7
Um 14 Uhr stand ich noch immer da.
Der Verkehr hatte nicht nachgelassen, es schneite jetzt stärker, und der Schnee blieb liegen. Ich fror, ich trug nur einen dünnen Mantel. Zehn Minuten nach zwei war ich mit meiner Geduld am Ende. Ich griff gerade nach dem Klingelzug, als ich jenseits des Tores Stimmen hörte, die Stimmen von zwei Männern und die Stimme Shirleys. Sie lachten. Sie wurden lauter. Schritte näherten sich.
Also ließ ich den Klingelzug los und trat nach links. Die kleine Tür im großen Tor lag rechts. Sie öffnete sich. Lachend traten Shirley und der junge Hennessy heraus. Shirley sagte: »Auf Wiedersehen. Und vielen, vielen Dank.«
Der junge Hennessy (sein Gesicht zeigte eine gesunde rote Farbe) sagte: »Tschüß, Thomas.«
Den Mann, zu dem sie beide sprachen, konnte ich nicht sehen. Ich hörte nur seine Stimme: »Lebt wohl, ihr beiden.«
Es war eine junge Stimme.
Die kleine grüne Tür wurde geschlossen. Shirley hängte sich bei Hennessy ein. Sie trug ihren weißen Lammfellmantel, schwarze Wollstrümpfe und flache, schwarze Schuhe. Über das rote Haar hatte sie ein schwarzes Tuch gebreitet.
Hennessy sagte: »Wollen wir noch schnell Kaffee trinken?«
Shirley begann: »Nein, ich muß ins Hotel. Mein Stiefvater —« Dann sah sie mich endlich, denn in diesem Moment wandten sich beide zum Gehen. Hennessy trat einen Schritt zurück. Er wurde nun sehr blaß, der junge Mann mit der eben noch so gesunden Gesichtsfarbe.
Shirley sagte leise: »Wie schrecklich.«
»Ist es schrecklich, ja?« Ich konnte kaum sprechen.
»Zu früh. Es ist zu früh!«
Ein Autobus fuhr vorbei und bespritzte uns mit Dreck.
»Was ist zu früh?«
»Ich habe dich doch so gebeten, noch etwas Geduld zu haben … nur noch ein paar Tage … ich hätte dir alles erzählt …«
Ich schwieg.
»Hören Sie mal, Mister Jordan —«, begann Hennessy.
»Wenn Sie ein einziges Wort sagen, schlage ich Ihnen die Zähne ein!«
»Moment mal, ja? Moment mal!«
Er war größer, er war jünger, er war stärker. Das war mir alles ganz egal. Ich packte ihn mit meiner linken Hand am Mantelaufschlag und holte mit der rechten Faust aus.
»Peter!« schrie Shirley.
»Sie tun uns Unrecht, Mister Jordan«, sagte der bleiche Hennessy. Er wehrte sich nicht, er ließ die Arme hängen.
»Ihr trefft euch heimlich. Ihr verschwindet stundenlang. Durch Wochen geht das so. Aber ich tue euch Unrecht, ja?«
»Ja«, sagte Shirley. »Ach Gott, warum hast du mir nicht noch ein paar Tage Zeit gelassen?«
»Was habt ihr hier gemacht?«
»Wir waren bei meinem Bruder.«
»Einen freundlichen Bruder haben Sie. Die Absteige in der Familie erspart das Hotelzimmer.«
Er wurde jetzt wieder rot, und auch seine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Nicht«, sagte Shirley zu ihm. »Bitte nicht, Werner.«
Werner! Ich schlug zu.
Er flog krachend gegen das grüne Tor. Seine Nase begann zu bluten. Er wollte sich auf mich stürzen, aber Shirley warf sich dazwischen. Leute blieben stehen. Ein kleiner Junge schrie entzückt: »Mammi! Mammi! Guck doch, die zwei Kerle!«
Shirley drängte Hennessy an die Mauer zurück. »Laß ihn … laß ihn …«
»Wenn er glaubt, er kann mich schlagen —«
»Sie kriegen gleich noch mehr!«
Die kleine grüne Tür ging wieder auf. Ein Mann von etwa 35 Jahren stand in ihrem Rahmen, schlank, groß, mit kurzgeschnittenem blondem Haar. Er fragte erschrocken: »Was war das eben? Was geht hier vor?«
»Bitte, entschuldigen Sie, entschuldigen Sie!« Shirleys Stimme flog. »Das ist mein Stiefvater. Er … er hat mich hier erwartet. Ich muß ihm viel erklären … Ihnen auch … Peter, das ist Vater Thomas …«
Sie sprach Englisch. Sie sagte: »Father Thomas.«
»Sie … Sie sind sein Bruder?« stammelte ich.
»Ja, mein Herr«, sagte der schlanke junge Mann im schwarzen Anzug eines katholischen Priesters, »ich bin Werners Bruder.«