5
Danach entsinne ich mich nur noch an sehr wenig, denn Natascha gab mir ein starkes Beruhigungsmittel, bevor wir das Hotel verließen und zwei Männer mich auf einer Bahre zum Bahnhof hinübertrugen. Ich erinnere mich an das Rollen der Räder und an vorüberhuschende Lichter in verlassenen Stationen. Von Zeit zu Zeit wachte ich auf. Wenn ich die Augen öffnete, sah ich Natascha. Sie saß die ganze Zeit an meinem Bett.
Sobald ich erwachte, legte sie eine Hand an meine Wange und lächelte. Einmal küßte sie mich noch, daran erinnere ich mich, und auch daran, daß wir mehrmals auf offener Strecke hielten. Im Morgengrauen bewegten wir uns auf kraftlos rosenrot gefärbte Wolken zu, die, wie ich annehmen mußte, über dem Himmel Roms hingen. Ich sah nur den Himmel und die Wolken, denn ich war zu schwach, den Kopf zu heben. Ich erinnere mich daran, daß zwei große Geschwüre in meinem Gesicht aufbrachen und das Kissen mit Blut und Eiter beschmutzten, und daß Natascha mir das Kissen ihres Bettes gab, nachdem sie mich gereinigt und die offenen Hautstellen desinfiziert hatte.
Ich erinnere mich an Hügelketten und an das Seufzen eines anderen, fremden Windes, der nun den Zug entlangstrich. Hier unten gab es keinen Schnee, aber es war kalt, und einmal erschütterte ein mächtiges Brausen die Luft.
»Was ist das?«
»Düsenjäger.«
»Die gibt es hier auch …«
»Die gibt es überall, auf der ganzen Welt«, sagte Natascha.
An die Ankunft in Rom erinnere ich mich nicht mehr, und auch nicht mehr daran, daß man mich in einen Krankenwagen hob. Erst in diesem kam ich wieder zu Bewußtsein und sah Natascha neben mir sitzen, und neben Natascha einen Mann in einer blauen Uniform. Sie lächelten beide. Und auch ich lächelte und griff nach Nataschas Hand. Die Fenster des Krankenwagens bestanden bis auf schmale, durchsichtige Streifen aus Milchglas. Aber ich wußte, wir fuhren nun durch die leeren morgendlichen Straßen der Ewigen Stadt, vorbei an schönen Gebäuden und plätschernden Brunnen.
Am Kolosseum bog der Wagen in eine Straße mit uralten Bäumen ein — der Viale Parco di Celio, wie ich heute weiß — und erreichte eine hohe Mauer mit einem hohen Tor. Das Tor wurde geöffnet. Wir fuhren in einen großen Park hinein, darin gab es Palmen und Lorbeerbäume, Pinien und Eukalyptussträucher. Als der Wagen hielt, verlor ich das Bewußtsein.
Ich kam wieder zu mir und fand mich in einem schönen, großen Zimmer. Und wieder saß Natascha an meinem Bett. Sie sah unendlich erschöpft aus. Neben ihr stand ein kleiner Mann in einem weißen Mantel. Der Mantel leuchtete wie sein Haar, seine Gesichtsfarbe war rosig. Er sprach englisch zu mir, während er eine Ampullenspitze absägte: »Guten Morgen, Mister Jordan. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Frau Doktor Petrowna hat mir schon alles über Sie erzählt.«
»Guten Morgen, Professor Pontevivo.«
»Sie sind jetzt in Sicherheit. Was immer Sie getan haben — niemand wird Sie zur Rechenschaft ziehen, bevor Sie sich verteidigen können wie ein normaler Mensch. Sie dürfen jetzt nur an eines denken.«
»Woran?«
»Daß Sie gesund werden müssen, Mister Jordan, ganz gesund.«
Er trat zum Fenster und füllte eine Injektionsspritze mit dem Inhalt der Ampulle. Ich sah Natascha an. Ihre schwarzen Augen glänzten feucht.
»Ich muß zurück zu Mischa. Aber ich komme wieder.«
»Bitte«, sagte ich. »Bitte, komm wieder.«
»Bestimmt.«
Ich wollte sagen: Ich liebe dich. Aber dann dachte ich an alle unsere Worte in jenem Hotelzimmer am Bahnhof von Verona, und darum sagte ich leise: »Ich brauche dich so.«
Sie nahm meine Hand und drückte sie an ihre Wange.
Professor Pontevivo trat mit der Injektionsnadel heran. »Wenn Sie sich jetzt verabschieden wollen, Mister Jordan. Sie werden sofort schlafen.«
»Lange?«
»O ja«, antwortete er, »sehr, sehr lange.«
»Leb wohl, Natascha«, sagte ich. »Gib Mischa einen Kuß von mir.« Sie nickte und stand auf.
Ich legte mich zur Seite, der Professor schlug, die Decke zurück, aber ich sah immer noch Natascha an, ihr schönes Gesicht mit der wundervollen Stirn, die für mich stets umgeben gewesen war von einem hellen Schein. Die Injektionsnadel traf meinen Rücken. Da sagte ich, glaube ich, doch noch: »Ich liebe —«
Ich weiß nicht, ob ich es sagte. Mehr sagte ich gewiß nicht. Vielleicht sagte ich auch gar nichts, vielleicht wollte ich es nur sagen, weil ich es dachte. Dann sagte ich nichts mehr und dachte nichts mehr, denn Nataschas Gesicht, der Raum, alles um mich zerfloß in ein milchiges Nichts, und ich versank in Schlaf — den längsten, tiefsten, schwersten Schlaf meines Lebens.