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»Tut mir leid«, sagte sie, als sie sich wieder gefangen hatte.

»Das braucht es aber nicht. Kaum etwas belastet mehr als ein krankes Kind.«

Sie nickte. »Das schlimmste ist, daß man nichts weiß - daß man nur zuschauen kann und nicht weiß, was ihr fehlt. Wenn das nur jemand herausfinden könnte.«

»Die früheren Symptome sind immer wieder verschwunden. Vielleicht geht es jetzt wieder so.«

Sie legte sich ihren Zopf über die Schulter und spielte damit.

»Hoffentlich, aber …«

Ich lächelte und schwieg.

»Die anderen Dinge waren… greifbarer. - Normaler, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ja, normale Kinderkrankheiten.«

»Genau - Keuchhusten und Durchfall. Andere Kinder bekommen das auch. Vielleicht nicht so schlimm, aber es kommt vor, und man weiß, woran man ist. Aber diese Anfälle, das ist nicht normal.«

»Manchmal haben Kinder solche Anfälle, wenn sie ein hohes Fieber hinter sich haben. Es passiert ein oder zweimal und dann nie wieder.«

»Ja, ich weiß. Dr. Eves hat mir das schon erklärt. Aber Cassie hatte keine Temperatur. Als sie ihre Magen-Darm-Probleme hatte, ja, da hatte sie Fieber. Sie brannte regelrecht. Einundvierzig Grad!« Sie zog an ihrem Zopf. »Doch das ging schließlich vorbei, und ich dachte, es würde alles gut werden. Und jetzt aus heiterem Himmel diese Anfälle. Es war wirklich beängstigend. Ich hörte etwas in ihrem Zimmer - wie ein Klopfen. Ich ging hinein, und sie schüttelte sich so stark, daß ihr Bett wackelte.«

Ihre Lippen begannen zu zittern. Mit einer Hand hielt sie sich den Mund, mit der anderen umklammerte sie das Taschentuch.

»Es muß furchtbar gewesen sein«, sagte ich.

»Schrecklich!« Sie schaute mir in die Augen. »Doch das schlimmste war, dabeistehen zu müssen, ohne das geringste tun zu können. Die Hilflosigkeit - das ist das schlimmste daran. Ich wußte zwar, daß ich sie auf keinen Fall aufheben durfte, aber trotzdem… Haben Sie Kinder?«

»Nein.«

Ihr Blick schweifte ab, als hätte sie plötzlich das Interesse verloren. Ich versuchte das Gespräch wieder in Gang zu bringen: »Sie hat wahrscheinlich gar nicht gelitten. Es gibt keinen Beweis, daß solche Anfälle Schmerzen verursachen.«

»Das hat Dr. Eves auch gesagt«, erwiderte sie zweifelnd.

»Ich hoffe, es stimmt, doch wenn Sie sie nur gesehen hätten danach - sie war schweißgebadet.«

Sie schaute schweigend aus dem Fenster. Ich ließ ihr einen Moment Zeit, dann fragte ich: »Wie geht es ihr heute, abgesehen von den Kopfschmerzen?«

»Gut, soweit ich das sagen kann. Sie ist ja kaum wach gewesen.«

»Und die Kopfschmerzen, das war heute morgen gegen fünf?«

»Ja, sie wachte auf davon.«

»Vicki hatte da schon Dienst?«

Sie nickte. »Ja. Sie hatte die Nachtschicht von elf bis sieben und hat dann die Frühschicht drangehängt.«

»Sehr aufopfernd von ihr.«

»Ja, sie ist eine große Hilfe. Wir können von Glück sagen, daß wir sie haben.«

»Kommt sie auch schon mal zu Ihnen nach Hause?«

Die Frage überraschte sie. »Nur ganz selten und nur, um guten Tag zu sagen, nicht beruflich. Bei einem ihrer Besuche hat sie Cassie das erste Häschen geschenkt, und jetzt ist Cassie ganz vernarrt in diese Dinger.«

Sie sah immer noch verblüfft aus, doch anstatt sie darauf anzusprechen, fragte ich weiter: »Auf welche Weise hat Cassie Ihnen mitgeteilt, daß ihr der Kopf weh tat?«

»Sie zeigte mit dem Finger darauf und weinte. Sie hat es mir nicht erzählt, wenn es das ist, worauf Sie anspielen. Sie spricht erst ein paar Wörter, zum Beispiel ›Hund‹ oder › Flasche‹, und selbst dann zeigt sie noch manchmal mit dem Finger auf die Dinge, die sie meint. Dr. Eves sagt, sie ist ein paar Monate zurück in ihrer Sprachentwicklung.«

»Das ist nicht ungewöhnlich bei Kindern, die viel Zeit im Krankenhaus verbracht haben. Es behebt sich von selbst.«

»Ich versuche, zu Hause mit ihr zu üben. Ich rede mit ihr, soviel ich kann, und lese ihr vor, wann immer es geht, das heißt, wenn sie nicht zu unruhig ist. Nach schweren Nächten ist es unmöglich.«

»Kommen solche Nächte häufiger vor?«

»Nicht sehr oft, doch sie machen ihr jedesmal sehr zu schaffen.«

»Was passiert genau?«

»Sie wacht auf, als hätte sie schlecht geträumt. Sie wälzt sich und strampelt, und ich nehme sie aus dem Bett und halte sie. Manchmal schläft sie dann sofort wieder ein, aber nicht immer. Und wenn sie lange wach bleibt, dann ist sie gewöhnlich am nächsten Morgen sehr unruhig.«

»Wie äußert sich diese Unruhe?«

»Sie hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Nach ruhigen Nächten kann sie sich oft für eine Stunde oder länger mit einer Sache beschäftigen. Solche Momente versuche ich abzupassen, und dann lese ich ihr vor oder rede mit ihr, damit sich ihr Sprechen verbessert. Würden Sie mir etwas anderes empfehlen?«

»Nein, Sie scheinen genau das Richtige zu tun«, antwortete ich.

»Manchmal habe ich das Gefühl, daß sie nicht mit mir redet, weil es nicht nötig ist. Ich glaube, ich weiß, was sie will, ohne daß sie etwas sagen muß.«

»Und so war es auch mit den Kopfschmerzen?«

»Ja. Sie wachte weinend und strampelnd auf. Als erstes fühlte ich ihre Stirn, doch die war kühl. Und ihr Schreien klang nicht nach Angst, sie weinte vor Schmerzen. Den Unterschied kann ich inzwischen hören. Ich fragte sie also, wo es ihr weh tat, und nach einer Weile faßte sie sich an den Kopf. Damit war für mich klar, was ihr fehlte. Ich fühlte es einfach.« Sie schaute zum Kinderbett. »Wenn nicht erst gestern eine Tomographie gemacht worden wäre - ohne Befund -, dann hätte ich wirklich Angst bekommen.«

»Angst wegen der Kopfschmerzen?«

»Natürlich. Nach soviel Zeit im Krankenhaus beginnt man, sich Dinge einzubilden. Man denkt immer sofort an das Schlimmste. Es macht mir jedesmal angst, wenn sie nachts aufwacht und schreit. Wer weiß, was als nächstes passiert.«

Sie brach wieder in Tränen aus, und ich reichte ihr ein neues Taschentuch.

»Entschuldigen Sie, Dr. Delaware. Aber ich ertrage es einfach nicht, sie leiden zu sehen.«

»Das ist doch selbstverständlich«, sagte ich. »Unglücklicherweise sind es gerade die Dinge, die ihr helfen sollen, die Tests und die Untersuchungen, die ihr die meisten Schmerzen bereiten.«

Sie seufzte tief und nickte.

»Deshalb hat Dr. Eves mich gebeten, mich um Sie zu kümmern. Es gibt nämlich psychologische Techniken, die Kindern helfen, mit Behandlungsängsten fertig zu werden, und die den Schmerz sogar verringern können.«

»Techniken!« Sie klang ein wenig wie Vicki Bottomley, jedoch nicht so sarkastisch. »Das wäre großartig. Was immer Sie tun können, ich bin für alles dankbar. Es ist einfach furchtbar, mit anzusehen, wie Cassie Blut abgenommen wird.«

Ich mußte an Stephanies Worte denken, wie gefaßt die Mutter bei allen Prozeduren geblieben war. Cindy schien meine Gedanken zu lesen und sagte: »Jedesmal, wenn jemand mit einer Nadel hereinkommt, wird mir ganz kalt. Es ist nur um Cassies willen, daß ich mir nichts anmerken lasse, obwohl ich sicher bin, daß sie weiß, was ich fühle. Wir sind uns so nahe. Sie ist alles, was ich habe. Sie braucht mich nur anzuschauen, dann weiß sie, was in mir vorgeht. Es hilft ihr nicht, doch was soll ich machen? Ich kann sie doch nicht allein lassen.«

»Dr. Eves sagt, Sie verhalten sich vorbildlich.«

Etwas änderte sich in den braunen Augen. Vielleicht ein Anflug von Härte? Es war nur für eine Sekunde, dann stellte sich wieder das müde, sanfte Lächeln ein.

»Dr. Eves ist wunderbar. Wir… sie war die… sie ist wirklich wunderbar zu Cassie, obwohl Cassie nichts mehr von ihr wissen will. Mir ist klar, daß diese Kette von Erkrankungen auch für sie furchtbar sein muß. Jedesmal, wenn sie zur Aufnahme gerufen wird, fühle ich mich elend, weil ich sie wieder mit unserem Unglück belasten muß.«

»Es ist ihr Job«, gab ich zu bedenken.

Sie schaute mich an, als hätte ich etwas Schlimmes gesagt.

»Ich bin sicher, für sie ist es mehr als nur ein Job.«

»Ja, bestimmt.« Ich bemerkte, daß ich immer noch den Stoffhasen in der Hand hielt. Ich streichelte ihm noch einmal den Bauch und stellte ihn auf die Fensterbank zurück. Cindy schaute mir dabei zu und spielte mit ihrem Zopf.

»Tut mir leid, daß ich so aufbrausend war, aber was Sie eben gesagt haben - daß Dr. Eves nur tut, was ihr Job von ihr verlangt -, hat mich daran erinnert, wie sehr ich in meinem Job, als Mutter, versage. Aber wer sollte einem das auch beibringen?«

»Was Sie im Moment durchmachen, hat wenig mit normalen Mutterpflichten zu tun«, versuchte ich sie zu trösten, worauf sie mit einem flüchtigen, traurigen Lächeln reagierte. Das Lächeln einer Madonna.

Und diese Madonna sollte ein Ungeheuer sein? Stephanie hatte mich gebeten, ohne Vorurteile an den Fall heranzugehen, doch mir war klar, daß ihr Verdacht mein Ausgangspunkt war, ob ich wollte oder nicht.

Bis jetzt konnte ich nichts offensichtlich Krankhaftes feststellen. Keine Anzeichen emotionaler Labilität, keine offene Affektiertheit, kein pathologisches Heischen nach Aufmerksamkeit. Und doch fragte ich mich, ob es ihr auf ihre stille, unauffällige Art nicht gelungen war, sich in den Mittelpunkt zu rücken. Zu Beginn hatte sie über Cassie geredet, doch am Ende ging es um ihr Versagen als Mutter.

Schon wie sie sich präsentierte - der Zopf, den sie wie einen Rosenkranz befingerte, das ungeschminkte Gesicht, die für ihre gesellschaftliche Stellung auffällig einfache Kleidung. Man konnte es als eine Dramaturgie der Gegensätze betrachten: Unter ihresgleichen würde sie ohne Zweifel auffallen.

Es gab noch mehr Dinge, die sich in meinem analytischen Netz verfingen, wenn ich das typische Profil eines Stellvertreter-Münchhausen heranzog. Zum Beispiel ihr flüssiger Gebrauch des Krankenhausjargons. Doch vielleicht hatte sie nur zuviel Zeit auf dieser Station verbracht. In meiner Zeit im Krankenhaus hatte ich Klempner, Hausfrauen, Lastwagenfahrer und Buchhalter getroffen, die sich wie Assistenzärzte im ersten Jahr anhörten: alles Leute, die bei ihren chronisch kranken Kindern im Krankenhaus schliefen, aßen und lebten. Keiner von ihnen hatte seine Kinder vergiftet.

Cindy spielte mit ihrem Zopf und schaute mich an. Ich versuchte ein ermutigendes Lächeln, während ich mich fragte, wieso sie sich so sicher war, sie hätte eine Verbindung zu Cassie, die an Telepathie grenzte.

Handelte es sich vielleicht um eine Auflösung der Identitätsgrenzen, um jene Art von krankhafter Überidentifikation, die zu Kindesmißhandlung führen kann? Andererseits: Welche Mutter behauptet nicht, und oft zu Recht, sie habe eine radarartige Verbindung zu ihrem Baby? Warum sollte man also in diesem speziellen Fall gegen die Mutter einen solch furchtbaren Verdacht hegen?

Weil die Kinder dieser Mutter kein gesundes, glückliches Leben führten.

Cindy schaute mich immer noch an. Ich wußte, daß ich nicht weiter den Unbefangenen mimen konnte, während ich solche Gedanken durchspielte. Ich blickte zu dem kleinen Mädchen hinüber, wie es in seinem Bettchen lag, makellos wie eine Porzellanpuppe. Oder benutzte die Mutter sie als Voodoo-Puppe?

»Sie tun Ihr Bestes«, sagte ich und hoffte, überzeugter zu klingen, als ich war. »Mehr kann niemand von Ihnen verlangen.« Bevor Cindy etwas sagen konnte, öffnete Cassie die Augen, gähnte, rieb sich das Gesicht und setzte sich benommen auf. Beide Hände waren nun auf der Bettdecke. Jene, die vorher nicht zu sehen war, war geschwollen, gelb und voller Einstichnarben.

Cindy ging rasch zu ihr hinüber und hob sie aus dem Bett.

»Guten Morgen, mein Baby.« In ihrer Stimme schwang nun ein ganz anderer Ton. Sie küßte Cassie auf die Wange. Cassie schaute zu ihr auf und legte den Kopf an ihre Brust, dann gähnte sie noch einmal und schaute sich um, bis ihr Blick auf die Häschen auf ihrem Nachttisch fiel. Sie zeigte mit dem Finger darauf und jammerte verlangend.

Cindy nahm eins von den Stofftieren, ein rosafarbenes.

»Hier, mein Kind. Das Häschen sagt: ›Guten Morgen, Fräulein Cassie Jones. Hast du schön geträumt?‹«

Sie sprach wie ein Showmaster im Kinderprogramm.

Cassie drückte den Hasen an ihre Brust und schloß die Augen. Einen Moment lang dachte ich, sie wäre wieder eingeschlafen, doch da öffneten sich die Augen wieder, groß und braun, wie die ihrer Mutter.

Dann trafen sich unsere Blicke. Ich lächelte.

Sie schrie.