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Ich bin ein böser, lasterhafter Mensch. Die Geschichte meines Lebens, die ich hier berichte, wird darum böse sein und lasterhaft.
Ich erzähle sie zwei Menschen: meinem Arzt und meinem Richter. Mein Arzt muß die Wahrheit kennen, um mir zu helfen. Mein Richter muß die Wahrheit kennen, um mich zu verurteilen.
Heute ist Donnerstag, der 3. März 1960. 11 Uhr 11 zeigt meine Uhr. Es ist schon sehr warm in Rom. Tiefblau und wolkenlos erblicke ich den Himmel, wenn ich mich aus dem Fenster neige. Ich habe ein sehr gemütliches Zimmer. Im Gegensatz zu vielen anderen Zimmern des Hauses besitzt es keine Gitter vor den Fenstern, aber eine Klinke an der Tür. Professor Pontevivo sagt, er hätte Vertrauen zu mir.
Die italienische Polizei hat solches Vertrauen nicht. Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, was ich alles zwischen jenem sturmgepeitschten Oktobermorgen zu Hamburg und diesem friedlichen Märzmorgen zu Rom getan habe. Die italienische Polizei hat dem nahe gelegenen Kommissariat in der Via Marco Aurelio den Auftrag gegeben, mich zu bewachen, nachdem das Deutsche Außenamt ein Auslieferungsbegehren an die italienischen Justizbehörden richtete. Weil ich jedoch so krank bin, wird man mich nicht ausliefern — vorläufig. Das hat Professor Pontevivo durchgesetzt. Er ist ein großer Arzt, man hört auf einen solchen Mann, wenn er sagt: »Ich lehne jede Verantwortung ab, sofern dieser Patient nicht in meiner Obhut bleibt.«
In dem schönen Park der Anstalt sehe ich einen Karabiniere auf und ab gehen. Heute morgen ist es der Schlanke mit den großen schwarzen Augen. Nach und nach kenne ich sie alle, die sich hier in einem Turnus von acht Stunden ablösen. Tag und Nacht. Sie sind jung, sie sind neugierig, sicherlich wissen sie, was ich getan habe. Darum starren sie alle immer wieder zu meinem Fenster empor. Und so kann ich mir ihre Gesichter einprägen.
In den Anlagen blühen weiße, cremefarbene und rosenrote Magnolien. Es glänzt ein Meer von gelben Forsythien. Kleine rosafarbene Mandelbäumchen säumen die Anfahrt. In den Wiesen sehe ich blauen und lachsfarbenen Krokus, Schneeglöckchen, Stiefmütterchen, weiße, schwarze, bunt gefleckte. In der vergangenen Nacht hat es ein wenig geregnet, sanft und still, und nun leuchten die frischen Blätter und Blattspitzen der Olivenbäume, Lorbeerbäume, Pinien, Palmen und Eukalyptussträucher — hellgrün, gelbgrün, dunkelgrün, saftig, gesund, voll Leben. Voll Leben ist dieser Park mit seiner hohen, stacheldrahtbewehrten Mauer, die ihn von allen Seiten einschließt und über die hinweg ich zwischen den Kronen alter Bäume am Viale Parco di Celio das vierte und oberste Stockwerk des nahen Kolosseums erblicke, mit seiner glatten Außenfläche, den flachen korinthischen Pflastern, welche die Wand senkrecht aufgliedern, und den Rechteckfenstern, durch die der Frühlingshimmel strahlt.
Gestern habe ich hier, in diesem Zimmer, begonnen, meine Geschichte zu erzählen, einem kleinen, silbernen Mikrofon. Vorgestern und vorvorgestern habe ich es versucht — umsonst. Schweiß trat auf meine Stirn, wenn das grüne magische Auge des Geräts aufleuchtete, wenn die Tonbandteller sich lautlos zu drehen begannen. Mein Herz schlug rasend, ich mußte mich sofort hinlegen und die Augen schließen, so schwindlig wurde mir.
In Panik dachte ich dann stets: Ich kann nicht mehr logisch berichten, ich kann keine vernünftigen Sätze mehr bilden. Ich bin verrückt. Meine Worte, wenn ich sie mir selbst abzwänge und auf diese glatten, schmalen Bänder spräche, sie würden nur das Gestammel eines Irren darstellen, unverständlich, ohne Sinn, denn mein Gehirn vermag die Worte eines Satzes nicht mehr nacheinander zu ordnen, nicht mehr sinnvoll zu verbinden miteinander.
Immer wieder in den letzten beiden Tagen sagte ich zu Professor Pontevivo: »Geben Sie mich auf. Ich bin unheilbar. Mein Verstand ist zerstört.«
Darauf antwortete er so: »Als Sie aus Ihrer Schlafkur erwachten, wollten Sie mir aus freien Stücken sogleich alles erzählen, was geschehen ist. Aber Ihre Worte jagten einander allzusehr, Sie überschwemmten mich mit Ihrer Redeflut. Es war Ihnen nicht möglich, Ihre Gedanken so schnell zu formulieren, wie die Worte Ihren Mund verließen, und darum war es mir nicht möglich, sie zu verstehen.«
»Das zeigt, daß ich wahnsinnig bin.«
»Das zeigt, daß Sie sich noch in einem Ausnahmezustand befinden. Sie haben sehr viel Megaphen bekommen. Ich versichere Ihnen, daß sich noch kein Patient nach einer solchen Behandlung anders betragen hat als Sie. Wer hat den Vorschlag gemacht, die Geschichte Ihrer letzten Monate einem Tonbandgerät anzuvertrauen?«
»Ich.«
»Und warum haben Sie das getan?«
»Weil ich glaubte, daß ich über all das Furchtbare eher noch zu einer Maschine sprechen könnte als zu einem Menschen.«
»Nicht darum kamen Sie auf die Idee.«
»Weshalb also?«
»Eben weil Sie nicht verrückt sind. Sie fühlen, daß Ihr überreiztes Gehirn Zeit braucht, alle Gedanken, die es ausspeit, nun zu ordnen. Sie sagen selbst, ein Gesprächspartner erregt Sie zu sehr. So haben Sie die Möglichkeit zu einem Monolog gewählt. Dieses Tonbandgerät wird für Sie so etwas wie das Ohr eines verschwiegenen Priesters bei der Beichte sein.«
Das weckte sofort wieder die Erinnerung. Shirley. Father Horace. Der Katastrophenabend. Heftig antwortete ich darum: »Ich will hier keine Beichte ablegen für einen Priester.«
»Aber doch so etwas wie eine Beichte«, sagte er. »Und sind wir nicht zumindest halbe Priester, wir Ärzte und wir Richter?«
Ich dachte: O Gott, läßt Du mich also nie allein, läßt Du mir niemals meinen Frieden?
Zu dem Professor sagte ich verstört: »Ich habe Angst, auch vor dem Tonband. Es ist zu grauenhaft, was ich zu sagen habe.«
Darauf erwiderte er: »Um Ihre Angst zu lindern, könnte ich Ihnen — Ihre Zustimmung vorausgesetzt — ein wenig Evipan verabreichen, so viel nur, daß seine Wirkung unterschwellig bleibt und Sie nicht müde macht.«
»Was geschieht dann?«
»Sie werden in eine ganz leichte Form der Narko-Hypnose versetzt, in der Sie hemmungslos und mühelos erzählen. Sie stehen dabei dauernd unter meiner Kontrolle. Sie dürfen nie länger als zwei Stunden sprechen. Es kann nichts passieren. Aber ich brauche trotzdem Ihre Einwilligung.«
Ich habe sie gegeben.
Auch heute nach dem Frühstück bekam ich eine Injektion. Sie wirkt. Ich fühle mich ruhig, voller Frieden, ohne —
Ohne Angst, wollte ich sagen. Aber ich unterbrach mich, denn im Tiefflug raste eben eine Formation von Düsenjägern über unseren Park. Ihr Dröhnen hätte jedes Wort getötet. So unterbrach ich mich.
Ohne Angst.
Es erscheint mir typisch, daß ich gerade an dieser Stelle unterbrochen wurde und gerade durch die überschallschnellen Reiter der modernen Apokalypse, die Symbole für jene weltweite Angst, in der wohl alle, alle Menschen heute leben. Wenn das Wetter schön ist, brausen den ganzen Tag Düsenjäger über Rom hinweg. Wenn das Wetter schön war in Hamburg oder in Pacific Palisades, erschütterte auch dort ihr Toben die Luft von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang.
Typisch erscheint es mir, sage ich, denn was ich hier zu erzählen mich anschicke, wird eine Geschichte der Angst werden, und nicht nur der meinen. Jene Düsenjäger eben bilden die passende Ouvertüre.
Die letzten Monate waren für mich ein Inferno der Angst.
Professor Pontevivo hat mir die Angst genommen. Professor Pontevivo ist ein großer Mann. Vielleicht klingt es ihm sogar, mich noch einmal gesund zu machen.
Aber dazu muß ich die Wahrheit bekennen, sagt er.
Im Stockwerk unter mir liegt das Musikzimmer der Anstalt. Der rauschgiftsüchtige Franzose spielt Klavier, leise kann ich ihn hören. Er ist noch sehr jung und schon zum fünftenmal hier. Ein hoffnungsloser Fall. Gewiß wird er bald sterben oder verrückt werden.
Als er eingeliefert wurde, erzählte mir Professor Pontevivo, stand dieser junge Komponist mitten in der Arbeit an einem Klavierkonzert. Wenn man ihm nun überhaupt kein Rauschgift gibt, kann er nicht weiterkomponieren. Die größten Musiker der Welt haben Professor Pontevivo angefleht, diesem kranken Menschen die Weiterarbeit an seinem Konzert zu ermöglichen.
Man erzählt sich, er bekäme nun jeden Tag ein wenig Dolantin, gerade genug, um seinem genialen Gehirn, dieser Hoffnung und Freude der internationalen Musikwelt Wohlklang und Unsterblichkeit zu entlocken. Unsterblichkeit aus Fäulnis, halbem Wahnsinn, halbem Tod.
Der junge Mann arbeitet wie ich, am Vormittag, am Nachmittag. Ich muß an das »Konzert in F« von Gershwin denken, wenn leise und gedämpft sein Spiel zu mir dringt, wenn ich sie höre, seine Melodien. Es ist natürlich eine völlig andere Komposition, die da entsteht, so wie es auch ganz sicher nichts zu tun hat miteinander, daß man diesem jungen Mann ein bißchen Dolantin gibt und mir ein bißchen Evipan. Denn er schafft etwas Schönes, und wenn er stirbt oder den Verstand verliert, wird etwas Schönes übrigbleiben. Ich schaffe etwas Häßliches. Wenn ich verrückt werde, wenn ich hier sterbe, wird etwas Häßliches übrigbleiben: die Wahrheit. Eines haben wir indessen gemeinsam: Wir müssen beide fleißig sein. Von unserer kleinen Menge Zeit dürfen wir nichts vergeuden. Wir müssen fertig werden, er und ich. Denn das Schöne und das Häßliche, fragmentarisch, das Gute und das Böse, unvollendet, können niemandem zur Freude sein und niemandem zur Lehre.
So hebe ich meine Augen und blicke hinaus in den blühenden Park, den schönsten, den ich je sah, und sehe das zweitausendjährige Kolosseum, den ewigen Himmel über der Ewigen Stadt, blühende Bäume, blühende Blumen, Frühling, Sonnenschein und den Polizisten, der mich bewacht.
In den Monaten, die hinter mir liegen, habe ich alle moralischen Grenzen überschritten, die ein menschliches Wesen zu überschreiten vermag. Kein Verbrecher kann Ärgeres geplant, gedacht, gefühlt oder getan haben als ich. Nichts von dem, was ich tat, läßt sich rückgängig machen. Die Toten bleiben tot, die Taten bleiben getan. Ich kann nur noch die Wahrheit berichten. Und das will ich tun. Ich schwöre es im Gedanken an Shirley, den einzigen Menschen, den ich liebte.
Das kleine goldene Kreuz, das sie mir schenkte auf dem Flughafen von Los Angeles, liegt in meiner Hand, heiß und lebendig. Es ist das Blut in meinem Körper, welches gegen das Metall pocht, doch man könnte meinen, es pochte selber, dieses Kreuz aus Gold, das mich begleitet hat auf meiner langen Reise durch Verbrechen, Finsternis und Unheil.
An Shirley, an unsere verlorene Liebe denke ich.
Bei dieser unserer Liebe schwöre ich, daß ich die Wahrheit, die ganze Wahrheit sagen, daß ich nichts hinzufügen und nichts verschweigen werde, so wahr Shirley mir helfe. Und so fahre ich denn fort in meinem Bericht dessen, was in Hamburg geschah am Morgen des 27. Oktober 1959.