4

»Trauzeuge?«

Es war sieben Uhr früh am 5. Dezember. Schauberg und ich standen in der Dunkelheit vor dem Hoteleingang. Es schneite wieder, und aus dem Auspuff des angelassenen Wagens kroch eine zitternde weiße Gasschlange. Schauberg hatte den Mercedes eben aus der Garage gebracht.

»Trauzeuge, ja«, sagte er.

»Sie wollen doch nicht heiraten!«

»Aber ja.«

»Wen?«

»Käthe natürlich.«

Ich war so verblüfft, daß ich auf dem Schnee ausglitt und mich auf das rechte Scheinwerferblech setzte.

»Was starren Sie mich so an, lieber Mister Jordan? Wir möchten gerne Sie und Frau Misere als Trauzeugen haben. Sie sind mein Wunsch, Madame ist Käthes Wunsch. Die Hochzeit findet am 12. Dezember um 12 Uhr statt. Das ist am nächsten Samstag. Da sind Sie doch zu Mittag fertig im Atelier. Wollen Sie uns also die Ehre erweisen?«

»Jetzt sagen Sie mir die Pointe.«

»Was für eine Pointe?«

»Von diesem Witz.«

»Es ist kein Witz. Er hat keine Pointe. Käthe und ich wollen heiraten.« Er lächelte, als er das sagte, und ich mußte wieder einmal an meinen Vater denken. Er lächelte so charmant, er stand so lässig da, so souverän in seinem Monteuranzug.

Ich erhob mich wieder von dem Scheinwerfer.

»Sie haben es erreicht mit Ihren Drogen. Ich bin verrückt geworden. Wissen Sie, daß ich Sie eben sagen hörte, Sie wollten Käthe heiraten?«

»Das habe ich auch gesagt.«

»Dann sind Sie verrückt geworden. Es ist das Morphium.«

»Was ist so verrückt daran, daß ich Käthe heiraten will?«

»Für mich bricht eine Welt zusammen.«

»Tut sie das?«

»Wissen Sie, daß ich Sie bewunderte?«

»Und wofür, lieber Mister Jordan?«

»Für Ihren perfekten Zynismus, Ihren unbestechlichen, eiskalten Verstand. Sie waren für mich der Mann ohne verlogene Ideale, ohne Geschwätz, der Mann, der niemals einer so verräterischen, unpräzisen Sache wie einem Gefühl erliegen kann … geschweige denn der Liebe.«

»Es tut mir leid, Sie zu enttäuschen, lieber Mister Jordan. Ich bin ihr erlegen.«

»Sie können doch gar nicht lieben!«

»Doch, Mister Jordan. Einen Menschen. Käthe.«

»Und ich höre doch Worte, die nicht gesprochen werden!«

»Sie hören nur die Worte, die ich spreche. Sie bewundern — vielen Dank — meinen perfekten Zynismus. Nun —«

»Ich sagte, ich bewunderte ihn. Er kann nicht perfekt sein.«

»Warum nicht?«

»Weil er sonst Liebe unmöglich machen würde.«

»Im Gegenteil. Er kommt der Liebe, meiner Liebe, sehr zustatten. Wäre ich ein ehrenwerter, moralischer Idealist — ich könnte keine Hure heiraten, die im Bordell arbeitet: eine Frau, die dumm ist, primitiv, einfältig, ungebildet. Das ist Käthe doch alles — oder etwa nicht?«

Ich schwieg.

Schauberg sagte: »Für einen Zyniker wie mich gibt es aber noch eine zweite Käthe. Die Käthe Nummer zwei ist treu wie keine Frau, die ich je traf. Sie hat sich die Unschuld eines Kindes bewahrt, trotz allem, was sie tut. Sie lügt niemals, sie wird mich nie verraten. Sie hat zu mir gehalten in der schlimmsten Zeit. Diese zweite Käthe würde sich für mich töten lassen. Ich habe sie oft gekränkt, beleidigt, getreten, wie man einen Hund tritt. Sie hat mich immer nur geliebt.« Und nun sprüh er auf einmal anders, ganz anders als mein Vater, auf einmal stand er anders vor mir, und er erinnerte mich nicht mehr an den Mann, der meine Mutter unglücklich gemacht hatte. »Ich will hier weg. Ich will noch einmal anfangen, von vorn, trotz allem. Allein schaffe ich das nicht. Mit einem Menschen, der zu mir hält, der immer nur die Wahrheit sagt und der das Böse nicht zu fürchten hat, weil seine Unschuld stärker ist als alles Böse — mit einem solchen Menschen werde ich es schaffen.«

Ich schwieg.

»Sie glaubten natürlich, ich würde Käthe im Stich lassen.«

»Natürlich.«

»Verständlich. Es war das Logische, Vernünftige, das, was man tut. Zuerst habe ich auch so gedacht — klar. Aber dann, mit den Wochen, mit den Monaten, entdeckte ich, daß ich Käthe liebte. Was soll ich machen? Sie tat in ihrer großen Dummheit, ihrer Einfalt, Dinge … keine großen Dinge, kleine … die mich rührten, mir ans Herz gingen … mir, der ich dachte, kein Herz zu besitzen … Dinge, die ich bewunderte.«

»Nennen Sie ein Beispiel.«

»Zwei Männer in Leipzig schenkten ihr widerrechtlich sieben Aale. Unter Druck gesetzt, floh sie aus der Zone, weil sie die beiden nicht verraten wollte. Sie ließ alles zurück, ihre Heimat, ihre Jugend. Hätten Sie die Männer verraten?«

»Ja, wahrscheinlich.«

»Ich auch. Sehen Sie. Und solche Dinge tat sie weiter, hier, in Hamburg, immer wieder. Was ist Liebe, Mister Jordan? Ins Bett gehen zusammen? Sich verkrampfen ineinander und keuchen, und von Geilheit überfließen, so wie Tiere? Wie lange dauert das? Wie lange kann so etwas dauern — bei Ihnen, bei mir, bei uns allen? Zwei Jahre? Drei Jahre? Einen Monat? Und was kommt dann?«

»Was kommt dann?«

»Meistens nichts. Manchmal eine menschliche Beziehung. Einer braucht den anderen. Einer vertraut dem anderen. Vertrauen und Brauchen, einer dem anderen, einer den anderen — das ist wohl Liebe. Und darum heiraten wir.«

»Ich verstehe.«

»Und sind furchtbar enttäuscht von mir«, sagte Schauberg. Er lächelte noch immer und rückte an seiner Baskenmütze, und der Schnee fiel auf uns, Dezemberschnee, kristallen und sauber, völlig sauber noch, weil er noch nicht in Berührung gekommen war mit unserer schmutzigen Erde.

Bis zur bitteren Neige
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