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In der Zeitung am nächsten Morgen war von Mord die Rede, nicht mehr von einem Überfall. Das Opfer, tatsächlich ein Arzt, war totgeschlagen und ausgeraubt worden. Mit dem Namen konnte ich nichts anfangen: Laurence Ashmore, fünfundvierzig Jahre alt, seit einem Jahr beim Western Pediatric. Der Räuber hatte ihn von hinten angefallen und seine Brieftasche, Schlüssel und eine Magnetkarte genommen, die ihm Zufahrt zu den Ärzteparkplätzen gewährte. Ein Krankenhaussprecher wies darauf hin, daß die Schlüsselcodes für die Einfahrtschranke sofort geändert würden, doch er mußte zugeben, daß zu Fuß immer noch jeder ungehindert ins Parkhaus gelangen konnte.

Über den Täter gab es keinerlei Hinweise.

Kurz nach acht war ich wieder im Krankenhaus. Abgesehen von einem zweiten Wachposten in der Eingangshalle gab es keine Anzeichen, daß ein paar hundert Meter entfernt ein Le ben ausgelöscht worden war. Ich wußte, der Tod ging hier ein und aus, aber nach einem Mord hätte ich doch ein stärkeres Sicherheitsaufgebot erwartet.

Gleich neben dem Informationsschalter hing eine Fototafel mit den Porträts der Ärzte. In der obersten Reihe links fand ich Laurence Ashmores Bild.

Toxikologe war er gewesen und recht jugendlich für seine fünfundvierzig, wenn das Foto wirklich erst kürzlich aufgenommen worden war. Ein schmales, ernstes Gesicht, dunkles, struppiges Haar, schmaler Mund, Hornbrille. Woody Allen nach einer Hungerdiät. Nicht der Typ, der einem Straßenräuber viel Widerstand entgegensetzen könnte. Ich fragte mich, wieso es nötig gewesen war, ihn umzubringen, um an seine Brieftasche zu kommen, doch dann wurde mir klar, wie idio tisch die Frage war.

Ich wollte gerade in den Lift steigen, als am anderen Ende des Ganges plötzlich ein Gewimmel entstand. Scharenweise weiße Kittel, die zum Transportaufzug eilten. Ein Pfleger schob ein Kind auf einer Rollbahre vor sich her, ein zweiter hielt eine Infusionsflasche und versuchte Schritt zu halten.

Unter den Ärzten erkannte ich Stephanie, neben ihr zwei Zivilisten. Chip und Cindy.

Ich drängte mich zu ihnen durch, als sie schon im Lift waren. Mit Mühe schlüpfte ich noch hinein und kämpfte mich zu Stephanie vor.

Sie begrüßte mich mit einem flüchtigen Lächeln, doch weder Cindy noch Chip schauten auf. Sie wirkten niedergeschlagen. Cindy hielt Cassies Hand.

Niemand sprach, während der Lift in den fünften Stock fuhr. Erst als wir ausstiegen, bemerkte mich Chip, und wir tauschten einen sekundenschnellen Händedruck.

Die Pfleger schoben die regungslose Cassie auf die Privatstation, legten sie mit geübten Bewegungen in ihr Bett, hängten die Tropfflasche auf und schoben das Bettgitter hoch. Stephanie nahm die Krankenkarte von der Bahre und bedankte sich bei den Pflegern, die darauf das Zimmer verließen.

Cindy und Chip beugten sich über das Bett. Das Zimmer war dunkel bis auf ein bißchen graues Morgenlicht, das durch die zugezogenen Vorhänge schimmerte.

Cassies Gesicht wirkte wie eine leere, aufgeblasene Maske, geschwollen und ausgemergelt zugleich. Cindy hielt noch immer ihre Hand. Chip stand daneben und schüttelte den Kopf.

»Dr. Bogner wird gleich hier sein und auch dieser schwedische Doktor«, sagte Stephanie. Die beiden nickten abwesend. Wir gingen auf den Korridor hinaus.

»Ein neuer Anfall?« fragte ich.

»Ja, heute morgen um vier. Seitdem haben wir sie in der Mangel.«

»Und wie geht es ihr?«

»Sie ist jetzt stabil. Lethargisch. Bogner probiert all seine Diagnosetricks, hat aber noch nichts finden können.«

»War sie in Gefahr?«

»Nein, nicht in Lebensgefahr, aber du weißt ja, welchen Schaden wiederholte Anfälle anrichten können. Es könnte sein, daß sie jetzt immer häufiger werden.« Sie rieb sich die Augen.

»Wer ist der schwedische Doktor?«

»Ein Neuroradiologe namens Torgeson. Er hat einiges über Epilepsie bei Kindern veröffentlicht. Er gibt Vorlesungen an der Uni drüben, also dachte ich, wir könnten es mal mit ihm versuchen.«

Wir gingen zum Stationsschalter, den jetzt eine junge, dunkelhaarige Schwester besetzt hielt. Stephanie machte eine Notiz in Cassies Akte und bat, sie im Falle einer Änderung sofort zu benachrichtigen.

»Wo ist Vicki?« fragte ich, während wir weitergingen.

»Zu Hause, um auszuschlafen, hoffe ich. Ihre Schicht war um sieben zu Ende, doch bis halb acht war sie unten im Be handlungszimmer und hielt Cassies Hand. Wenn ich nicht darauf bestanden hätte, daß sie verschwindet, wäre sie noch für eine weitere Schicht geblieben, obwohl sie vollkommen fertig war.«

»Hat sie den Anfall miterlebt?«

»Ja, sie war am Stationsschalter, als Cindy die Klingel betätigte und hilferufend aus dem Zimmer gelaufen kam.«

»Und wann kam Chip dazu?«

»Kurz nachdem wir Cassie stabilisiert hatten, rief Cindy ihn zu Hause an, worauf er sofort herkam. Ich glaube, es war um ungefähr halb fünf. - Es war eine anstrengende Nacht, aber wenigstens gibt es jetzt unabhängige Zeugen für einen Anfall. Diesmal sind wir sicher, daß einer stattgefunden hat.«

»Und Cindy ist bestimmt nicht verrückt; das ist jetzt jedem klar«, bemerkte ich.

»Was meinst du damit?«

»Na ja, das hat sie gestern zu mir gesagt: Daß ihr sie alle für verrückt halten müßtet. Sie kam darauf, als wir darüber sprachen, daß sie die einzige ist, die Cassies Anfälle miterlebte, und daß das Kind sich immer wieder erholte, sobald es im Krankenhaus war. Sie meinte, man könnte ihr nicht glauben. Vielleicht machte sie sich wirklich Sorgen, aber es könnte auch sein, sie spürt, daß wir sie verdächtigen, und sie mich auf die Probe stellen wollte. Oder sie hat nur ein Spiel mit mir ge spielt.«

»Und wie hast du reagiert?«

»Ich hoffe, ich konnte sie beruhigen.«

»Seltsam«, sagte Stephanie nachdenklich, »sie macht sich Sorgen, ob wir ihr glauben, und prompt passiert etwas, das alle unsere Zweifel zerstreuen muß.«

»Ja, das Timing ist bemerkenswert. Wer außer Cindy war letzte Nacht noch bei Cassie?«

»Niemand, jedenfalls nicht die ganze Zeit. Glaubst du, sie hat ihr etwas gegeben?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht hat sie ihr auch die Nase zugehalten. Oder die Halsschlagader abgedrückt. Beides kommt in der Literatur vor, und ich bin sicher, es gibt eine Reihe von Tricks, die noch nicht dokumentiert sind.«

»Tricks, die eine Beatmungshelferin kennen wird. Aber verdammt noch mal: wie soll man das feststellen?«

Sie riß sich das Stethoskop vom Hals und preßte die Stirn gegen die Wand.

»Hast du dir eine Therapie überlegt? Medikamente?«

»Das kann ich doch nicht! Solange wir nicht wissen, was mit ihr los ist, richten wir mehr Schaden an, als wir beheben.«

»Werden die Eltern nicht noch mißtrauischer, wenn du nichts tust?«

»Ach… ich sag ihnen einfach die Wahrheit. Das EEG läßt keine Schlüsse zu, und bevor ich sie unter Medikamente setze, möchte ich den Grund für die Anfälle wissen. Bogner wird mich unterstützen. Es macht ihn wahnsinnig, daß nicht einmal er etwas herausfindet.«

Die Holztüren schwangen auf, und herein schoß George Plumb, mit vorgestrecktem Kinn und fliegendem Kittel, zusammen mit einem Mann in blauem Nadelstreif. Er war etwa Mitte Sechzig und wesentlich kleiner als Plumb, untersetzt und glatzköpfig. Er bewegte sich mit kurzen, schnellen Schritten. Struppige Augenbrauen wölbten sich über kleinen Augen, die hinter einer stahlgefaßten Brille in einer sonnengebräunten, zerklüfteten Gesichtslandschaft lagen. Der üppige Windsorknoten in seinem metallischblauen Seidenschlips paßte gut zu dem riesigen weißen Hemdkragen.

Die beiden steuerten auf uns zu. Der untersetzte Mann wirkte äußerst geschäftig, auch wenn er stillstand.

»Dr. Eves und Dr…. Delaware, wenn ich mich recht entsinne«, stellte uns Plumb vor.

Ich nickte.

Der andere Mann schien sich nicht für uns zu interessieren.

Er schaute sich mit dem gleichen Bauunternehmerblick um, den ich vor zwei Tagen bei Plumb gesehen hatte.

»Wie geht es unserem kleinen Mädchen, Dr. Eves?« fragte Plumb.

»Sie ruht«, antwortete Stephanie; dann wandte sie sich dem anderen Mann zu. »Guten Morgen, Mr. Jones.«

Der Glatzkopf schaute erst Stephanie an, dann mich. Ein scharfer Blick. Ich fühlte mich wie beim Schneider, beim Maßnehmen.

»Was genau ist passiert?« fragte er mit heiserer Stimme.

»Cassie hat heute früh einen epileptischen Anfall erlitten«, antwortete Stephanie.

»Verdammt.« Jones boxte sich in die Hand. »Und immer noch kein Anhaltspunkt, was die Ursache ist?«

»Ich fürchte, nein. Gleich nach der Einweisung haben wir alle relevanten Tests durchgeführt, und die werden wir nun wiederholen. Dr. Bogner wird zu uns stoßen und ein Gastprofessor aus Schweden, der jeden Moment hier sein müßte. Epilepsie bei Kindern ist sein Fachgebiet. Ich habe mit ihm telefoniert, und er meinte, wir hätten bisher alles richtig gemacht.«

»Verdammt!« Er schaute mich an, und seine Hand schoß mir entgegen. »Chuck Jones.«

»Alex Delaware.«

Es folgte ein kurzer, kräftiger Händedruck.

»Dr. Delaware ist Psychologe, Chuck«, sagte Plumb, worauf mich Jones verblüfft anstarrte.

»Dr. Delaware hilft Cassie dabei, mit den Spritzen fertig zu werden«, erklärte Stephanie.

Jones schien keine Meinung dazu zu haben. »Haltet mich in jedem Fall auf dem laufenden. Wir müssen herausfinden, was es mit diesem verdammten Quatsch auf sich hat.«

Er ging in Richtung Cassies Zimmer. Plumb folgte ihm wie ein Hündchen.

»Hat er ›Quatsch‹ gesagt?« fragte ich, als sie verschwunden waren.

»Du hast richtig gehört. Ein netter Opa, nicht wahr?«

»Bestimmt steht er auf Chips Ohrring.«

»Es gibt eine Sorte von Menschen, auf die er mit Sicherheit nicht steht: Psychologen. Nachdem die Abteilung geschlossen worden war, sind ein paar von uns zu ihm gepilgert und haben versucht, dem Krankenhaus irgendeine Form von psychologischem Dienst zu erhalten. Wir hätten ihn genausogut um einen zinslosen Kredit bitten können. Ist dir klar, daß Plumb dir ein Bein gestellt hat, als er Jones erzählte, was du machst?«

»Danke für den Hinweis«, sagte ich.

»Was sollen wir nun tun, Alex?«

Ich überlegte, ob ich ihr erzählen sollte, was ich mit Milo ausgeheckt hatte, aber ich hielt es immer noch für besser, sie da rauszuhalten. »Nach dem, was ich gelesen habe, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man ertappt sie auf frischer Tat, oder man attackiert sie frontal und bringt sie zu einem Geständnis.«

»Dafür ist jetzt wohl nicht der beste Augenblick, nachdem sie Zeugen hat für einen Anfall und ich einen Spezialisten ins Spiel gebracht habe. Wer weiß, vielleicht liege ich total daneben, und Cassie leidet wirklich unter einer Art von Epilepsie. Heute morgen kam ein Brief an, von Rita, per Eilpost aus New York. Was der Fall mache, fragt sie. Ob es irgendwelche Fortschritte in meiner Diagnose gebe. Ich habe langsam das Gefühl, man übergeht mich und wendet sich an sie.«

»Denkst du dabei an Plumb?«

»Vielleicht. Weißt du noch, das Gespräch, um das er mich gebeten hat? Das hatten wir gestern, und er war zuckersüß zu mir: Wie sehr er meine Loyalität zu unserem Krankenhaus schätze, wie lausig die Finanzlage sei, daß ich aber, wenn ich keinen Staub aufwirbele, bald einen besseren Job haben könnte.«

»Ritas Job.«

»Das sollte ich wohl denken, auch wenn er es nicht offen sagte. Und dann rennt er zum Telefon und ruft sie an. Das sähe ihm ähnlich, uns gegeneinander auszuspielen. Aber das ist jetzt alles unwichtig. Was soll ich mit Cassie machen?«

»Warum wartest du nicht ab, was Torgeson sagt? Wenn er meint, die Anfälle wären künstlich herbeigeführt worden, dann hast du etwas in der Hand für die Konfrontation, die irgendwann mit Sicherheit kommen wird.«

»Ich kann es kaum erwarten.«

Auf dem Weg zum Wartezimmer erwähnte ich, wie wenig man davon merkte, daß Laurence Ashmore gerade ermordet worden war.

»Was meinst du damit?«

»Niemand redet darüber.«

»Ja, es ist furchtbar, nicht wahr? Wie wir alle abstumpfen hier und uns in unseren eigenen Angelegenheiten vergraben. - Ich habe ihn eigentlich nicht gekannt. Er war nicht gerade gesellig, dieser Ashmore. Auf Belegschaftsversammlungen ließ er sich nie blicken, und auf Partys erst recht nicht.«

»Hat denn überhaupt jemand Patienten an ihn überwiesen, wenn er sich so benommen hat?«

»Daran war er nicht interessiert. Mit Patienten hatte er nie etwas zu tun. Er hat nur geforscht. Aber darin muß er nicht schlecht gewesen sein, soweit ich gehört habe. In Toxikologie kannte er sich aus. Deshalb bat ich ihn auch, sich Chads Krankengeschichte anzusehen, als seine Schwester mit diesen Atemproblemen zu uns kam.«

»Hast du ihm von deinem Verdacht erzählt?«

»Nein. Er sollte ja unvoreingenommen an die Sache herangehen. Ich bat ihn nur, nach Ungewöhnlichem Ausschau zu halten. Er war sehr zurückhaltend, fast ablehnend, als ob er meine Bitte als Belästigung empfände. Nach ein paar Tagen rief er an und sagte, er hätte nichts gefunden, in einem Ton, als wollte er sagen: ›… und lassen Sie mich in Zukunft damit in Ruhe.‹«

»Wie hat er sich denn finanziert? Irgendwelche Fremdmittel?«

»Nehm ich an. Vielleicht hat er seine Forschung auch aus seiner eigenen Tasche bezahlt. - Doch ganz gleich, wie er sich hier benommen hat: Was ihm zugestoßen ist, ist gräßlich. Frü her war man noch sicher, wenn man einen weißen Kittel trug oder ein Stethoskop um den Hals, wie rauh es auch draußen zuging. Das gilt jetzt alles nicht mehr. Nichts ist mehr, wie es einmal war.«

Der allgemeine Wartesaal war überfüllt; der Geräuschpegel war wie auf einer Großbaustelle. Manche Mütter winkten Stephanie zu, und sie erwiderte die Grüße, bis wir durch die Tür zum Ärztebereich verschwanden. Auf dem Weg zu ihrem Bü ro begegnete uns eine Schwester:

»Guten Morgen, Dr. Eves. Sie sind heute wieder mal sehr begehrt.«

Stephanie lächelte säuerlich. Eine andere Schwester übe rgab ihr einen Stapel Patientenkarten.

»Bis später dann«, sagte ich.

»Ja, bis später. Danke. - Übrigens: Ich habe noch etwas über Vicki erfahren. Eine Schwester, mit der ich früher einmal gearbeitet habe, hat mir erzählt, daß bei Vicki zu Hause nicht alles ganz glatt geht. Ihr Mann ist wohl Alkoholiker und muß ihr übel mitgespielt haben. Das könnte ein Grund sein, daß sie auf Männer nicht allzugut zu sprechen ist. Geht sie dir immer noch auf den Nerv?«

»Nein. Wir hatten ein kleines Gespräch und haben eine Art Waffenstillstand vereinbart.«

»Gut.«

»Auf Männer mag sie nicht gut zu sprechen sein, aber Chip scheint da eine Ausnahme zu machen.«

»Chip ist kein Mann. Er ist der Sohn des Chefs.«

»Da hast du natürlich recht. Wie ist sie denn mit Cassies Anfall heute morgen fertig geworden?«

»Sehr kompetent. Zunächst beruhigte sie Cindy, und nachdem sie sich überzeugt hatte, daß Cassie kein sofortiges Eingreifen ihrerseits benötigte, rief sie mich dazu. Vollkommen ruhig in einer schwierigen Lage, alles nach dem Lehrbuch.«

»Eine Lehrbuchschwester in einem Lehrbuchfall.«

»Aber du hast doch gesagt, daß sie kaum etwas damit zu tun haben kann, weil die Anfälle immer zu Hause geschahen.«

»Bis auf den letzten. Aber du hast recht, wenn ich fair bin, darf ich sie eigentlich nicht verdächtigen. Wahrscheinlich bin ich nur so auf sie fixiert, weil sie mir so unsympathisch ist.«

Stephanie schaute auf ihre Uhr. »Ich muß jetzt mit meinem Vormittagsprogramm beginnen; die Leute warten auf mich.«

Ich verabschiedete mich und ging zu einem Münztelefon, um Milo eine Nachricht aufs Band zu sprechen: »Vicki Bottomley hat einen saufenden und vielleicht prügelnden Ehemann. Es könnte sein, daß das nichts zu bedeuten hat, doch würdest du bitte überprüfen, ob etwas in der Richtung in euren Akten ist?«

Eine Schwester wie aus dem Lehrbuch… ein Münchhausen-Fall wie aus dem Lehrbuch… ein Krippentod wie aus dem Lehrbuch…

Ein Krippentod, den der verstorbene Dr. Ashmore untersuchte, der Arzt ohne Patienten - bestimmt nur ein makabrer Zufall. In Krankenhäusern wird das Makabre zur Routine, wenn man genug Zeit dort verbringt.

Ich beschloß, mir Chad Jones' Akte selbst einmal vorzunehmen.

Das medizinische Archiv befand sich immer noch im Erdgeschoß. Ich wartete, bis zwei Sekretärinnen mit ihren Anforderungszetteln und ein Arzt mit einem Laptop abgefertigt waren, nur um belehrt zu werden, daß die Akten der verstorbenen Patienten in einer Extrakammer im Keller untergebracht waren, in der Abteilung NMA, was für »nicht mehr aktiv« stand.

Ich machte mich auf den Weg, am Heizungsraum, am Möbellager, an einer Reihe von weiteren Lagerräumen und unbeschrifteten, verschlossenen Türen vorbei. Keine Menschenseele begegnete mir.

Ich ging schneller und hatte es gerade geschafft, in einen gedankenlosen Trott zu fallen, als rechts neben mir eine Tür aufflog, so daß ich zur Seite springen mußte, um nicht umgeworfen zu werden.

Es war eine der unbeschrifteten Türen. Zwei Männer in grauen Kitteln trugen einen Computer heraus, nur ein PC, aber von der größeren, teuren Sorte. Ihnen folgten keuchend noch zwei Männer mit einem weiteren Computer und einer mit hochgerollten Hemdsärmeln und schwellenden Bizepsen mit einem Laserdrucker vor dem Bauch. Ich konnte das Etikett lesen, das auf dem Drucker klebte: Dr. med. L. Ashmore.

Dann sah ich Presley Hünengart in der Tür stehen, einen Stapel von Ausdrucken unter dem Arm. An ihm vorbei spähte ich ins Zimmer: kahle beige Wände, anthrazitgraue Metallmö bel und noch mehrere Computer, die für den Abtransport vorbereitet wurden.

Hünengart starrte mich an. Ich erinnerte ihn, daß wir uns vor zwei Tagen in der allgemeinen Kinderabteilung getroffen hatten, und stellte mich noch einmal vor. Er antwortete mit einer äußerst sparsamen Kopfbewegung.

»Eine furchtbare Geschichte, was mit Dr. Ashmore passiert ist«, versuchte ich das Gespräch in Gang zu bringen.

Er nickte noch einmal, dann trat er zurück ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

Während ich den Gang hinunterblickte und die Handlanger Ashmores Ausrüstung davontragen sah, mußte ich unwillkürlich an Grabräuber denken.