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Ich trank Whisky, wundervollen kühlen Whisky.
Ich konnte ihn riechen: den würzigen Duft, welcher jener der einsamen, hohen Wälder war. Ich konnte ihn fühlen: den herben, rauchigen Geschmack, welchen ihm die reißenden, kristallklaren Gebirgsbäche gegeben hatten und die uralten, schwarzen Holzfässer im Dunkel der Keller. In meiner Kehle brannte er, ölig und schwer, und meinen Körper wärmte er.
Ich stürzte, würgte ihn hinunter, diesen Whisky, saugte, pumpte, preßte ihn hinein in mich gleich einem Menschen, der Wasser schlingt statt Luft, wenn er ertrinkt. Und gleich einem Ertrinkenden, der mit letzter Kraft noch einmal die Oberfläche des Meeres erreicht, kehrte ich aus meiner Ohnmacht zurück in das Leben.
Zuerst waren da noch kreisende Feuerräder und flammende Sternschnuppen vor meinen Augen und ein hohes, immer schriller werdendes Sirren in meinen Ohren. Dann wurde das Flammenmeer grau, und das Sirren verwandelte sich in das Toben des Sturms. Ich hob die Lider, die so schwer waren, als hingen Bleigewichte daran.
Ich lag wieder im Bett, ordentlich zugedeckt. Vor mir saß eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte, und hielt mir ein Glas, halb angefüllt mit Whisky, an die Lippen und goß die Flüssigkeit in meinen Mund, daß sie auf meinen Hals rann, auf das Kissen, daß ich mich verschluckte und, nahe dem Ersticken, nun nach Atem rang.
»Na also«, sagte die fremde Frau.
Ich bewegte schnell den Kopf. Die Vorhänge waren wieder aufgezogen, ich sah den düsteren Himmel und die schwarzen, jagenden Wolken. Das Telefon, die kleine Lampe und der Aschenbecher standen wieder auf dem Nachttisch. Der Aschenbecher war jetzt sauber. Daneben stand eine fast volle Flasche »Johnnie Walker«.
»Trinken Sie noch«, sagte die Frau. Da ich den Kopf nach rechts wandte, schlug das Glas gegen meine Zähne. Der Morgenmantel hing auf einem Bügel, meine Pantoffeln standen darunter. Die Zeitungen und Magazine steckten nun, gefaltet, in einem geschnitzten Fächerständer. Über Schlagzeilen flog mein Blick.
U. S. STAND fiRM: ATTACK ON BERLIN MEANS WORLD WAR III, SAYS EISENHOWER. NEUES SOWJETISCHES WELTRAUMSCHIff RAST UM DIE ERDE.
Wer hatte hier Ordnung gemacht, mich ins Bett gelegt, die schwarze Tasche auf den Koffertisch gestellt, davor die leere Whiskyflasche, leere Sodaflasche und den Thermos? Ich schwitzte wieder. Das Herz klopfte hämmernd. In meinem Magen zitterte und pochte etwas Großes, Unheimliches.
Die Faust!
Ich wollte diese Frau fragen, wer sie war, doch nur ein heiseres Krächzen kam aus meiner Kehle. Statt dessen sprach sie. Ihre Stimme klang melodisch, tief. Sie redete besonders reines Hochdeutsch: »Ich bin Doktor Natascha Petrowna.«
»Ärztin?«
»Ja, Mister Jordan.« Sie trug ein grünes, eng sitzendes Kostüm und grüne Schuhe mit hohen Absätzen. Ihr Haar war bläulich-schwarz, in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem Knoten zusammengenommen. Es lag und ließ die kleinen Ohren frei.
Sie wollte meinen Puls fühlen. Ihre Finger waren weiß und schmal und kühl. Die Nägel trugen eine Schicht von farblosem Lack. Mit einem Ruck zog ich mein Handgelenk zurück. Die jähe Bewegung war nicht gut für mich. Mir wurde schwindlig.
»Bleiben Sie ruhig.« Sie hatte eine hohe Stirn und den typischen Gesichtsschnitt der Slawen, mit schrägen Augen und vorspringenden Backenknochen. Der breite Mund war dunkelrot geschminkt. Die Brauen waren dicht. Ihre Pupillen lagen schwarz und leuchtend hinter einer großen Brille. »Dem Pagen, der den Whisky brachte, gab ich fünf Mark.«
»Dem … Pagen …?«
»Trinkgeld. Das Frühstück ließ ich zurückgehen. Ich hoffe, es ist Ihnen recht.«
»Frühstück …?« Ich kam nur mühsam zu mir.
»Sie haben es doch wohl nur bestellt, um bei der Gelegenheit Whisky zu verlangen.«
Dieser Ton erbitterte mich. Sie war so selbstsicher und stark, gesund und überlegen.
»Wie kommen Sie hier herein?«
»Man rief mich. Ich war zum Glück gerade im Hotel. Eine Dame aus Ceylon ist an Grippe erkrankt und —«
»Wer rief Sie?«
»Einer der Empfangschefs. Als Sie aus dem Bett stürzten, rissen Sie den Apparat mit sich. In der Telefonzentrale leuchtete Ihr Anschluß auf, aber es meldete sich niemand. Da schickte man einen Hausdiener herauf.«
»Wer hat mich ins Bett gelegt?«
»Der Empfangschef, der Hausdiener und ich.«
»Gehen Sie weg.«
»Wie meinen Sie?«
»Sie sollen gehen. Ich will nicht untersucht werden.«
Ich habe Natascha Petrowna niemals fassungslos gesehen. Bei allem, was geschah, was wir an Entsetzlichem erlebten miteinander, verlor sie nie die Haltung. Nur eine einzige Bewegung verriet sie, wenn sie sich sehr beherrschen mußte: dann legte sie die schmalen, weißen Hände an die breiten Bügel der modernen, schwarzen Brille und schob sie leicht zurecht. Das war alles. Das tat sie auch jetzt.
»Mister Jordan, seien Sie vernünftig.«
»Lassen Sie mich zufrieden.«
Darauf antwortete sie nicht, sondern öffnete einen kleinen Koffer und entnahm ihm ein Stethoskop. Alles, was sie unternahm, tat sie überlegt und voller Würde. Die breiten Backenknochen gaben ihrem Gesicht im Verein mit dem nach außen gezogenen Brillenrahmen etwas Katzenhaftes. Natascha besaß das klare Gesicht eines Menschen, dessen Beruf es ist, zu prüfen, anzuzweifeln und Verantwortung zu tragen. Ein begehrendes, leidenschaftliches Gesicht war das, leidenschaftlich begehrend nach Wissen und Wahrheit. Ernst, ohne Erregung oder Zorn, sahen mich die schräggeschnittenen schwarzen Augen mit den langen Wimpern an.
Heute, in Rom, an diesem sonnigen Tag im März, vermag ich Natascha Petrowna so zu beschreiben. Heute; nachdem die Katastrophe sich ereignet hat, vermag ich es dem lautlos gleitenden Tonband anzuvertrauen: ich habe nie ein schöneres Gesicht gesehen als das Nataschas, und nie ein gütigeres. Damals jedoch, an jenem Morgen im Oktober, war ich blind für Schönheit, taub für Güte.
»Sie können mich nicht gegen meinen Willen untersuchen — oder?«
»Nein, aber —«
»Dann verschwinden Sie!«
Sie sah mich schweigend an. Sie war höchstens 35 Jahre alt.
»Ich bin ein Gast dieses Hotels. Gehen Sie jetzt, oder muß ich Sie hinauswerfen lassen?«
»Ihr Verhalten beweist, wie dringend Sie ärztliche Hilfe benötigen. Ich werde einen der Direktoren heraufrufen.« Sie griff nach dem Telefonhörer.
Ich hielt ihre Hand fest.
»Warum?«
»Ich brauche einen Zeugen. Sie werden so freundlich sein, vor ihm zu wiederholen, daß Sie die Untersuchung ablehnen.«
»Wozu?«
»Wenn Ihnen etwas zustößt, muß ich mich verantworten. Ich weiß nicht, was Sie tun werden, wenn ich Sie jetzt allein lasse.« Mir wurde brennend heiß, als ich sah, wie sie die Whiskyflasche auf dem Nachttisch musterte, die leeren Flaschen auf dem Koffertisch, die schwarze Tasche und den großen Thermos. Der Empfangsdirektor hatte das alles auch gesehen und ebenso der Hausdiener: mein schmutziges, so lang gehütetes Geheimnis. Jetzt wollte sie einen Zeugen rufen. Mehr Menschen würden kommen, wenn ich mich nicht untersuchen ließ. Einer erzählte es dem andern. Bald wußte es das ganze Haus. Wie viele Angestellte würden wie viele Zeitungen anrufen? Die Klatschkolumnisten hatten ihre Leute überall, sie zahlten gut für solche Nachrichten. PETER JORDAN BRICHT ZUSAMMEN: WHISKY! PETER JORDAN AUS DEM HOTEL GEWIESEN. SKANDAL UM PETER JORDAN. Ich sah die Überschriften. Der Schweiß rann über meine Stirn und meine Hände. Ich merkte, daß ich immer noch das kleine Kreuz umklammert hielt. Falsch. Falsch. Oh, Shirley, Shirley, alles, was ich tat, war falsch!
»Lassen Sie mich telefonieren, Mister Jordan.«
»Nein.«
»Ihr Betragen ist kindisch. Dann muß ich eben in die Halle gehen.« Sie war so kühl, so sachlich, so unendlich überlegen. Und doch hatte ich, daran entsinne ich mich genau, schon bei unserer ersten Begegnung das Gefühl, daß diese Frau sich nur unter steter Aufbietung letzter Kräfte so vollendet beherrschte. Alle Menschen, denen wir begegnen, haben ihre Schicksale, die ihr Verhalten beeinflussen, daran denken wir zu wenig. Wir erwarten, daß sie so reagieren, wie wir reagieren würden an ihrer Stelle, und darum können wir sie nicht verstehen, nicht begreifen in den allermeisten Fällen. Natascha trug an einer schweren Bürde, heute weiß ich es. Leid und Unglück hatten sie erzogen, stets für andere zu denken, hatten sie gelehrt, kühl zu sein, sachlich und unendlich überlegen.
»Warten Sie … warten Sie …«, stammelte ich. Da wurde es auf einmal dunkel, Nacht am Vormittag. Mein Blick irrte zum Fenster. über die Alster kam eine schwarze Sturmwand auf mich zugesegelt, als hätte sie es abgesehen auf mich allein. Im nächsten Augenblick traf der erste Schlag einer herabstürzenden Sintflut die Scheiben, die sich mit einem öligen Wasserfilm überzogen. Man sah nichts mehr. Rasend trommelten die Tropfen.
»Was wollen Sie also, Mister Jordan?«
»Ich … ich muß Ihnen das erklären … ich bin Schauspieler …« Aber ich konnte nicht weitersprechen. Die Faust stieß gegen meine Magenwand. Die Angst kam wieder. Gleich einem Lift, dessen Seile abgerissen sind, raste meine Stimmung hinab ins Bodenlose. Der Sturm tobte. Im Hof des Hotels flog ein Fenster zu, ich hörte Glas splittern. Dann klirrten Scherben in der Tiefe. Aus. Aus. Alles war aus.
»Paddy, ich bekomme ein Kind …«
Wenn ich heute zurückdenke, erscheint mir dies als typischstes Symptom jener Stunden: andauernd wechselten meine Gefühle zwischen Rebellion und Selbstaufgabe, blitzblauem Mut, aschgrauer Hoffnungslosigkeit. »Es … darf … niemand … erfahren … daß … ich … krank … bin …«
Natascha nahm die Hand vom Hörer. Freundlich und ruhig klang ihre Stimme: »Niemand erfährt ein Wort von mir. Ein Arzt steht unter Schweigepflicht.«
Schweigepflicht.
Daran hatte ich nicht gedacht.
Ja. Ach gewiß. Natürlich.
Schweigepflicht!
Rapide wie die Quecksilbersäule eines Thermometers im Trickfilm stieg meine Stimmung wieder. Ich wollte lächeln, etwas sagen. Es wurde nur eine Grimasse, ich produzierte nur ein Lallen. Sie nahm die Flasche und goß das Glas noch einmal voll mit einer selbstverständlichen Bewegung, als wäre es natürlich, daß man um neun Uhr morgens trank. Natascha Petrowna hielt das Glas vor meinen Mund und sagte: »Hier, Mister Jordan.«