Der Umschlag kam um sieben Uhr abends per Bote, kurz bevor Ruth nach Hause kam. Ich legte ihn beiseite und versuchte, einen normalen Abend mit ihr zu verbringen. Nachdem sie schlafen gegangen war, öffnete ich das Kuvert, zog mich in meine Bibliothek zurück und las.
VERNEHMUNGSPROTOKOLL AZ#102-789793/#64-458990/# 135-935827 ORT: L. A. Stadtgefängnis, Hochsicherheitstrakt ZEIT: 1.6.89, 19:30 VERDÄCHTIGER: Jones, Charles, Lyman III., männl., weiß, 190 cm, braun, blau, 38 Jahre ANWALT DES VERDÄCHTIGEN: Tokarik, Anthony M.
VERNEHMENDE POLIZEIBEAMTE: Milo B. Sturgis #15994, West L. A. (Sonderkommando); Stephen Martinez #26782, Devonshire STURGIS: Dies ist die zweite Vernehmung des Verdächtigen Charles Lyman Jones III. Der Verdächtige ist bei seiner Verhaftung wegen versuchten Mordes über seine Rechte belehrt worden. Die Rechtsbelehrung wurde während der ersten Vernehmung, am ersten Juni 1989 um elf Uhr, wiederholt und auf Tonband aufgenommen und am selben Tag um vierzehn Uhr niedergeschrieben. Besagte Vernehmung wurde auf Antrag des Rechtsbeistands des Verdächtigen, Mr. Anthony M. Tokarik, unterbrochen. Die jetzige Vernehmung stellt die auf Mr. Tokariks Wunsch anberaumte Wiederaufnahme des besagten Verhörs dar. Soll ich die Rechtsbelehrung wiederholen, Herr Rechtsanwalt, oder erachten Sie die Prozedur zu Beginn der früheren Vernehmung als hinreichend? TOKARIK: Sie genügt, es sei denn, Professor Jones möchte eine Wiederholung. Chip?
JONES: Nein. Laßt uns die Sache hinter uns bringen. T.: Bitte beginnen Sie. S.: Guten Abend, Chip.
T.: Ich würde es vorziehen, wenn Sie meinen Mandanten respektvoller anreden würden. S.: Ist Professor okay?
T.: Ja, aber wenn Ihnen das zu schwierig ist, würde auch »Mr. Jones« genügen. S.: Haben Sie ihn nicht eben Chip genannt? T.: Ich bin sein Anwalt.
S.: Aha, hm, natürlich. Ich würde ihn sogar »Doktor« nennen, wenn er den nur fertig gemacht hätte, nicht wahr, Chip? - Mr. Jones? - Was sagen Sie? Ich kann Sie nicht verstehen. J.: (Unverständlich)
S.: Sie müssen schon deutlicher reden, Mr. Jones. Mit Grunzen kommen wir nicht weiter.
T.: Warten Sie. Wenn sich Ihr Ton nicht ändert, werde ich dieses Verhör sofort beenden.
S.: Machen Sie, was Sie wollen - es schadet nur Ihrem Mandanten. Ich dachte, Sie wüßten gern, welche Beweise gegen den guten Chip wir inzwischen gesammelt haben. Gegen Mr. Jones, meine ich. Entschuldigung.
T.: Nach den Verfahrensregeln kann ich mir Ihre Beweise jederzeit vom Staatsanwalt besorgen, Inspektor. S.: Na schön, dann warten Sie eben bis zur Verhandlung. Komm, wir gehen, Steve. MARTINEZ: Klar, laß uns gehen. J.: Langsam! (Unverständlich.)
T.: Warten Sie. Chip? (Unverständlich.) Ich möchte mich mit meinem Mandanten privat unterhalten, wenn Sie nichts dagegen haben.
S.: Wenn es nicht zu lange dauert. (Band abgeschaltet: 19:39; Band eingeschaltet: 19:51) T.: Also, zeigen Sie uns, was Sie haben. S.: Gut, aber wird Mr. Jones auch Fragen beantworten, oder haben Sie eine Ein-Mann-Show mit mir als Alleinunterhalter im Sinn?
T.: Mein Mandant behält sich das Recht vor, die Aussage zu verweigern. Nun machen Sie weiter, wenn Sie möchten.
S.: Was meinst du, Steve? M.: Ich weiß nicht.
T.: Haben Sie sich entschieden, meine Herren? S.: Gut, okay ..
. Also, Chip - Mr. Jones -, es freut mich, daß Sie einen so hochbezahlten Anwalt wie Mr. Tokarik gewählt haben, denn den werden Sie sicher - T.: Dies geht sicherlich in die falsche Richtung. Meine Gebühren haben nichts zu tun - S.: Was soll das hier werden, Anwalt, verhören wir einen Verdächtigen, oder wollen Sie nur meinen Stil kritisieren? T.: Ich protestiere nachdrücklich gegen Ihre - J.: Nun halt endlich das Maul, Tony! Die ganze Sache ist doch lächerlich!
S.: Was ist lächerlich, Professor Jones? J.: Der Fall, den Sie gegen mich zu haben glauben. S.: Sie haben nicht versucht, Ihrer Tochter, Cassandra Brooks, Insulin zu injizieren?
J.: Natürlich nicht. Ich fand die Nadel in Cindys Tasche, wurde aufgeregt, weil es meinen Verdacht gegen sie bestätigte, und wollte nachsehen, ob sie die Dosis schon in Cassies Tropf gespritzt hatte. Schau mich nicht so an, Tony - meine Zukunft steht hier auf dem Spiel. Ich will hören, welche Geschichte sie sich zusammengesponnen haben, und die Sache ein für allemal aufklären. S.: Sie meinen, wir spinnen? T.: Chip - S.: Ich mache nicht weiter, wenn - J.: Er ist der Anwalt meiner Wahl. Machen Sie weiter. S.: Sind jetzt alle soweit? Gut. Als erstes: Wir haben Sie auf Video, wie Sie versuchen, das Insulin in - J.: Falsch. Ich sagte doch, daß ich nur versuchte zu sehen, was Cindy angestellt hatte.
S.: Wie gesagt, wir haben Sie auf Video, wie Sie versuchen, Insulin in den intravenösen Schlauch Ihrer Tochter zu spritzen. Außerdem haben wir Aufnahmen vom Eingang des Western Pediatric Medical Centers, die belegen, daß Sie das Krankenhaus nicht durch den Vordereingang betraten. Einer der Schlüssel an Ihrem Bund ist als Hauptschlüssel fürs Krankenhaus identifiziert worden. Wahrscheinlich haben Sie den benutzt, um durch die - T.: Ich protestiere - J.: Tony.
T.: Ich verlange eine kurze Besprechung mit meinem - J.: Hör endlich auf, Tony. Ich bin nicht einer von deinen schwachsinnigen Soziopathen. Machen Sie weiter mit Ihrem Märchen, Inspektor. Sie haben übrigens recht, ich habe wirklich einen von Vaters Schlüsseln benutzt. Na und? Immer wenn ich ins Krankenhaus gehe, versuche ich den Haupteingang zu umgehen. Ich will kein Aufsehen erregen. Ist das etwa verboten?
S.: An einem Automaten im Krankenhaus kauften Sie zwei Becher Kaffee, dann gingen Sie die Treppen hinauf zum fünften Stock. Dort oben haben wir Sie auch gefilmt, im Korridor zwischen Fünf-Ost und der Privatstation. Sie haben einen Becher in jeder Hand und schauen durch einen Schlitz in der Tür. Für mich sieht das aus, als warteten Sie, bis die Nachtschwester in ihr Zimmer verschwindet. Dann begeben Sie sich zum Zimmer 505 West, wo Sie sich fünfundfünfzig Minuten aufhalten, bis ich dazukomme und Sie erwische, wie Sie gerade die Nadel in den Tropf Ihrer Tochter einstechen. Wir zeigen Ihnen jetzt all diese Videoaufzeichnungen, okay? J.: Das erscheint mir höchst überflüssig, aber machen Sie, was Sie wollen.
(Band abgeschaltet: 20:22; Band eingeschaltet: 21:10) S.:
Irgendwelche Kommentare? J.: Ist nicht gerade ein Godard. S.: Ach nein? Ich denke, es hat eine Menge vérité. J.: Sind Sie ein Fan von cinéma vérité, Inspektor? S.: Eigentlich nicht, Mr. Jones. Es erinnert mich zu sehr an meine Arbeit. J.: Haha, das gefällt mir. T.: Ist das alles? Sind das Ihre Beweise, in toto?
S.: In toto? Kaum. Jetzt haben wir also gesehen, wie Sie mit der Nadel - J.: Ich habe Ihnen gesagt, was ich da machte: Ich überprüfte, ob der Einlaß am Tropfregler noch intakt war oder ob Cassie die Spritze schon benutzt hatte. S.: Und warum?
J.: Warum? Um mein Kind zu beschützen! S.: Wieso verdächtigten Sie Ihre Frau, daß sie Ihrer Tochter Schaden zufügte?
J.: Wegen der Umstände. Wegen der Fakten, die vorlagen. S.:
Die Fakten.
J.: Genau. Ihre Persönlichkeit - die Dinge, die mir auffielen.
Sie benahm sich seltsam - abwesend. Und Cassie schien immer krank zu werden, nachdem sie eine Zeit mit ihrer Mutter verbracht hatte.
S.: Wir haben auch eine Einstichnarbe in Cassies Ellbogengegend gefunden.
J.: Das bezweifle ich nicht, aber ich habe sie ihr nicht beigebracht. S.: Aha. Und was ist mit dem Valium, das Sie Ihrer Frau in den Kaffee taten?
J.: Das habe ich Ihnen schon im Krankenhaus gesagt. Ich habe es ihr nicht gegeben. Sie nimmt es für ihre Nerven, vergessen Sie das nicht. Sie war einem Zusammenbruch nahe. Sie hatte das Zeug schon eine ganze Weile genommen. Wenn sie das abstreitet, lügt sie.
S.: Das streitet sie in der Tat ab. Sie sagt, sie hätte nie gemerkt, daß Sie sie damit vollpumpen.
J.: Sie ist eine gewohnheitsmäßige Lügnerin - merken Sie das nicht? Wenn Sie mich aufgrund ihrer Aussage anklagen, dann bauen Sie einen Syllogismus auf vollkommen falschen Prämissen. Verstehen Sie, was ich sage?
S.: Sicher, Herr Professor. In einem von Cassies Stofftieren hat man Valium-Tabletten gefunden - in einem Hasen. J.: Da haben Sie's. Wie sollte ich davon wissen? S.: Nach den Angaben Ihrer Frau haben Sie mehrere dieser Hasen gekauft.
J.: Ich habe Cassie alles mögliche Spielzeug gekauft. Andere Leute haben ihr auch solche Hasen geschenkt, zum Beispiel diese Schwester, Bottomley - eine sehr zwielichtige Figur. Haben Sie schon überprüft, ob sie nichts damit zu tun hat? S.: Warum sollte sie?
J.: Sie und Cindy scheinen sich sehr nahezustehen - zu nahe, dachte ich immer. Ich wollte sie versetzen lassen, aber Cindy weigerte sich. Überprüfen Sie sie - mit ihr stimmt etwas nicht, glauben Sie mir.
S.: Wir haben sie überprüft. Sie hat den Lügendetektor und alle anderen Tests, die wir mit ihr versucht haben, glänzend bestanden.
J.: Lügendetektoren sind vor Gericht nicht zulässig. S.: Würden Sie sich denn einem Test unterziehen? T.: Chip, nein - J.: Dazu sehe ich keinen Grund. Die Sache ist einfach zu lächerlich.
S.: Weiter. Hatten Sie ein Rezept für das Valium, das wir in Ihrem Büro im College gefunden haben? J.: (lacht) Nein. Ist das ein Verbrechen? S.: Sie werden sich wundern, aber das ist es. Wo haben Sie es her?
J.: Von irgendwo. Ich kann mich nicht erinnern. S.: Von einem Ihrer Studenten? J.: Selbstverständlich nicht.
S.: Von einer Studentin namens Kristie Marie Kirkash? J.: Mm - bestimmt nicht. Vielleicht lag es noch von früher herum.
S.: Für Sie selbst?
J.: Natürlich. Vor einigen Jahren nahm ich Valium - ich stand unter großem Streß. Wenn ich darüber nachdenke, ja, ich bin sicher, so war es. Jemand hatte mir damit ausgeholfen - ein Kollege aus der Fakultät. S.: Wie ist der Name dieses Kollegen? J.: Das weiß ich nicht mehr. Es war nicht so wichtig. Valium ist heutzutage kaum mehr als ein Lutschbonbon. Ich bekenne mich schuldig, Valium ohne Rezept zu besitzen, okay? T.: Was haben Sie eben aus Ihrem Aktenkoffer genommen, Inspektor?
S.: Etwas, das ich laut verlesen werde, fürs Protokoll. T.:
Zuerst will ich eine Kopie davon. Zwei Kopien - eine für mich und eine für Professor Jones.
S.: Das nehme ich hiermit zur Kenntnis. Wir gehen zum Kopierer, sobald wir hier fertig sind.
T.: Nein, ich möchte den Text vor mir haben, wenn Sie ihn - J.: Hör auf damit, Tony. Laß ihn vorlesen, was er will. Ich will heute noch hier rauskommen.
T.: Chip, nichts ist mir wichtiger als deine bevorstehende Entlassung, aber ich - J.: Still, Tony. Lesen Sie, Inspektor. T.: Nein, tun Sie das nicht. Ich bin ganz und gar nicht einverstanden mit - J.: Lesen Sie, Inspektor.
S.: Haben Sie sich jetzt geeinigt? Gut. Dies ist die Niederschrift des Inhalts einer verschlüsselten Computerdiskette, Marke 3M, DS, DD, RH, doppelseitig, doppelte Datendichte, Serie Q, ferner markiert mit FBI-Indizienaufkleber Nummer 133355678345 Strich 452948. Die Diskette wurde in der Kryptographieabteilung des Nationalen Kriminologischen Labors des FBI in Washington, D. C., entschlüsselt und kam heute morgen um 6:45 per Regierungspost im Hauptquartier der Polizei von Los Angeles an. Ich werde den Text in Gänze verlesen, nachdem ich einmal begonnen habe, selbst wenn Sie während der Verlesung mit Ihrem Mandanten den Raum verlassen wollen, Herr Anwalt. In dem Fall ist klar, daß wir Ihnen dieses Beweisstück zur Kenntnis angeboten und Sie abgelehnt haben, es anzuhören. Verstanden? T.: Wir üben alle unsere Rechte aus und fühlen uns an nichts gebunden.
J.: Lesen Sie schon, Inspektor, ich bin gespannt. S.: Ich verlese.
Ich habe diesen Text verschlüsselt, um mich zu schützen. Der Schlüssel ist ein einfacher Substitutionscode - bestimmte Zahlen stehen für bestimmte Buchstaben -, Sie sollten damit fertig werden, Ashmore. Charles Lyman Jones III., genannt Chip, ist ein Ungeheuer.
Er war Tutor an meiner High-School und machte mich sexuell und emotionell von sich abhängig. Das war vor zehn Jahren. Ich war siebzehn und im letzten Jahr des Förderprogramms Mathematik, doch ich brauchte Hilfe in Englisch und Sozialwissenschaften. Er war achtundzwanzig und Doktorand. Er verführte mich, und wir hatten über einen Zeitraum von sechs Monaten wiederholt Sex miteinander, in seiner Wohnung und in der Schule. Dazu gehörten Aktivitäten, die ich persönlich abstoßend fand. Er war häufig impotent und machte ekelhafte Sachen mit mir, um sich zu erregen. Am Ende wurde ich schwanger, und er sagte, er würde mich heiraten. Wir haben natürlich nie geheiratet, wir lebten nur zusammen, in einem Loch in der Nähe der Universität von Connecticut. Dort wurde es schlimmer.
1. Er erzählte seiner Familie nichts von mir. Er hielt sich eine andere Wohnung in der Stadt; dort empfing er seinen Vater, wenn der zu Besuch kam.
2. Er fing an, sich wirklich verrückt zu benehmen. Er mischte Drogen in meine Getränke und spickte mich mit Nadeln, während ich schlief. Zuerst begriff ich nicht, was vor sich ging, wenn ich mit lauter Einstichwunden aufwachte. Er behauptete, ich sei anämisch und die Flecken kämen von geplatzten Gefäßen, wegen der Schwangerschaft. Da er mir erzählt hatte, er hätte in Yale einige Jahre Medizin studiert, glaubte ich ihm. Dann wachte ich eines Nachts auf und sah, wie er mir gerade eine braune, ekelhaft aussehende Brühe injizieren wollte - heute bin ich sicher, daß es Fäkalien waren. Offenbar hatte er mich nicht genug mit Drogen vollgepumpt, deshalb wachte ich auf; vielleicht war ich auch schon so daran gewöhnt, daß ich mehr brauchte, um bewußtlos zu werden. Die Spritze enthielt angeblich irgendeine organische Vitaminlösung - er sagte, es sei alles zu meinem Besten. Ich war jung und glaubte all seine Lügen. Doch eines Tages wurde es mir zuviel, ich drehte durch. Ich verließ ihn und versuchte, bei meiner Mutter unterzukommen, aber die war die ganze Zeit betrunken und wollte mich nicht aufnehmen. Außerdem glaube ich, daß er ihr Geld gab, denn gerade um die Zeit kaufte sie sich einen Haufen neuer Kleider. Ich ging also zu ihm zurück, und je länger ich schwanger war, um so gemeiner und grausamer wurde er. Einmal regte er sich furchtbar auf und sagte, das Baby würde alles zwischen uns kaputtmachen und daß es wegmüsse. Dann wieder behauptete er, es sei gar nicht von ihm, was lächerlich war, denn ich war noch Jungfrau, als ich ihn kennenlernte, und habe nie mit irgend jemand anderem rumgemacht. Am Ende führte der Streß, unter den er mich setzte, zu einer Fehlgeburt. Ich bekam Fieber und schlimme Kopfschmerzen und fühlte mich andauernd schwindelig. Eine Weile dachte ich, ich würde wahnsinnig. Schließlich gab er mir einen Scheck über zehntausend Dollar und sagte, ich sollte aus seinem Leben verschwinden, für immer. Das war damals für mich eine Menge Geld, und ich tat, was er sagte. Ich fühlte mich zu kaputt zum Arbeiten, also landete ich auf der Straße, wurde mein Geld los und heiratete einen schwarzen Gelegenheitszuhälter. Das ging ungefähr sechs Monate lang gut. Danach ging ich in Entzug und aufs College. Ich nahm Mathe und Informatik als Hauptfächer und hatte Bestnoten, doch dann verführte mich ein anderer Lehrer, ROSS M. Herbert. Ich war zwei Jahre mit ihm verheiratet. Er war kein Ungeheuer wie Chip Jones, aber er war langweilig und unhygienisch. Ich ließ mich scheiden und verließ das College nach drei Jahren. Ich fand einen Computerjob, aber das war ziemlich unkreativ; also beschloß ich, Ärztin zu werden, und bereitete mich auf die Vorprüfungen vor. Nachts mußte ich arbeiten; das Studieren lief nebenher, deswegen waren meine Resultate nicht so gut, wie sie sein sollten. Aber in Mathe war ich Spitze.
Ich bestand schließlich meine Prüfung und bewarb mich bei einer Reihe von Universitäten für Medizin, doch keine wollte mich nehmen. Ich arbeitete ein Jahr als Laborassistentin und wiederholte danach die Aufnahmeprüfung, diesmal mit mehr Erfolg. Ich bewarb mich also wieder und schaffte es auf ein paar Wartelisten. Ich bewarb mich dann auch für Doktorandenstellen in öffentlicher Gesundheit, um etwas zu machen, das wenigstens mit Medizin zu tun hat. Das beste Angebot kam dann aus Los Angeles. Also kam ich hierher.
Vier Jahre lang hangelte ich mich so durch und bewarb mich die ganze Zeit weiter für Medizin. Dann eines Tages las ich die Zeitung und sah einen Artikel über Charles Lyman Jones jr. Das mußte sein Vater sein. Mir wurde klar, wie reich sie waren und wie er mich abgespeist hatte, und versuchte, seinen Vater anzurufen. Ich kam nie zu ihm durch, also schrieb ich Briefe, die er aber nie beantwortete. Dann schlug ich Chips Namen im Stadtverzeichnis nach und fand seine Adresse draußen im Tal. Ich fuhr also hin, um zu sehen, wie er lebte. Das tat ich nachts, damit es nicht auffiel. Irgendwann sah ich dann seine Frau und war total verblüfft, wie sehr sie mir glich, bevor ich soviel zugenommen hatte. Und seine kleine Tochter war echt süß. Ich kann gar nicht sagen, wie leid mir die beiden taten. Ich wollte ihnen keine Angst einjagen - der Frau und dem kleinen Mädchen -, aber ich dachte auch, ich müßte sie warnen, mit wem sie es zu tun hatten. Außerdem war er mir was schuldig.
Ich fuhr immer wieder hin und überlegte, wie ich es anstellen sollte. Dann eines Abends fuhr ein Krankenwagen vor seinem Haus vor. Kurz danach kam er in seinem Volvo nach Hause. Er fuhr hinter dem Krankenwagen her, und ich folgte ihm unauffällig bis zum Western Pediatric Medical Center. Ich ging ihm nach und hörte ihn nach seiner Tochter Cassie fragen.
Am nächsten Morgen fuhr ich zum Western Ped zurück und ging ins Archiv. Ich trug meinen weißen Laborkittel und gab mich als Dr. Herbert aus. Es war ganz einfach; Sicherheit gab es so gut wie keine. Die hat man erst später verstärkt. Die Akte seiner Tochter war nicht da, aber es gab eine Karte, auf der all ihre früheren Einweisungen aufgelistet waren. Da wußte ich, daß er wieder bei seinem Spiel war. Das arme kleine Ding.
Jetzt gab es kein Halten mehr. Es ging nicht mehr nur ums Geld, Ashmore, ob Sie es glauben oder nicht. Als ich das kleine Mädchen sah, wußte ich, daß ich etwas gegen ihn unternehmen mußte. Ich ging zur Personalabteilung und bewarb mich für einen Laborjob. Nach drei Wochen bekam ich Antwort. Sie boten mir eine Halbtagsstelle an, bei Ihnen, Ashmore. Es war ein mieser Job, aber wenigstens konnte ich Cassie unbemerkt beobachten. Schließlich bekam ich Cassies Akte in die Finger und sah, was er mit ihr anstellte. Dort las ich auch, daß sie einen kleinen Jungen gehabt hatten, der gestorben war. Ich beschaffte mir dessen Akte und fand heraus, daß es Krippentod gewesen war. Chip hatte also tatsächlich jemanden umgebracht. Das nächstemal, als ich Cassie auf der Liste der Aufnahmen und Entlassungen sah, hielt ich nach ihm Ausschau, folgte ihm auf den Parkplatz und stellte ihn zur Rede.
Er war völlig überrascht und tat so, als würde er mich nicht kennen. Dann versuchte er mich kleinzumachen, doch ich ließ mich nicht einschüchtern und sagte, ich wüßte, welches Spiel er trieb, und er sollte sofort damit aufhören. Und wenn er mir nicht eine Million Dollar gäbe, ginge ich zur Polizei. Er fing tatsächlich an zu flennen und sagte, es sei nicht seine Absicht, jemanden zu verletzen. Genau wie damals, als wir zusammenlebten. Doch diesmal ging ich ihm nicht auf den Leim. Er sagte, er wäre bereit, mir sofort zehntausend Dollar zu geben, und würde versuchen, mehr zu beschaffen, aber er brauchte Zeit und es könnte nicht annähernd eine Million werden - soviel Geld hätte er nicht. Ich forderte fünfzigtausend als Anzahlung, und wir einigten uns auf fünfundzwanzig. Am nächsten Tag trafen wir uns in einem Park in Hollywood, und er gab mir das Geld in bar. Ich sagte, er müßte bis Ende des Monats mindestens zweihunderttausend mehr herausrücken, damit ich den Mund hielte. Da fing er wieder an zu heulen und sagte, er würde es versuchen. Dann bat er mich, ihm zu verge ben. Ich ließ ihn stehen und kaufte mir mit dem Geld einen neuen Wagen. Chad Jones' Akte legte ich in ein Schließfach am Flughafen - LAX, United Airlines, Nummer 5632 -, und am nächsten Tag kündigte ich im Krankenhaus.
Jetzt warte ich bis Ende des Monats und schaue, was passiert. Ich will reich werden, und ich will Ärztin werden, weil ich das verdient habe. Aber für den Fall, daß er einen Rückzieher macht, lege ich diese Diskette in einen Schreibtisch im Labor und schließe ab. Eine Kopie habe ich in meinem Schrank in der Uni hinterlegt. Wenn Sie dies lesen, ist mir wahrscheinlich etwas passiert, aber was soll's. Ich habe keine andre Wahl.
7. März 1989 Denise Rose Rockwell Kent Herbert S.: Das ist alles.
T.: Erwarten Sie, daß wir beeindruckt sind von diesem chiffrierten Hokuspokus? Sie wissen, daß das als Beweismittel vollkommen unzulässig ist.
S.: Wenn Sie meinen.
T.: Komm, Chip, laß uns hier verschwinden - Chip?
J.: Mm?
S.: Sind Sie sicher, daß Sie gehen wollen? Es kommt noch mehr.
T.: Danke, wir haben genug gehört.
S.: Wie Sie wünschen, Herr Anwalt. Aber verschwenden Sie keine Zeit, indem Sie Kaution beantragen. Der Staatsanwalt ist in diesem Augenblick dabei, Anklage wegen Mord ersten Grades einzureichen.
T.: Mord ersten Grades? Das ist unerhört. Wer soll denn das Opfer sein? S.: Denise Herbert.
T.: Mord ersten Grades? Auf der Basis dieses Gestammels? S.: Auf der Basis der Aussage eines Augenzeugen, der Aussage eines Komplizen, eines aufrechten Bürgers namens Karl Sobran. T.: Wer?
S.: Karl Edward Sobran. Wir haben eine blutverschmierte Windjacke und ein Geständnis, das Ihren Mandanten belastet. Und Sobrans Referenzen sind einwandfrei. Sein Examen in zwischenmenschlicher Gewalt hat er im Knast von Soledad abgelegt; weiterführende Studien absolvierte er in verschiedenen anderen Institutionen. Ihr Mandant heuerte ihn an, Miss Herbert umzubringen und es wie ein Sexualdelikt aussehen zu lassen. Das war kein Problem für ihn, denn Sobran hat sowieso einen Hang zu Gewalt gegen Frauen - er hat schon wegen Vergewaltigung gesessen. Seinen letzten bezahlten Urlaub hat er oben in Ventura verbracht, im dortigen Zuchthaus, wegen Diebstahl. Dort begegnete er unserem guten Professor Chip, der ebenda mit seinen Studenten ein sozialwissenschaftliches Projekt durchführte. Chip schrieb einen Empfehlungsbrief für Sobrans Begnadigung, in dem er ihn als Testperson für sein Projekt bezeichnete und versprach, ihn unter seine Fittiche zu nehmen. Sobran wurde entlassen und schrieb sich am West Valley Community College ein, für Soziologie. Was er mit Denise machte - wie würden Sie das bezeichnen, Professor? Als Praktikum vielleicht?
T.: Dies ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe. S.: Der Staatsanwalt denkt anders darüber. T.: Der Staatsanwalt handelt aus politischen Motiven. Wäre mein Mandant irgendein anderer Jones, dann säße er jetzt nicht hier.
S.: Okay, was meinst du, Steve? Ich glaube, wir gehen lieber. M.: Ja, Zeit, auf Wiedersehen zu sagen. T.: Verschlüsselte Disketten, das angebliche Geständnis eines verurteilten Verbrechers - absurd. S.: Fragen Sie Ihren Mandanten, ob es absurd ist. T.: Ich werde nichts dergleichen tun. Komm, Chip, wir gehen.
J.: Kannst du mich hier rausholen, gegen Kaution, Tony? T.:
Dies ist nicht der Ort, um - J.: Ich will hier raus, Tony. Ich hab keine Zeit, ich muß Prüfungsarbeiten korrigieren. T.: Natürlich, Chip, aber es könnte noch etwas - S.: Er wird nirgendwohin gehen, das wissen Sie, Herr Rechtsanwalt. Würden Sie das Ihrem Mandanten klarmachen?
J.: Ich will hier weg. Ich find es deprimierend hier, ich kann mich nicht konzentrieren.
T.: Natürlich, Chip. Du weißt, ich werde alles unternehmen - J.: Ich will raus, Tony, ich bin ein guter Mensch. Das hier ist vollkommen kafkaesk.
S.: Ein guter Mensch, was? Ein Lügner, Folterer, Mörder …
ja, wenn man diese Kleinigkeiten beiseite läßt, könnte man Sie glatt zum Heiligen erklären. J.: Ich bin ein guter Mensch. S.: Erzählen Sie das Ihrer Tochter. J.: Sie ist nicht meine Tochter. T.: Chip - S.: Cassie ist nicht Ihre Tochter?
J.: Nein. Obwohl ich sie als meine eigene großziehe. Ich habe die ganze Verantwortung, aber keine Freude. S.: Wessen Tochter ist sie dann?
J.: Wer weiß? Ihre Mutter ist wie eine läufige Hündin. Sie treibt es mit allem, was Hosen anhat. Gott weiß, wer der Vater ist. Ich kann es nicht sagen.
S.: Mit »ihrer Mutter« meinen Sie doch Ihre Frau, Cindy Brooks Jones, nicht wahr? J.: Meine Frau ist sie nur auf dem Papier. T.: Chip - J.: Sie ist ein Raubtier, Inspektor. Lassen Sie sich nicht von ihrem unschuldigen Äußeren trügen. Kaum hatte sie mich in ihren Klauen, zeigte sie ihre wahre Natur. S.: Und die wäre? T.: Ich breche dieses Verhör jetzt ab. Für jede weitere Frage tragen Sie die rechtliche Verantwortung, Inspektor. S.: Tut mir leid, Chip, Ihr Rechtsverdreher verbietet Ihnen den Mund.
J.: Ich rede, mit wem ich will und wann ich will, Tony. T.: Um Himmels willen, Chip - J.: Sei still, Tony, du wirst mir lästig. S.: Hören Sie lieber auf ihn, Professor, er ist der Experte. T.: Genau. Die Sitzung ist geschlossen. S.: Wie Sie wünschen.
J.: Hört auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln. - Ich bin es, der hier in der Falle sitzt. Meine Rechte werden mit Füßen getreten. Was muß ich tun, um hier rauszukommen, Inspektor? T.: Chip, in diesem Stadium kannst du leider gar nichts tun. J.: Wofür brauche ich dich dann? Du bist gefeuert. T.: Chip - J.: Halt endlich den Mund und laß mich einen Gedanken aussprechen, ja?
T.: Chip, ich kann nicht guten Gewissens - J.: Du hast gar kein Gewissen, Tony, du bist ein Anwalt. Wie spricht der Dichter? »Tod den Anwälten.« Verstanden? Also, hört zu, ihr seid doch Polizisten, ihr versteht die Leute da draußen, ihr wißt, wie sie lügen. Genauso ist Cindy. Sie lügt im Schlaf, sie lügt aus Gewohnheit. Sie konnte mich lange Zeit zum Narren halten, weil ich sie liebte - »Wenn meine Liebste schwört, sie sei der Born der Wahrheit, so glaub ich ihr, obwohl ich weiß, sie lügt.« Shakespeare - alles steht bei Shakespeare geschrieben. Wo war ich stehengeblieben …? T.: Chip, zu deinem eigenen Wohl - J.: Sie ist erstaunlich. Sie wickelt jeden um den Finger. Sie bringt mir das Abendessen und lächelt und fragt mich, wie mein Tag gewesen ist - und eine Stunde davor hat sie in unserem Ehebett den Swimmingpool-Mann gevögelt. S.: Wenn Sie »Swimmingpool-Mann« sagen, meinen Sie sicherlich Greg Worley von ValleyBrite? J.: Ihn und andere - was spielt das für eine Rolle? Schreiner, Klempner, alles, was Jeans und einen Werkzeuggürtel trägt. Wir hatten nie Schwierigkeiten, Handwerker zu bekommen, o nein. Die sind in meinem Haus ein und aus gegangen wie in einem Puff. Es ist eine Krankheit, sie kann nichts dafür. Eigentlich tut sie mir sogar leid. Sie ist Spielball eines unbeherrschbaren Triebs. Aber mich hat sie damit fertiggemacht. Ich bin das Opfer. T.: (Unverständlich.) S.: Was sagen Sie, Herr Rechtsanwalt? T.: Ich möchte meinen Einspruch gegen diese ganze Vernehmung zu Protokoll geben.
J.: Vergiß mal dein Ego, Tony. Ich bin das Opfer - benutz mich nicht, um dein Ego aufzumöbeln. Das war schon immer mein Problem - die Leute benutzen mich, weil sie wissen, wie naiv ich bin.
S.: Auch Denise Herbert?
J.: Ganz bestimmt. Der Unsinn, den Sie da vorgelesen haben, ist von vorn bis hinten erdichtet. Sie war drogensüchtig, als ich sie kennenlernte. Ich versuchte ihr zu helfen, und das ist nun der Dank. S.: Und was ist mit Kristie Kirkash? J.: (Unverständlich.) S.: Wie bitte, Professor?
J.: Kristie ist eine Studentin von mir, na und? Sagt sie, sie sei mehr als das?
S.: Das tut sie in der Tat. J.: Dann lügt sie - noch so eine. S.: Noch so eine was?
J.: Noch ein Raubtier. Glauben Sie mir, sie ist viel reifer, als sie aussieht. Ich scheine diese Bestien anzuziehen. Kristie erwischte ich einmal beim Pfuschen während einer Klausur. Danach gab ich ihr etwas Nachhilfe in Ethik. Ich rate Ihnen, glauben Sie ihr kein Wort.
S.: Sie sagt, sie hätte ein Postfach für Sie gemietet, oben in den Agoura-Bergen. Hast du die Nummer da, Steve? M.: Ja, es ist die Nummer 1498 bei einer Firma namens Mailboxes Plus.
J.: Das war für Forschungszwecke. S.: Welche Art Forschung?
J.: Es ging um ein Projekt über Pornographie, das mir vorschwebte. Rituelle Bilder in einer überorganisierten Gesellschaft. Natürlich wollte ich kein Material nach Hause oder in mein Büro geschickt bekommen - Sie wissen, wenn man einmal auf der Perversenliste steht, wird man mit allem möglichen Dreck belästigt. Deshalb besorgte mir Kristie das Postfach.
S.: Gibt es einen Grund, warum Sie es nicht selbst gemietet haben?
J.: Ich war beschäftigt, und Kristie wohnt dort draußen. Es hat sich einfach so ergeben.
S.: Und warum gaben Sie den Namen Dr. med. Ralph Benedict als Adresse an? Den Namen eines Arztes, der seit zweieinhalb Jahren tot ist und der zufällig die Tante Ihrer Frau wegen Diabetes behandelte? T.: Beantworte das nicht.
S.: Können Sie mir sagen, warum Sie Dr. Benedicts Namen und Nummer im Ärzteregister benutzten und medizinisches Gerät an das Postfach liefern ließen? T.: Antworte nicht.
S.: Können Sie mir den Grund nennen, warum Sie Insulin und Insuject-Injektionsmaterial wie das, welches wir in Ihrer Hand im Krankenzimmer Ihrer Tochter fanden, an das besagte Postfach schicken ließen, unter Dr. Ralph Benedicts Namen?
T.: Antworte nicht.
J.: Lächerlich. Cindy wußte von dem Postfach. Ich gab ihr den Zweitschlüssel. Sie hat sich das Insulin und die Spritzen wahrscheinlich ans Postfach liefern lassen. S.: Sie sagt, sie hätte es nie benutzt. J.: Sie lügt.
S.: Wenn das so ist, warum benutzten Sie dann Benedicts Namen, als Sie das Postfach übernahmen? T.: Beantworte das nicht, Chip.
J.: Ich will aber antworten. Ich muß meine Unschuld beweisen, Tony. In aller Ehrlichkeit, Inspektor, ich kann es Ihnen nicht sagen. Benedicts Name muß meinem Unterbewußtsein entsprungen sein. Cindy muß ihn erwähnt haben - ja, das hat sie getan, ich bin sicher. Wie Sie sagten, er war der Arzt ihrer Tante, sie redete viel über ihn, und irgendwie blieb mir der Name im Gedächtnis haften. Als ich dann einen Namen für das Postfach brauchte, war er der erste, der mir einfiel. S.: Warum brauchten Sie überhaupt ein Alias? J.: Das hab ich doch schon erklärt. Wegen der Pornographie - die Sachen, die ich bekam, waren zum Teil wirklich ekelhaft.
S.: Ihre Frau sagt, sie weiß nichts von dem Postfach. J.:
Natürlich weiß sie davon. Sie lügt. Wirklich, Inspektor, Sie müssen den Kontext sehen - Sie müssen die Dinge in einem anderen Licht sehen, eine andere Linse benutzen. S.: Und in welchem Licht muß ich das hier sehen, Herr Professor?
T.: Was ziehen Sie jetzt wieder aus dem Hut? S.: Ich glaube, es ist klar, was es ist. Eine Maske. T.: Ich sehe nicht, wo - J.: Die Maske stammt vom Karneval - vom Delta-Psi-Karneval. Die Studenten hatten mich als Hexe verkleidet. Ich habe die Maske als Andenken behalten.
S.: Sie war in Kristie Kirkashs Besitz. Sie haben sie ihr vorige Woche zum Aufbewahren gegeben. J.: Und?
S.: Und ich glaube, Sie haben diese Maske immer dann aufgesetzt, wenn Sie Cassie eine Injektion verpaßten. Damit Sie wie eine Frau aussehen - die böse Hexe. T.: Lächerlich.
J.: Diesmal muß ich dir zustimmen, Tony. S.: Ein Andenken also. Warum haben Sie es Kristie gegeben?
J.: Sie gehört zum Delta-Psi-Club. Ich dachte, der Studentenverein würde sie gern behalten. S.: Sehr aufmerksam von Ihnen. J.: Ich bin ihr Studienberater. Was ist daran so - S.: Sie haben eine Schwäche für Studentinnen, nicht wahr? Haben Sie nicht so auch Ihre Frau getroffen? Sie war doch Ihre Studentin?
J.: Das ist nichts Ungewöhnliches. Die Lehrer-Schüler-Beziehung führt oft… manchmal zu mehr. S.: Sie waren ihr Tutor, stimmt das?
J.: Ja, das stimmt, aber sie war hoffnungslos - einfach zu dumm.
S.: Aber geheiratet haben Sie sie trotzdem. Wie kommt das?
Wo Sie doch so ein kluger Mann sind? J.: Ich war verknallt. Ich war bis über beide Ohren verliebt, und sie hat das ausgenutzt. Das ist meine romantische Ader. S.: Und Karl Sobran? Hat der Sie auch ausgenutzt? J.: Mit Karl war es etwas anderes. Ihm gegenüber war ich einmal nicht naiv. Ich wußte von Anfang an, mit was für einem Menschen ich es zu tun hatte, aber ich hatte das Gefühl, daß ich ihm helfen konnte, seine Triebe zu kanalisieren.
S.: Und was war er Ihrer Meinung nach für ein Mensch? J.:
Ein klassischer Soziopath, ein Asozialer. Doch entgegen der landläufigen Meinung, fehlt es diesen Leuten nicht an Gewissen, sie können es nur nach Belieben unterdrücken.
Karl ist sehr intelligent. Ich hoffte, ich könnte ihm helfen, seine Intelligenz konstruktiver einzusetzen. S.: Zum Beispiel als gedungener Mörder? T.: Antworte nicht.
J.: Hör auf zu seufzen, Tony. Das ist lächerlich. Natürlich nicht. Hat Karl das tatsächlich behauptet? S.: Woher soll ich es sonst wissen, Professor? J.: Absurd. Aber er ist eben ein Soziopath, vergessen Sie das nicht. Ein geborener Lügner. Schlimmstenfalls habe ich mich schuldig gemacht, ihn unterschätzt zu haben, nicht erkannt zu haben, wie gefährlich er ist. So wenig ich Denise als menschliches Wesen schätzte - als ich hörte, daß sie ermordet worden war, erschrak ich doch. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich nie den Brief an den Begnadigungsausschuß geschrieben. Ich hätte auch nie … Mein Gott. S.: Sie hätten nie was? J.: Ich hätte nie leichtfertig mit ihm geredet. S.: Über Denise? T.: Beantworte das nicht.
J.: Tony, du nervst mich allmählich. Ja, ich habe über sie geredet und über andere Dinge. Ich fürchte, ich habe in einer Weise über Denise gesprochen, die Karl aufs schrecklichste mißverstehen konnte. S.: Was haben Sie ihm zum Beispiel erzählt? J.: Nein, ich kann mir einfach nicht vorstellen… Na ja, ich erwähnte, wie sehr sie mich belästigt. Das muß er wohl falsch verstanden haben. Mein Gott, welch furchtbares Mißverständnis!
S.: Sie wollen sagen, er hat Ihre Kommentare mißverstanden und sie aus eigenem Antrieb ermordet? J.: Glauben Sie mir, Inspektor, bei dem Gedanken wird mir übel, aber anders kann es nicht gewesen sein. S.: Was genau erzählten Sie Sobran über Denise? J.: Daß sie jemand aus meiner Vergangenheit war und daß sie mir Schwierigkeiten machte. S.: Das ist alles?
J.: Ja.
S.: Es gab keinen Auftrag, sie zu ermorden oder zu verletzen?
J.: Ganz bestimmt nicht.
S.: Aber es hat eine Zahlung gegeben, Professor. Zweitausend Dollar, die Sobran am Tag nach dem Mord auf sein Konto einzahlte. Einen Teil von dem Geld hatte er in der Tasche, als ich ihn festnahm. Er sagt, er hätte es von Ihnen.
J.: Stimmt. Ich half Karl über längere Zeit aus, damit er ein neues Leben anfangen konnte und nicht wieder straffällig wurde.
S.: Zweitausend Dollar?
J.: Manchmal bin ich ein bißchen zu freigebig. Das ist wohl Berufsrisiko.
S.: Als Soziologieprofessor?
J.: Es hat mehr damit zu tun, wie ich aufgewachsen bin. Reichtum kann wirklich ein Fluch sein, wissen Sie? Deshalb habe ich immer versucht, so zu leben, als existierte das Geld nicht. Mein Lebensstandard ist bescheiden. Ich will nichts zu tun haben mit Geld und Geschäften. S.: Und was ist mit Ihren Immobilienspekulationen? J.: Das war alles für Cindy und die Kinder. Ich wollte ihnen ein wenig finanzielle Sicherheit verschaffen. Nur mit meinem Lehrergehalt wäre das unmöglich. Das war, bevor ich erkannte, was sie anstellte. S.: »Was sie anstellte«: Meinen Sie damit ihr Sexualverhalten?
J.: Genau. Sie treibt es mit jedem, der ins Haus kommt. Die Kinder waren zwar nicht von mir, aber ich kümmerte mich trotzdem um sie. Ich bin eben zu gutmütig. Das sollte ich endlich ändern.
S.: Chad war auch nicht von Ihnen? J.: Ausgeschlossen. S.:
Woher wissen Sie das so sicher? J.: Ein Blick genügte. Er war einem Dachdecker, der in unserem Viertel gearbeitet hatte, wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Ähnlichkeit war frappierend. S.: Und deswegen haben Sie ihn umgebracht? J.: Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Inspektor. Chad erlag dem Krippentod-Syndrom. Es war ein Fall wie aus dem Lehrbuch. Ich habe es nachgelesen, nachdem der kleine Kerl gestorben war. Ich versuchte, zu verstehen, um damit fertig zu werden. Es war eine furchtbare Zeit für mich. Er war nicht mein Fleisch und Blut, aber ich liebte ihn trotzdem. S.: Gut, nun zu Ihrer Mutter. Warum haben Sie sie umge bracht?
T.: Ich protestiere!
J.: Sie verdamm - S.: Sie sehen, ich habe auch ein bißchen nachgeforscht. J.: Sie fettes, dummes - T.: Ich erhebe Einspruch! Ich muß nachdrücklich protestieren gegen diese - S.: Ich versuche nur, Sie zu verstehen, Professor. Ich habe mit Leuten über Ihre Mutter gesprochen. Sie würden sich wundern, wie gern die Leute reden, wenn jemand erst einmal -J.: Sie sind dumm. Sie sind ein Psychopath… Sie sind so abgrundtief dumm und schwachsinnig, daß ich mich frage, wieso ich eigentlich mit Ihnen rede, mit so einem - T.: Chip - S.: Ihre alte Mutter war hypochondrisch, da sind sich alle einig, die ich befragt habe. Sie war gesund wie ein Pferd und gleichzeitig überzeugt, unheilbar krank zu sein. Eine Person, mit der ich sprach, sagte, ihr Schlafzimmer hätte wie ein Zimmer im Krankenhaus ausgesehen - sie hatte sogar ein richtiges Krankenhausbett. Erinnern Sie sich noch an den kleinen Tisch, auf dem all die Pillen und Fläschchen herumlagen? Und auch Nadeln, viele Nadeln. Sie spritzte sich selbst. Oder mußten Sie das für sie machen? J.: Sie war es! Sie hat sich selbst und mich gestochen! Sie hat mir weh getan! Sie gab mir Vitamin-B-12-Schüsse, zweimal am Tag, Proteine und Antihistamine, obwohl ich überhaupt nicht allergisch war! Mein Hintern war ihr verdammtes Nadelkissen! Antibiotika beim ersten Husten. Tetanusspritzen beim kleinsten Kratzer. Lebertran und Rizinusöl beim kleinsten Furz, und wenn ich es auskotzte, mußte ich es aufwischen und bekam die doppelte Dosis. Sie konnte sich immer Medikamente beschaffen, weil sie Krankenschwester gewesen war - so hat sie ihn getroffen, im Armeehospital. Er war in Anzio verwundet worden, der große Held. Für ihn war sie da, doch zu mir war sie wie eine sadistische Hexe… Sie können sich nicht vorstellen, wie es war! S.: Anscheinend hat Sie niemand vor ihr geschützt. J.: Niemand! Es war die Hölle. Jeden Tag gab es eine neue Überraschung. Deshalb hasse ich Überraschungen, ich verabscheue sie.
S.: Sie haben lieber alles geplant, nicht wahr? J.: Organisation. Ich mag Organisation. S.: Ihr Vater hat Sie im Stich gelassen? J.: (lacht) Das hat er immer getan. S.: Also gehen Sie Ihren eigenen Weg. J.: Not macht erfinderisch.
S.: Lassen Sie uns für einen Augenblick zu Ihrer Mutter zurückkehren - wie sie starb: Valium-Überdosis, Plastiktüte über dem Kopf. Wahrscheinlich werden wir nie nachweisen können, daß es kein Selbstmord war. J.: Das können Sie nicht, weil es einer war. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. S.: Aha …ja … Sie wollen mir also erzählen, daß Sie das Opfer sind, und alles ein großes Mißverständnis ist. J.: (Unverständlich.) S.: Bitte?
J.: Der Kontext, Inspektor, der Kontext.
S.: Die andere Linse. J.: Genau.
S.: Sie haben über den Krippentod nachgelesen, weil Sie Chads Tod verstehen wollten, nicht wahr?
J.: Richtig.
S.: Und Sie haben über Stellvertreter-Münchhausen nachgeforscht, weil Sie versuchten, Cassies Erkrankungen zu verstehen?
J.: Ja, das hab ich. Alle Experten schienen ratlos zu sein angesichts von Cassies Symptomen.
S.: Denise Herbert sagte, Sie hätten einmal Medizin studiert.
J.: Sehr kurz nur. Ich verlor das Interesse. S.: Warum?
J.: Es war mir zu konkret, es gab keinen Raum für Phantasie. Ärzte sind nichts anderes als eine Art Klempner. S.: Sie trugen also alles zusammen, was es zum Thema Münchhausen gibt.
J.: (lacht) Was soll ich sagen? Es war eine Erleuchtung, glauben Sie mir. Nicht, daß ich mir vorstellen konnte, daß Cindy ihr so etwas antat - am Anfang jedenfalls nicht. Vielleicht war ich zu schwerfällig, aber meine eigene Kindheit .
.. die Erinnerung tat einfach zu weh. Wahrscheinlich wollte ich es verdrängen. Aber dann, als ich darüber las… S.: Was? Warum schütteln Sie den Kopf? J.: Es ist so schwer, darüber zu sprechen… so grausam … Sie glauben, Sie kennen jemanden, und dann … Aber es paßte alles zusammen, alles wurde plötzlich klar. Cindys Vergangenheit, ihr Gesundheitsfimmel. Die Methoden, die sie benutzt haben muß … abscheulich. S.: Welche Methoden?
J.: Mit dem Kissen ersticken, um Atemstillstand zu simulieren, zum Beispiel. Es war immer Cindy, die aufstand, wenn Cassie weinte. Sie rief mich nur, wenn es ganz schlimm war. Und dann diese furchtbaren Magenprobleme und Fieber. Einmal entdeckte ich etwas Braunes in Cassies Babyflasche. Cindy sagte, es sei organischer Apfelsaft, und ich glaubte ihr. Heute weiß ich, daß es sich um Fäkalien gehandelt haben muß. Sie vergiftete Cassie mit ihren eigenen Ausscheidungen, damit sie eine Infektion bekam - eine Selbstinfektion. In den Bluttests würden keine Fremdkörper gefunden werden. Ekelhaft, nicht wahr?
S.: Das ist es, Professor. Was halten Sie von den epileptischen Anfällen?
J.: Offenbar niedriger Blutzuckerspiegel. Eine Überdosis Insulin. Cindy war mit Insulin vertraut, wegen ihrer Tante. Ich hätte sofort darauf kommen müssen - sie sprach ununterbrochen über die Zuckerkrankheit ihrer Tante und wollte Cassie keine Süßigkeiten geben, doch ich wollte es wohl einfach nicht sehen. Aber die Beweise - ich meine, irgendwann kann man sie einfach nicht mehr verleugnen. Sicher, Cindy hatte - hat - ihre Fehler, und ich war wütend auf sie wegen ihrer Eskapaden, aber daß sie das eigene Kind … S.: Es ist nicht Ihr gemeinsames Kind. J.: Und wenn schon, kein Kind möchte man so leiden sehen. S.: Sie gingen also in die Universitätsbibliothek und benutzten dort die Ausleihe-Datenbank, das SAP-System. J.: (Unverständlich.) S.: Wie bitte?
J.: Keine Fragen mehr, okay? Ich werde ein bißchen müde. S.: Habe ich irgend etwas Falsches gesagt? J.: Tony, sorg dafür, daß er aufhört. T.: Die Vernehmung ist beendet.
S.: Sicher, aber das verstehe ich nun nicht. Wir unterhalten uns gemütlich, und dann, sobald ich die SAP-Datenbank erwähne, dieses großartige Computersystem, das man dort hat, wo man Artikel direkt auf den Bildschirm holen und ausdrucken kann, macht es plötzlich Klick bei unserem Professor. Fällt ihm vielleicht ein, daß die Bibliothek monatliche Rechnungen ausstellt, alle Artikel einzeln aufgeführt, mit Datum und Uhrzeit der Entnahme? T.: Mein Mandant und ich wissen nicht, wovon Sie reden. S.: Steve?
M.: Hier, bitte schön. T.: Noch etwas aus der Trickkiste? S.:
Schauen Sie sich das an, Herr Rechtsanwalt. Die Artikel mit dem roten Stern daneben sind über Krippentod. Überprüfen Sie die Daten, wann Ihr Mandant und Miss Kirkash sie aus dem Computer holten. Sechs Monate vor Chads Tod. Die mit dem blauen Stern sind übers Münchhausen-Syndrom. Schauen Sie sich die Daten an. Sie werden feststellen, daß er sie ausdruckte, als Cassie zwei Monate alt war - lange bevor ihre Symptome auftraten. Für mich riecht das nach Vorsatz, was meinen Sie, Herr Anwalt? Das Theater, das Herr Professor uns eben vorgespielt hat, fand ich trotzdem ganz lustig - vielleicht können seine Kumpel im Knast darüber lachen. Falls Sie es irgendwann schaffen, ihn aus der Hochsicherheit herauszubekommen, so daß er sich unters Gefängnisvolk mischen und den Soziopathen ein wenig Soziologie beibringen kann, nicht wahr, Herr Anwalt? - Wie bitte?
J.: (Unverständlich.)
T.: Chip - S.: Seh ich da Tränen, Chip? Armes Baby. Bitte lauter. Ich kann Sie nicht hören. J.: Laßt uns verhandeln. S.: Verhandeln? Worüber?
J.: Über die Anklage. Wie war's mit Körperverletzung - Körperverletzung mit einer tödlichen Waffe. Für mehr haben Sie sowieso keine Beweise.
S.: Ihr Mandant möchte verhandeln, Herr Rechtsanwalt. Ich schlage vor, Sie beraten ihn. T.: Sag nichts, Chip, laß mich das machen. J.: Ich will verhandeln, verdammt noch mal! Ich will hier raus!
S.: Was können Sie denn anbieten, Chip? J.: Informationen - harte Fakten über die Aktivitäten meines Vaters. Echter Mord. Es gab im Krankenhaus einen Arzt, Dr. Ashmore. Er muß meinen Vater mit irgend etwas belästigt haben. Ich hörte, wie mein Vater sich mit einem seiner Lakaien unterhielt - ein Wurm namens Novak. Ich hörte sie reden, als ich meinen Vater besuchte. Sie waren in der Bibliothek und hatten keine Ahnung, daß ich vor der Tür stand. Sie beachteten mich sowieso nie. Sie sagten, um diesen Kerl, diesen Arzt, müßte man sich kümmern. Daß es bei all den Sicherheitsproblemen im Krankenhaus ziemlich einfach wäre. Ich dachte mir nicht viel dabei, aber einen Monat später wurde Ashmore im Parkhaus ermordet. Verdächtig, nicht wahr? Ich bin sicher, mein Vater hat ihn umbringen lassen. Schauen Sie sich den Fall genau an - und glauben Sie mir, dagegen ist der Quatsch hier vollkommen unbedeutend. S.: Der Quatsch hier?
J.: Glauben Sie mir, untersuchen Sie die Sache. S.: Es macht Ihnen nichts aus, Ihren alten Herrn zur Hölle fahren zu sehen, nicht?
J.: Er hat für mich auch nie etwas getan. Er hat mich nie beschützt, nicht ein einziges Mal!
S.: Hören Sie das, Rechtsanwalt? Da haben Sie Ihre Verteidigung: eine schwere Kindheit. Wiedersehen, Chip. Komm, Steve.
M.: Wir sehen uns dann vor Gericht. J.:
Warten Sie-
T.: Chip, du brauchst nicht –
ENDE DER AUFZEICHNUNG.