22

»Sauer, was?« rief Kostasch entzückt und rieb sich die Hände. Seatons Augen leuchteten auf. Die beiden gaben sich einen Blick. Da wußte ich, daß wir 421, wenn es sein mußte, bis Mitternacht drehen würden. Kein Regisseur läßt sich echte Gefühle entgehen. Laut Drehbuch hatten Wallace und ich einander zu hassen. Das taten wir jetzt wirklich. Es würde sehr natürlich wirken, was wir sagten. Wenn wir es noch herausbekamen.

Henry Wallace und ich hatten einander nie leiden können. Er galt in Amerika als »high-brow«, als intellektueller Schauspieler. Er hatte zweimal den »Oscar« bekommen, betrieb private James-Joyce-Forschungen, sammelte frühindianische Kunstwerke, korrespondierte mit Jean Cocteau und Bernard Buffet und war der Verfasser eines Buches über atonale Musik.

Ich war für ihn einfach ein Idiot. Wenn er nicht derartige Steuerschulden gehabt hätte, daß er einfach für ein Jahr nach Europa gehen mußte, wäre er niemals mein Partner geworden, hätte er niemals in einem Film mit mir gespielt. Als Partner eines Idioten. Im Film eines Idioten.

Er war ein phantastischer Schauspieler. Widerwärtig. Hochmütig. Versnobt.

Aber phantastisch.

Also wirklich.

»Es ist jetzt fünf Minuten vor sieben«, meldete sich wiederum Herr Albrecht. Ich sah jetzt, daß er sich einen großen Plan zurechtgelegt hatte, einen richtigen Schlachtplan.

»Du sollst das Maul halten! Wenn wir 421 heute nicht mehr in den Kasten kriegen, sind wir gleich am ersten Tag im Rückstand, und die Disposition von morgen stimmt wieder nicht.«

»Daran trifft mich wohl keine Schuld, Herr Kostasch!«

»Wir versuchen es noch einmal«, sagte Seaton. Ich schluckte die beiden roten Pillen Schaubergs. Dann drehten wir die Szene noch einmal.

Die Szene mißlang. Ich versprach mich.

»Noch einmal, bitte.«

Der alte Oberbeleuchter, der im Atelier die Gewerkschaft vertrat, blies auf seinem Pfeifchen. Es war 19 Uhr, Ende der gesetzlichen Arbeitszeit.

»Überstunden!« rief der Masselmolch.

»Mein Geld ist es ja nicht«, sagte Herr Albrecht und lächelte mich an. Eine halbe Stunde später schrieb das Script-Girl:

19.02-19.35 Uhr: Einst. 421. Weitere 6 Aufnahmen. Alle 6 UB. Versprechen Mr. Jordans. Mr. Wallace stolpert. Düsenjäger überfliegt Halle, und Tonmeister bricht ab. Überstundenlöhne seit 19.00 Uhr.

Um 19 Uhr 35 rann mir der Schweiß über den ganzen Körper, und vor meinen Augen drehten sich feurige Räder und schwarze Punkte. Ich hörte, wie die Bühnenarbeiter miteinander Wetten abschlossen. Mein Maskenbildner meldete: »Schminke weicht auf.«

»Zehn Minuten Pause!« rief Seaton.

Ich sagte zu dem alten Oberbeleuchter: »Bier und Schnaps für alle!«

Dann ging ich hinter Nr. 57 in den Schminkraum, und zusammen mit Nr. 58 brachte er mein Make-up wieder in Ordnung. Die ganze Zeit sprach er mit mir, aber ich verstand kein Wort, denn in meiner Magengrube rührte sich etwas.

Die Faust.

Da war sie wieder.

Klopfte. Hob sich. Senkte sich. Lebte.

Ich kam gerade noch in meine Garderobe. Nr. 61, der mir helfen wollte, das durchgeschwitzte Smokinghemd zu wechseln, warf ich grob hinaus. Ich taumelte jetzt, ich konnte nicht mehr gehen. In meinen Ohren dröhnten Glocken. Die Hände zitterten so sehr. daß ich den Verschluß der schwarzen Tasche erst aufbekam, als mir vor Wut über meine Schwäche schon Tränen in den Augen standen.

Wrack. Wrack, Versoffenes Wrack.

Ich nahm mir nicht die Mühe, die Tür abzusperren oder den Vorhang des Fensters zu schließen, welches klapperte, denn mit der Nacht war wieder Sturm aufgekommen. Ich nahm nicht Eis, nicht Soda, nicht einmal ein Glas. Ich zog den Korken mit den Zähnen aus der Flasche.

Ein Lautsprecher an der Decke schaltete sich ein: »Eine Zeitdurchsage. 19 Uhr 45. Noch fünf Minuten Pause in Halle drei.« Ich trank und trank und trank. Dann fiel ich in einen Sessel, die Flasche in der einen Hand, die andere an den Leib gepreßt, um sie aufzuhalten, die mörderische Faust auf ihrem Weg nach oben, meinem Herzen zu.

Bis zur bitteren Neige
xxx.html
xxxli1.html
xxxpa1.html
xxxch1.html
xxxch2.html
xxxch3.html
xxxch4.html
xxxch5.html
xxxch6.html
xxxch7.html
xxxch8.html
xxxch9.html
xxxch10.html
xxxch11.html
xxxch12.html
xxxch13.html
xxxch14.html
xxxpa2.html
xxxch15.html
xxxch16.html
xxxch17.html
xxxch18.html
xxxch19.html
xxxch20.html
xxxch21.html
xxxch22.html
xxxch23.html
xxxch24.html
xxxch25.html
xxxch26.html
xxxch27.html
xxxch28.html
xxxch29.html
xxxch30.html
xxxch31.html
xxxch32.html
xxxch33.html
xxxch34.html
xxxch35.html
xxxch36.html
xxxpa3.html
xxxch37.html
xxxch38.html
xxxch39.html
xxxch40.html
xxxch41.html
xxxch42.html
xxxch43.html
xxxch44.html
xxxch45.html
xxxch46.html
xxxch47.html
xxxch48.html
xxxch49.html
xxxch50.html
xxxch51.html
xxxch52.html
xxxch53.html
xxxch54.html
xxxch55.html
xxxch56.html
xxxch57.html
xxxch58.html
xxxch59.html
xxxch60.html
xxxch61.html
xxxch62.html
xxxch63.html
xxxch64.html
xxxch65.html
xxxch66.html
xxxpa4.html
xxxch67.html
xxxch68.html
xxxch69.html
xxxch70.html
xxxch71.html
xxxch72.html
xxxch73.html
xxxch74.html
xxxch75.html
xxxch76.html
xxxch77.html
xxxch78.html
xxxch79.html
xxxch80.html
xxxch81.html
xxxch82.html
xxxch83.html
xxxch84.html
xxxch85.html
xxxch86.html
xxxch87.html
xxxch88.html
xxxch89.html
xxxpa5.html
xxxch90.html
xxxch91.html
xxxch92.html
xxxch93.html
xxxch94.html
xxxch95.html
xxxch96.html
xxxch97.html
xxxch98.html
xxxch99.html
xxxch100.html
xxxch101.html
xxxch102.html
xxxch103.html
xxxch104.html
xxxch105.html
xxxch106.html
xxxch107.html
xxxch108.html
xxxch109.html
xxxch110.html
xxxpa6.html
xxxch111.html
xxxch112.html
xxxch113.html
xxxch114.html
xxxch115.html
xxxch116.html
xxxch117.html
xxxch118.html
xxxch119.html
xxxch120.html
xxxch121.html
xxxch122.html
xxxch123.html
xxxch124.html
xxxch125.html
xxxch126.html
xxxch127.html
xxxch128.html
xxxch129.html
xxxch130.html
xxxch131.html
xxxpa7.html
xxxch132.html
xxxch133.html
xxxch134.html
xxxch135.html
xxxch136.html
xxxch137.html
xxxch138.html
xxxch139.html
xxxch140.html
xxxpa8.html
xxxch141.html
xxxch142.html
xxxch143.html
xxxch144.html
xxxch145.html
xxxch146.html
xxxch147.html
xxxch148.html
xxxch149.html
xxxch150.html
xxxch151.html
xxxch152.html
xxxch153.html
xxxch154.html
xxxch155.html
xxxch156.html
xxxch157.html
xxxch158.html
xxxch159.html
xxxch160.html
xxxch161.html
xxxch162.html
xxxch163.html
xxxch164.html
xxxpa9.html
xxxch165.html
xxxch166.html
xxxch167.html
xxxch168.html
xxxch169.html
xxxch170.html
xxxch171.html
xxxch172.html
xxxch173.html
xxxch174.html
xxxch175.html
xxxch176.html
xxxch177.html
xxxch178.html
xxxch179.html
xxxch180.html