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In meinem Bauch kribbelte es vor Aufregung. Nach fünf Jahren betrat ich zum erstenmal wieder das Western Pediatric Medical Center. Die lange Abwesenheit hatte mich zu einem Fremden gemacht.

Die Eingangshalle war überfüllt mit meist dunkelhäutigen, billig gekleideten Menschen. Sie standen Schlange vor verglasten Anmeldungsschaltern und warteten auf die Zuwendung steingesichtiger Verwaltungsmenschen, deren Spezialität es war, jeden Blickkontakt zu vermeiden. Die Schlangen schienen sich nicht zu rühren.

Ich drängelte mich zu den Aufzügen durch und wollte gerade einsteigen, als aus dem Nichts ein untersetzter Mann in der marineblauen Uniform einer privaten Sicherheitsfirma erschien und sich mir in den Weg stellte.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich bin Dr. Delaware. Ich habe einen Termin bei Dr. Eves.«

»Können Sie sich ausweisen?«

Überrascht fischte ich eine fünf Jahre alte Ausweisplakette aus der Tasche. Er nahm sie in die Hand und studierte sie, als wäre sie ein Indiz für irgendwas. Er schaute abwechselnd mich und das zehn Jahre alte Schwarzweißfoto an. In der anderen Hand hatte er ein Funkgerät, an seinem Gürtel hing ein Pistolenhalfter.

»Der Ausweis ist abgelaufen«, stellte er fest. »Sind Sie noch hier beschäftigt?«

»Ja.«

»Sie brauchen einen neuen Ausweis. Gehen Sie rüber zur Sicherheitsabteilung, dort wird man ein Foto von Ihnen machen und Sie weiter verarzten.« Er tippte den Anhänger an seinem Revers an: Farbfoto und zehnstelliger Nummerncode.

»Wie lange wird das dauern?« fragte ich.

»Kommt drauf an, wie viele vor Ihnen dran sind. Und ob Ihre Akte auf dem neuesten Stand ist.«

»Hören Sie zu«, sagte ich ungeduldig, »meine Verabredung mit Dr. Eves ist in ein paar Minuten. Ich bin wirklich in Eile. Wie war's, wenn ich mir für heute einen Besucherausweis holte?«

»Besucherausweise sind für Besucher, Sir.«

»Ich besuche Dr. Eves.«

»Besucherausweise gibt es drüben bei der Anmeldung.« Er wies mit dem Daumen auf eine der endlosen Schlangen.

»Keine Ausnahme möglich?« versuchte ich es noch einmal lächelnd.

»Nein, Sir. Ich kann nichts für die Bestimmungen, ich sorge nur dafür, daß sie eingehalten werden.«

Er machte mir zögernd den Weg frei und blinzelte mir nach, bis ich um die nächste Ecke verschwand. Ich schaute mich um und rechnete damit, daß er mir folgen würde, doch der Korridor blieb still und menschenleer.

Die Tür mit der Aufschrift SICHERHEITSDIENST war zwanzig Schritte den Gang hinunter. Am Türknopf hing ein Schild, ZURÜCK UM, darunter eine Papieruhr mit beweglichen Zeigern, die auf 9:30 standen. Es war zehn nach neun. Ich klopfte trotzdem. Keine Antwort. Ich schaute mich nochmals um. Kein Privatsheriff in Sicht. Ich erinnerte mich, daß direkt hinter der Nuklearmedizin ein Personalaufzug war, und ging weiter den Korridor hinunter.

Aus der Nuklearmedizin war inzwischen etwas namens GEMEINSCHAFTSEINRICHTUNGEN geworden. Noch eine verschlossene Tür. Den Aufzug gab es noch, doch die Knöpfe waren verschwunden. Er war auf Schlüsselbetrieb umgestellt worden. Ich hielt nach dem nächsten Treppenhaus Ausschau, als zwei Pfleger mit einer leeren Rollbahre auftauchten. Einer von ihnen zog einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das Aufzugschloß. Die Tür öffnete sich, und sie schoben die Bahre hinein. Ich hinterher.

Die allgemeine Kinderabteilung belegte die Ostseite des vierten Stocks und war durch eine Schwingtür von der Entbindungsstation getrennt. Die Ambulanz hatte erst vor fünfzehn Minuten geöffnet, doch das kleine Wartezimmer war bereits brechend voll. Ich betrat den Korridor, an dem die Ärzte ihre Büros hatten. Stephanie Eves' Tür, die dritte in einer Reihe von sieben, stand offen. Das amtliche Beige der Wände in ihrem Zimmer war zum Teil unter Regalen voller Bücher und Zeitschriften und ein paar Miró-Postern versteckt.

Stephanie saß an ihrem Schreibtisch. Sie trug einen langen weißen Kittel über einem weinrot-grauen Kleid. Sie war dabei, ein Aufnahmeformular für einen ihrer ambulanten Patienten auszufüllen. Als ich das Zimmer betrat, schaute sie lächelnd auf und legte ihren Stift beiseite.

»Alex!« Sie stand auf und kam auf mich zu.

Seit ich sie das letztemal gesehen hatte, war sie zu einer gutaussehenden Frau geworden. Das mattbraune Haar, früher schulterlang, schlaff und barettbedeckt, war nun kurz, locker toupiert und an den Spitzen getönt. Statt der alten Großmutterbrille trug sie Kontaktlinsen, wodurch sich Bernsteinaugen offenbarten, die mir früher nie aufgefallen waren. Ihre Figur wirkte konturenreicher, akzentuierter. Sie war nie ein Schwergewicht gewesen, doch nun war sie wirklich dünn. Die Zeit war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie hatte die abschüssige Seite der Dreißiger erreicht. Ein Netz von Fältchen spielte um die Augenwinkel, und der Mund hatte eine gewisse Härte angenommen, doch ihr Make-up wurde gut damit fertig.

»Schön, dich wiederzusehen«, sagte sie und ergriff meine Hand.

»Schön, dich zu sehen, Steph.« Wir umarmten uns kurz.

»Kann ich dir etwas anbieten?« Sie zeigte auf eine Kaffeemaschine, die auf einem Beistelltisch zwischen zwei Sesseln thronte. An ihrem Handgelenk klimperten vergoldete Kupferreife. Am anderen Arm eine goldene Uhr, keine Ringe.

»Magst du normalen, einfachen Kaffee oder echten Cappuccino? Der kleine Kasten da bläst tatsächlich Dampf durch die Milch.«

Ich lehnte dankend ab und schaute mir die Maschine an: kompakt, schwer, mattschwarz und Edelstahl. Deutsches Markenzeichen. Die Kanne war winzig, zwei Tassen nur.

»Süß, nicht wahr? Ein Geschenk von einem Freund. War höchste Zeit, etwas Stil in diese Bude zu bringen.«

Sie lächelte. Stil war etwas, worum sie sich früher nie gekümmert hatte. Ich lächelte ebenfalls und ließ mich auf einem der Sessel nieder. Auf einem weiteren Tisch, in Griffweite, lag ein ledergebundenes Buch. Ich nahm es zur Hand: eine Gedichtsammlung von Byron. Das Lesezeichen stammte von einem Buchgeschäft namens »Browsers« - ein verstaubtes, vollgestopftes Lädchen in Los Feliz, direkt oberhalb von Hollywood, das hauptsächlich Lyrik verkaufte. Eine Menge Schund und vereinzelte Schätze. Während meiner Praktikumszeit hatte ich manchmal dort meine Mittagspause verbracht.

»Ein wunderbarer Dichter«, sagte Stephanie. »Er gehört zu meinen Bestrebungen, meinen Horizont ein wenig zu erweitern.«

Ich legte das Buch zurück. Sie setzte sich auf ihren Arbeitsstuhl und drehte sich zu mir. Ich bewunderte ihre Beine, die, passend zu ihrem Kleid, in hellgrauen Strümpfen und Wildlederpumps steckten.

»Du siehst großartig aus«, sagte ich.

Sie lächelte wieder, beiläufig, aber herzlich, als käme das Kompliment nicht unerwartet, doch immer noch willkommen.

»Du auch, Alex. Danke, daß du so kurzfristig kommen konntest.«

»Du hast mich neugierig gemacht.«

»Tatsächlich?«

»Na klar, bei all diesen Andeutungen über Intrigen …«

Sie drehte sich halb um, zog eine Akte aus einem Stapel auf ihrem Schreibtisch und legte sie ungeöffnet auf ihren Schoß.

»Ja«, sagte sie, »kein einfacher Fall, soviel steht fest.« Abrupt stand sie auf und schloß die Tür.

»So«, sagte sie, nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, »was ist es denn für ein Gefühl, wieder einmal hier zu sein?«

»Als ich hereinkam, wäre ich fast verhaftet worden.« Ich erzählte ihr von meiner Begegnung mit dem Sicherheitsbeamten.

»Faschisten«, sagte sie heiter, und mein Gedächtnis kam in Bewegung: Beschwerdekomitees, in denen sie den Vorsitz geführt hatte, statt weißem Kittel Jeans, Sandalen und gebleichte Baumwollblusen. »Stephanie, bitte, nicht Doktor. Titel sind Ausgrenzungswerkzeuge der Machtelite«, war einer ihrer Sprüche gewesen.

»Ja«, meinte ich, »es wirkte schon ein bißchen paramilitärisch.«

Ihr Blick ruhte wieder auf der Krankenakte auf ihrem Schoß. »Intrigen, sagtest du. Ich würde eher sagen, wir haben es hier mit einem Krimi zu tun - wer war's, wie hat er's gemacht, hat überhaupt jemand etwas gemacht. Nur daß dies kein Agatha-Christie-Schmöker ist, sondern Wirklichkeit. Ich bin nicht sicher, ob du helfen kannst, doch ich wußte nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte.«

Vom Korridor sickerten Stimmen durch die dünne Wand, Schimpfen und Zanken und Rennen und der Angstschrei eines Kindes.

»Das ist ein Zoo hier«, sagte sie. »Laß uns verschwinden.«