Kindern wollte er versuchen zu helfen. Er
redete mit ihnen. Hörte ihnen zu.Was die drei Jungs verblüffte,
weil sie das von zu Hause nicht kannten. Da lief immer der
Fernsehapparat, und man hörte eigentlich nur denen zu, die dort
auftraten.Wenn sie dabei störten, bekamen sie eine gelangt.
Weil sie sich schämten, was ihn rührte, bat sie
der Lehrer, auf einem Blatt Papier aufzuschreiben, wie es gewesen
sei auf dem Schulklo. Dann würden sie alle darüber reden können,
und keiner müsste sich mehr schämen.
Peter schrieb: »Ich musste mal, und da waren Kevin
und Leo und spielten Porno. Sie fragten, ob ich mitspielen wollte.
Ich habe gesagt, ich weiß nicht, wie das Spiel geht. Sie haben es
mir erklärt. Da habe ich Nein gesagt. Dann haben sie mich
ausgelacht und geschubst. Und haben gesagt, du machst das wohl
lieber mit deiner Mutter. Da habe ich geweint und bin
weggelaufen.«
Leo schrieb: »Der Kevin hat gesagt, dass er das
schon mal mit einer Achtjährigen gemacht hat. Ich sollte das mit
meinem Handy alles aufnehmen. Mehr habe ich nicht gemacht.«
Kevin schrieb:«Eigentlich wollte ich das gar
nicht. Aber der Leo hat mich überredet. Der hat das alles dann
gedreht. Ich habe es dann gelöscht.«
Als er die Zettel gelesen hatte, lächelte der
Lehrer. Sein Einsatz hatte sich gelohnt. Die drei hatten
tatsächlich ja keine Ahnung, was ein Porno ist, sie hatten zu Hause
nur mitbekommen, dass es irgendwas Verbotenes war, was nur
Erwachsenen erlaubt ist. Das hatte sie gereizt. Er lobte sie für
ihre Fähigkeit, per Handy Filme zu drehen. Er erfand einen
Wettbewerb für alle seine Schüler. Sie sollten sich in kleinen
Gruppen überlegen, was sie gerne filmen würden draußen in der
Natur.Also keine Trinkhallen, keine Spielsalons, keine Dönerbuden,
keine Videoshops, keine Nacktaufnahmen ihrer Freundin.
Sondern das, was ihnen im Park oder bei einem
Ausflug in den Staatsforst auffallen würde – Tiere, Pflanzen,
Menschen. Alle machten begeistert mit, alle Filmchen wurden
gezeigt. Ja, mehr noch: Er überließ es der Klasse, ihren Superstar
zu wählen, also das Team, dessen Film den Kindern am besten
gefallen hatte.
Eine gute Idee. Hilflose Jugendämter dagegen
kommen auf absurde Ideen, den sichtbaren Verfall der Sitten zu
stoppen. Dass Bußgelder fällig werden für Schulschwänzer, steht in
einem entsprechenden Gesetz.Aber erstens kümmert sich niemand
darum, und zweitens ist es bei den betroffenen Familien eh sinnlos,
Geld einzutreiben.Weil sie nichts haben, was einzutreiben sich
lohnen würde.
Die Stadt Oer-Erkenschwick beschloss deshalb, ihre
sogenannten Problemfamilien, wie diese auffälligen
Eltern-Kind-Biotope im Amtsdeutsch heißen, für das zu belohnen, was
normalerweise ihre Pflicht ist. Wer seine Sprösslinge mindestens
vier Wochen lang pünktlich in der Schule abliefert, mit oder ohne
Frühstück, bekommt einen Bonus-Stempel. Den soll es auch geben für
regelmäßige Besuche beim Kinderarzt oder für die Belegung von
Kursen an der örtlichen Volkshochschule, in denen gelehrt wird, wie
man Kinder ohne die Hilfe einer durchs Fernsehen bekannten
Super Nanny selbst erzieht. Wie in der
Entwicklungspolitik steht Hilfe zur Selbsthilfe dahinter als Idee.
Bei einer bestimmten Anzahl von Stempeln zahlt das Amt eine Prämie.
Einhundert Euro. Gedacht war der Plan für Eltern, die sich »der
Zusammenarbeit mit Jugendamt, Kindergarten oder Schule konsequent
entziehen«.
Nach verständlichen Protesten derer, die ihre
Kinder pünktlich zur Schule schicken, ohne dafür eine Prämie zu
verlangen, verkündete die Stadtverwaltung, natürlich würde es kein
Bargeld geben, weil sonst die Gefahr bestünde, dass die Eltern die
hundert Euro sofort umsetzen in Alkohol, Zigaretten oder eine
fällige Rate für den ihnen liebsten Erziehungsberater, den neuen
Fernsehapparat. Sondern Sachprämien. Eine Kamera. Einen Grill. Eine
Kaffeemaschine.
Philipp Mißfelder, Vorsitzender der Jungen Union,
ein junger Christdemokrat, der sich jeder passend scheinenden Lage
mühelos anpassen kann, hat sich eigene Gedanken zum Thema gemacht.
Die waren zwar etwa so blöde wie die Lieblingsformate der von ihm
attackierten Zielgruppe ALG 2 und Hartz IV, aber er erreichte, was
er wollte: ein paar Schlagzeilen und auch die zu erwartende wütende
Reaktion des politischen Gegners. Die Erhöhung des Regelsatzes für
Kinder zum 1. Juli 2009, so Mißfelder, sei ein Anschub für die
Tabak- und Spirituosenindustrie, weil die Eltern das Geld nicht
etwa für ihre Kinder einsetzen würden, in bessere Ernährung zum
Beispiel, sondern in Zigaretten und Schnaps für sich selbst.
Ähnlich pauschal urteilte auch sein Parteifreund
Oswald Metzger vor Jahren, als er noch ein Grüner war:
»Sozialhilfeempfänger sehen ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate
oder Alkohol in sich hineinzustopfen, vor dem Fernseher zu sitzen
und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen.«
Eine Frau, die es besser weiß, Susanne
Kahl-Passot, Leiterin des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg,
konterte wirksam mit Fakten und ihrer Erfahrung statt mit Empörung.
Erstens seien viele Menschen arbeitslos, die nichts dafür könnten,
keinen Job mehr zu haben. Punkt. Zweitens habe es das schon immer
gegeben, dass Menschen ohne Arbeit ihre Probleme im Alkohol
ertränkten. Punkt. Und was das Fernsehen betreffe: »Was sollen die
Leute denn den ganzen langen Tag machen? Man muss Angebote
schaffen, um ihnen aus der Isolation zu helfen.« Gutscheine würden
an der hoffnungslosen scheinenden Lage dieses Teils der Nation
nichts ändern, da kämen sich viele, die es nötig hätten, wie
Bettler vor und würden lieber verzichten. Statt Bargeld oder
Gutscheinen würden stattdessen gezielte Sachleistungen wie Kita,
Schulspeisung, Lernmaterial, Kurse hilfreich sein. Und nicht mehr
kosten als das, was bislang bar ausbezahlt wird.
Lehrerin X hat ihren täglichen Kampf mit den
populären TV-Konkurrenten und deren Einfluss auf ihre Schüler in
vielen Fallbeispielen protokolliert. Es sind kleine deutsche
Biografien des Jahres 2009. Sie beginnt mit allgemeinen Sätzen über
die Gesamtsituation ihrer Klasse: »Ich bin in diesem Jahr nur für
achtundzwanzig Schüler als Klassenlehrerin zuständig. So wenige
hatte ich noch nie in einer Klasse. Das verspricht weniger Stress
als sonst und mehr Möglichkeiten, mich um jedes Kind individuell
kümmern zu können. Normal ist das Verhältnis von deutschen Kindern
zu denen mit Migrationshintergrund, diesmal lautet es dreizehn zu
fünfzehn. Dass Deutschland längst ein Einwanderungsland geworden
ist, wissen wir Lehrer ja schon lange.«
Mit den ausländischen Schülern aus Italien,
Griechenland, der Türkei, Schwarzafrika, Iran hat sie weniger
Probleme als mit einheimischen. Was erstaunlich ist und
unglaubwürdig klingt, weil man immer wieder vom Gegenteil liest,
kann sie aber erklären.Viele Ausländerkinder wachsen in intakten
Großfamilien auf, werden von ihren Eltern streng erzogen, müssen
mit Strafen rechnen, falls sie in der Schule als Krawallmacher
auffallen, und haben die ehrgeizigen Ziele, die ihnen aufgetragen
wurden, weil aus ihnen was Besseres werden soll, als es ihre Väter
geworden sind, schon früh verinnerlicht.
Anders bei den Deutschen. Zehn von denen werden
entweder nur von ihrem Vater oder nur von ihrer Mutter erzogen, die
meisten Väter oder Mütter sind mit neuen Lebenspartnern gesegnet,
was ihnen guttut fürs tägliche Leben. Zweimal Hartz IV plus Kinder-
und Wohnungsgeld reichen selbst dann für den Flachbildschirm, wenn
die Chancen auf geregelte Arbeit auch in Zukunft gegen null
tendieren.Was alle besitzen, sind Handys und Computer. Auf denen
gibt es allerdings kein Word-Programm, um eventuell besser die
Hausaufgaben erledigen zu können. Die Festplatten ihrer Schüler
sind ausschließlich mit Spielen bestückt.
Es sind deutsche Kinder, die das, was sie aus
bestimmten deutschen Fernsehprogrammen aufgesaugt haben, mitbringen
in die Schule. Selbstverständlich würden auch die anderen neun- und
zehnjährigen Mitschüler zu gerne erlebt und gesehen haben, was
denen ohne Einschränkungen offenbar gestattet war – den Gesang
eines von Dieter Bohlen niedergemachten Talentlosen, das Lallen
gepiercter Dumpfbacken in den Nachmittagsshows, die Auftritte
irgendeiner harten Sex suchenden Schlampe in den Wohnhöhlen der
Unterschicht -, doch in ausländischen Familien ist nur den
Erwachsenen unbeschränkt Fernsehkonsum erlaubt, was zwar deren
Weltbild nicht unbedingt erweitert, aber ihre Nachkommen qua Verbot
wenigstens jetzt im Kindesalter vor dem schlimmsten Dreck schützt.
Später holen die allerdings das Versäumte nach, und weil sie dann
halbstark sind, wirkt ihr gewalttätiges Auftreten ungleich
brutaler.
Ein paar Beispiele aus dem Alltag einer anderen
Grundschule in einem der neuen Bundesländer: Kind eins kennt seinen
leiblichen Vater nicht. Es gibt nicht mal ein Foto von dem.
Begründung: Mama habe aus Wut alle zerrissen. Den Lebenspartner
ihrer Mutter nennt das Mädchen Papa, weil ihre Mutter das so will
und ihr angedroht hat, bei Nichtbefolgung das Handy wegzunehmen
oder ihre Lieblingssendungen zu streichen. Dazu gehören Deutschland sucht den Superstar und Big Brother, mit dem vor knapp zehn Jahren der
Siegeszug des Blöd-Fernsehens begann. Das wirkte. Seitdem sagt sie
immer »Papa« zu dem ihr Fremden.
Kind zwei wurde im ersten Schuljahr, also kaum
eingeschult, von einem Größeren aus der dritten Klasse (!)
gezwungen, sich auf dem Klo auszuziehen und an ihm herumzuspielen.
Das habe der am Tag zuvor nachts im Fernsehen auch gesehen, als
Mama und Papa in der Kneipe waren. Beide Kinder wurden, als es
herauskam, psychologisch betreut, ohne Erfolg.
Kind drei hat zwar einen leiblichen Vater, aber
den hat es schon lange nicht mehr gesehen. Seine Mutter hat sich
zunächst für einen Homosexuellen als Partner entschieden, weil der
nichts von ihr wolle und beide durch die jeweiligen Hartz IV-Sätze
eine echte Zugewinngemeinschaft gründen konnten. Das Kind muss den
Mann Papa nennen, doch als der abhaut und ein neuer Mann in die
Wohnung zieht, weigerte es sich, schon wieder »Papa« zu einem
Fremden sagen zu müssen.Weint und schimpft mit seiner Mutter. Auch
die reagiert konsequent: Maul halten, oder der Fernseher bleibt
stumm.
Kind vier wird vom neuen Lebenspartner seiner
Mutter ständig geschlagen, was es irgendwann seiner Lehrerin
weinend beichtet. Die von ihr zur Rede gestellte Mutter meint
abwehrend, dass ihr Sohn ein Lügner sei. Und falls er noch einmal
einen solchen Scheiß über seinen neuen Papa erzähle, setze es auch
von ihr Prügel.
Zufällige Beispiele, irrelevant für die
Beurteilung der gesamten Situation? Daran schuld nicht ein
Fernsehprogramm, weil man ja ausschalten könne, bevor es in die
leeren Köpfe dringt?
Alles richtig.Aber deren Wirklichkeit ist eine
andere. Niemand schaltet bei denen den Fernsehapparat aus. Der
läuft permanent. Auf beengtem Wohnraum. Wenn es entweder auf dem
Bildschirm oder tatsächlich zur Sache geht, wenn der neue Papa auf
die Mutti will, sagt die nur: Dreh dich zur Wand, Kind. Sonst setzt
es was.
Begonnen übrigens hat der Verlust des Privaten,
was offenbar der Begriff »Privatfernsehen« auch impliziert, mit
Tutti Frutti, als zum ersten Mall weibliche
Vertreter der damals noch nicht als Kernzielgruppe erfassten
Unterschicht ihre Brüste hüpfen ließen. Die Auftritte hatten sogar
indirekt etwas mit Schule zu tun, weil die halb nackten Hupfdohlen,
die sinnlos um einen gewissen Herrn Hugo Egon Balder tänzelten,
ganz eindeutig ihre Schule zum frühestmöglichen Zeitpunkt verlassen
hatten, um fortan im wahren Leben fürs Leben zu lernen.
Bei Streit auf dem Schulhof, den normalen
Raufereien, wie es sie immer gegeben hat, sind auch früher
Ausdrücke benutzt worden, die nicht unbedingt zu den besonders
feinen gehören. Also so etwas wie »blöde Kuh« oder »dumme Sau«. Da
gab es dann zur Sühne bei Bedarf vielleicht mal eine Strafarbeit,
etwa hundertmal abschreiben: Ich darf meine Mitschülerin Silke
nicht dumme Kuh nennen. Oder im Wiederholungsfall auch mal eine
Stunde Nachsitzen. Beides ist vom zuständigen Ministerium den
Lehrern untersagt. Sie dürfen nur die Eltern über den Vorfall
informieren, falls sie die per Handy zufällig mal erreichen und
falls die sich dafür überhaupt interessieren. Inzwischen geht es
außerdem ja längst nicht mehr so gesittet zu. Die gängigen
Beschimpfungen heute zählt Lehrerin X auf: Hurensohn, Fick dich
doch selbst,Wichser, Nutte. Dass sie also morgens gefragt wird, was
oben wiedergegeben wurde, schockiert sie zwar immer noch, aber es
wundert sie nicht mehr.
Sie darf sich nicht einmal mit deutlichen Worten
und Ermahnungen wehren. Selbst wenn die Väter und Mütter sonst
nicht viel wissen, eines wissen sie genau – dass sie gewisse Rechte
haben, und die kennen sie. Falls sie die ihren verletzt glauben,
beschweren sie sich. Jeder Beschwerde muss nachgegangen werden. Das
kostet die Beschuldigten, obwohl sie tatsächlich unschuldig sind,
Zeit und Kraft. Und diese Kraft fehlt ihnen im täglichen
Abwehrkampf gegen die Welle der Dummheit.
Also nehmen sie die Verrohung von Sprache und
Sitte, das prollige Benehmen ihrer kleinen Faultiere hin, schieben
die schlimmsten ab auf die letzte Station, die Sonderschulen.
Überlassen das Seichtgebiet resigniert den Blöden, statt es beherzt
auszutrocknen. Schließen ermüdet die Tür hinter dem Raum mit
Leergut.
Wenn Politiker, egal welcher Couleur, die Zustände
an solchen Schulen beklagen, deren innere Verfassung so marode ist
wie die äußere, ähnelt das dem Gesang von Pharisäern. Ohne das
nötige Handwerkzeug – Strafarbeiten, Nachsitzen, soziale Dienste –
können die Frontkämpfer keine Schlachten gewinnen, keine Grenzen
ziehen. Dieses Handwerkzeug wird ihnen von Behörden
verweigert.
Das amtlicheVersagen eröffnet den Predigern harter
Schulen ein weites Feld. Sie schreiben auf, was nach ihrer Meinung
immer noch so gut hilft, wie es einst bei den auffälligen
Großvätern und Vätern geholfen hat: Strenge, Disziplin, Ordnung.
Deutsche Sekundärtugenden also. Gelesen werden ihre Bestseller
nicht von Unterschichtlern, denn die lesen nun mal keine Bücher,
sondern von Oberschichtlern, die schon lange der Meinung sind, dass
die unten selbst schuld sind, wenn sie es nicht nach oben schaffen.
Aber zielen diese Autoren denn nicht vielmehr auf ihre verwöhnten
Kinder statt auf die da unten, meinen sie denn nicht die Kinder,
die alles haben, und stellen damit auch deren Eltern an den
Pranger?
In der Tat. Das machen sie.
Frage der Eltern an ihren lieben Kleinen: Was
machst du gerade, mein Kind?
Antwort: Ich chatte.
Aha.
Chatten im Netz gilt als ideale Beschäftigung für
Einzelkinder, weil sie dort Freunde finden, mit denen sie über all
das reden können, was ihre Eltern eh nicht verstehen. Früher
schrieben die Mädchen ihre sie naturgemäß in einem gewissen Alter
bedrängenden Probleme in ein Poesiealbum oder in ihr Tagebuch, die
sorgsam gehütet und vor fremden Einblick versteckt wurden.
Heute gehen sie ins Netz. Damit sie keinem der
finsteren Dunkelmänner in die Fänge geraten, hat das
Familienministerium ein zielgruppengerecht gestaltetes Faltblatt
herausgeben lassen, dessen Inhalt auch online abzurufen ist
(www.jugendschutz.net). Die wichtigsten
Vorsichtsmaßnahmen sind dort in einfachen Sätzen notiert: Chatte am
Anfang nicht allein, sondern frage Eltern oder ältere Geschwister
um Hilfe. Denk dir einen guten Spitznamen aus, benutze niemals den
richtigen Namen, das richtige Alter, den Wohnort oder die
Schule.Verrate nie deine Adresse, deine Telefonnummer. Versende
keine Fotos von dir. Gib nichts Persönliches preis. Suche dir einen
Chat, in dem jemand aufpasst. Solche Aufpasser sind Moderatoren,
und man kann sie in guten Chats per Knopf um Hilfe rufen.
So einen Knopf hätte die Lehrerin X auch ganz
gerne. Täglich. Stündlich. Als sie die fettleibige Mutter jenes
Neunjährigen beim Elternsprechtag fragte, woher denn wohl ihr
Kleiner solche Wörter wie »ficken« kennen würde, antwortete die,
das wisse sie auch nicht, ehrlich. »Wenn mein Mann so spricht, sind
die Kinder eigentlich immer alle im Bett.« Eigentlich.
Am Morgen nach dem Amoklauf von Winnenden hat
Lehrerin X mit ihren Schülern über das gesprochen, was die alle am
Abend zuvor in den Fernsehnachrichten gesehen haben. So was kommt
manchmal von so was, sagte sie, es könnte doch sein, dass der
Killer als gemobbter Außenseiter in seinem Wahn, sich nicht anders
wehren zu können, um sich geschossen habe. Einem Jungen, der ihr
zuhörte und dann zustimmend nickte, zischte daraufhin ein anderer
zu: Du bist gedisst.Was so viel bedeutet wie: Du bist ein
Außenseiter.
Offensichtlich war es ihr nicht gelungen, in die
Seelen der Kinder vorzudringen. Aber als Erfolg wertet sie die
dunkle Stunde dennoch. Sie weiß jetzt, auf wen sie aufpassen muss.
Wen sie beschützen muss. Wen sie verteidigen wird gegen die
mobbenden kleinen Blöden.
Es ist nicht mehr als ein Tagessieg.
Aber wenigstens war es mal wieder einer.