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Bis sieben Uhr las ich noch weiter, dann begann ich an den Korrekturfahnen eines Berichts zu arbeiten, den ich vor kurzem fertiggestellt hatte und der in Druck gehen sollte. Es ging um die emotionalen Reaktionen von Kindern, die vor einem Jahr in ihrer Schule von einem Scharfschützen aufs Korn genommen worden waren.

Dann rief ich Ruth in ihrer Instrumentenwerkstatt an. Sie erzählte mir, sie stecke bis zum Hals in einem schwierigen Projekt. Für eine Heavy-Metal-Band, die weder sich selbst noch ihr Budget unter Kontrolle hatte, sollte sie vier identische, bomberförmige Gitarren bauen. Es überraschte mich nicht, daß sie genervt klang.

»Soll ich später noch mal anrufen?«

»Nein, nein, es tut gut, mit jemandem zu reden, der nicht betrunken ist.«

Im Hintergrund hörte ich Lärm. »Sind das die Jungs?«

»Ach ja, die Jungs. Ich schmeiße sie ununterbrochen raus, und sie tauchen immer wieder auf, wie Schimmelpilze. Man sollte meinen, sie hätten noch etwas anderes zu tun, ihr Hotelzimmer zertrümmern oder so, aber - heh! Laß das, Lucas, faß das nicht an! Vielleicht brauchst du deine Finger irgendwann noch mal - Entschuldigung, Alex. Er fing an, neben der Kreissäge herumzutrommeln.« Ihre Stimme wurde weicher: »Ich muß jetzt aufhören. Wie wäre es mit Freitag abend? Kannst du?«

»Ja, das paßt. Bei mir oder bei dir?«

»Ich weiß nicht genau, wann ich fertig sein werde. Am besten, ich hole dich ab. Ich verspreche, es wird nicht später als neun. Okay?«

»Okay.«

Wir legten auf. Ich blieb vor dem Telefon sitzen und dachte darüber nach, wie unabhängig sie geworden war.

Ich griff nach meiner alten Martin-Gitarre und klimperte eine Weile. Dann ging ich ins Arbeitszimmer zurück und las noch einmal die Münchhausen-Artikel durch, in der Hoffnung, auf Hinweise zu stoßen, die ich vielleicht übersehen hatte. Doch ich fand nichts; meine Gedanken waren bei Cassie Jones. Ich stellte mir vor, wie sich ihr blühendes Gesicht in eine graue Totenmaske verwandelte.

Ich fragte mich, ob es überhaupt eine Frage der Wissenschaft war - ob alle medizinische Weisheit mir hier weiterhelfen konnte.

Vielleicht war es Zeit, eine andere Art von Spezialist zu Rate zu ziehen.

Ich wählte eine Nummer in West-Hollywood. Eine betörende Stimme antwortete: »Hier ist Blue Investigations, unser Büro ist geschlossen. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen möchten, dann tun Sie das nach dem ersten Ton. In dringenden Fällen warten Sie auf den zweiten Ton.«

Nach dem zweiten Piep sagte ich: »Hallo, Milo, hier ist Alex. Ruf mich bitte zu Hause an«, und griff wieder nach meiner Gitarre.

Nach zehn Takten klingelte das Telefon. Die Stimme klang weit entfernt: »Was ist denn so dringend, Alter?«

»Wo bist du?« fragte ich.

»Ich spreche vom Auto aus. Ich mach jetzt manchmal ein paar Dollar nebenher, bin gerade dabei, einen Fall abzuschließen.«

»Ricks Wagen?« Rick war Milos Lebensgefährte.

»Nein, alles meins, auch das Telefon! Wir leben in einem neuen Zeitalter, Doktor. Man ist überall erreichbar und ebenso schnell vergessen. Aber jetzt sag schon, was gibt's?«

»Ich wollte dich um Rat fragen - ein Fall, an dem ich arbeite …«

»Das reicht.«

»Aber -«

»Das reicht, Alex, mehr will ich nicht hören. Autotelefon und Vertraulichkeit - das paßt nicht zusammen. Jeder kann uns zuhören. Wart auf mich.«

Er legte auf. Zwanzig Minuten später klingelte es an mei ner Tür.

»Ich war nicht weit weg«, erklärte er, während er in meine Küche stapfte. In der linken Hand hatte er ein Polizeinotizbuch und ein schwarzes Funktelefon, nicht größer als ein Stück Seife. Seiner Kleidung nach - er trug eine blaue Klubjacke und eine graue Hose - war er mit verdeckten Ermittlungen beschäftigt. Er hatte vielleicht fünf Pfund abgenommen, seit ich ihn das letztemal gesehen hatte, doch das ließ ihm immer noch zweihundertfünfzig übrig, unregelmäßig verteilt über hundertneunundachtzig Zentimeter: Seine dünnen, langen Beine hatten einen vorquellenden Bauch zu tragen, und sein Hals verschwand unter herunterhängenden Wangenlappen.

Er hatte sich vor kurzem die Haare schneiden lassen - hinten und an den Seiten kurz, oben voll, mit einem Büschel über der Stirn, das einige weiße Strähnen enthielt. Er trug Koteletten bis an die Ohrläppchen, gut zwei Zentimeter länger, als die Polizei erlaubte - doch das war das geringste Problem, das die Polizei mit ihm hatte.

Sein breites, pockennarbiges Gesicht war so grau, wie man es nach einer Nachtschicht erwarten würde, doch das Weiß in seinen leuchtendgrünen Augen war klarer als gewöhnlich.

»Du siehst vielleicht genervt aus«, sagte er.

Er öffnete den Kühlschrank und griff an den Bierflaschen vorbei nach einer ungeöffneten Flasche Grapefruitsaft.

Ich gab ihm ein Glas. Er füllte es, trank aus und füllte nach.

»Vitamin C, freier Unternehmer, schicker Geschäftsname - ich komme nicht mehr mit, Milo.«

Er setzte sein Glas ab und lenkte sich die Lippen. »Der Name war eigentlich Ricks Idee, und was das freie Unternehmertum betrifft, das war bestimmt kein einfacher Übergang. Aber ich bin froh, daß ich es gewagt habe, vor allem wegen der Kohle. Ja, auf meine alten Tage fange ich an, über finanzielle Sicherheit nachzudenken.«

»Was nimmst du denn für gewöhnlich?«

»Fünfzig bis achtzig die Stunde, je nachdem. Nicht so gut wie ein Psychiater, aber ich kann mich nicht beklagen. Die Polizei hat sich in den Kopf gesetzt, das ganze Geld zu verschwenden, das sie in meine Ausbildung gesteckt hat, und mich vor einem Bildschirm versauern zu lassen. Also spiele ich nachts Detektiv.«

»Schon interessante Fälle gehabt?«

»Nein, meistens Beschattungssachen für Leute, die unter Verfolgungswahn leiden. Aber wenigstens darf ich mich auf der Straße herumtreiben.«

Er goß sich noch ein Glas Saft ein und trank. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte - den Tagesjob, meine ich.«

Er rieb sich das Gesicht. Plötzlich sah er erschöpft aus.

Ich dachte daran, was er im letzten Jahr durchgemacht hatte.

Er hatte einem Vorgesetzten, der ihn in Lebensgefahr gebracht hatte, den Kiefer gebrochen, und das vor laufenden Fernsehkameras. Die Polizeiführung unternahm nicht viel. Es wäre unangenehm gewesen, wenn alles ans Licht gekommen wäre. Es gab kein Verfahren, nur sechs Monate unbezahlten Urlaub. Danach steckten sie ihn - »vorübergehend« - in die Datenverarbeitung im Parker Center, wo ihm ein tuntiger Zivilist namens Charlie beibrachte, mit Computern zu spielen. Das war die nicht ganz feine Art der Polizeiführung, ihn daran zu erinnern, daß ein Kinnhaken schön und gut war - was er dagegen im Bett anstellte, war weder vergeben noch vergessen.

»Erwägst du immer noch, vor Gericht zu gehen?« fragte ich.

»Ich weiß nicht. Rick meint, ich soll bis zum Letzten kämpfen. Er sagt, die Art, wie sie mich behandeln, zeige, daß sie mich niemals in Ruhe lassen werden. Aber ich weiß, wenn ich vor Gericht gehe, dann ist die Polizei für mich gestorben. Sogar wenn ich gewinne.«

Er zog seine Jacke aus und legte sie auf die Durchreiche.

»Genug gejammert. Was kann ich für dich tun?«

Ich erzählte ihm von Cassie und gab ihm eine Kurzvorlesung über das Münchhausen-Syndrom. Er nippte an seinem Saft und machte sich Notizen. Er sah fast aus, als wäre er mit den Gedanken woanders.

»Kennst du das alles schon?« fragte ich.

»Nein, warum?«

»Die meisten Leute reagieren etwas aufgeregter, wenn sie das hören.«

»Keine Sorge, ich hör schon zu.«

Ich erzählte ihm den Rest der Geschichte, ohne Namen zu nennen.

»Okay«, sagte er am Ende, »was soll ich also tun? Die Mutter durchleuchten? Oder beide Eltern? Die Krankenschwester?«

»Daran habe ich eigentlich nicht gedacht.«

»Nein? Was denn?«

»Ich weiß nicht, Milo, vielleicht brauche ich nur einen Rat.«

Er legte seine Hände auf den Bauch und beugte sich zu mir herunter. »Der ehrwürdige Buddha ist zur Stelle. Der ehrwürdige Buddha gibt folgenden Rat: Erschieße alle Bösewichter. Soll sich eine andere Gottheit um sie kümmern.«

»Zunächst wäre es gut zu wissen, wer die Bösewichter sind.«

»Genau. Deshalb habe ich auch Durchleuchtung vorgeschlagen. Wenigstens für den Hauptverdächtigen.«

»Das wäre in diesem Fall die Mutter.«

»Dann werde ich mir die als erste vornehmen. Solange ich tagsüber nur Knöpfe drücke, kann ich mich auch noch um anderes kümmern, als Bonus, sozusagen. Das macht viel mehr Spaß als die Lohnlisten, mit denen sie mich strafen.«

»Wo würdest du anfangen?«

»Als erstes würde ich die Kriminalgeschichte befragen. Da hat die Polizei eine Datenbank. Übrigens, wird deine Frau Doktor im Bilde sein, daß ich herumschnüffle?«

»Wieso?«

»Ich fühle mich wohler, wenn ich weiß, wer informiert ist. Was wir tun, ist eigentlich nicht erlaubt.«

»Dann wollen wir sie lieber aus dem Spiel lassen. Warum sollten wir sie in Gefahr bringen?«

»Gut.«

»Was die Kriminalgeschichte angeht«, fuhr ich fort, »kann ich dir folgendes sagen: Münchhausens präsentieren sich gewöhnlich als Musterbürger. Und vom Tod des ersten Kindes wissen wir schon. Der ist als Krippentod zu den Akten gelegt worden.«

»Es muß gerichtsmedizinische Berichte darüber geben, aber wenn niemand Verdacht geschöpft hat, dann ist auch dort nichts zu holen. Ich will sehen, ob ich die Akten bekommen kann. Vielleicht kannst du sogar selbst etwas herausfinden - in den Krankenhauspapieren. Aber du mußt diskret sein.«

»Ich bin nicht sicher, ob das möglich ist. Das Krankenhaus hat sich total verändert.«

»In welche Richtung?«

»Man kümmert sich viel mehr um Sicherheit als früher.«

»Na ja, daraus kannst du ihnen keinen Vorwurf machen. Es ist wirklich übel geworden in dem Teil der Stadt.«

Er stand auf, holte sich eine Orange aus dem Kühlschrank und begann sie nachdenklich zu schälen.

»Was ist los?« fragte ich.

»Ich versuche, mir eine Strategie zurechtzulegen. Im Moment sehe ich nur die Möglichkeit, den Täter auf frischer Tat zu ertappen. Geschieht es immer zu Hause?«

Ich nickte.

»Das heißt, wir müßten ihr Haus elektronisch überwachen. Versteckte Mikrofone und Kameras. Aber ohne Gerichtsbe-Schluß ist da nichts zu machen. Und einen Gerichtsbeschluß bekommen wir nicht ohne handfeste Beweise, die wir nicht haben.«

»In England hat es zwei Fälle gegeben, bei denen man die Mütter auf Video filmte, wie sie ihren Babys die Luft abdrückten, und da gab es vorher auch keine Beweise.«

»Haben die zu Hause gefilmt?«

»Nein, im Krankenhaus.«

»Das ist ein großer Unterschied. Und außerdem sind die Gesetze in England anders, soviel ich weiß. Laß mich darüber nachdenken, Alex. Vielleicht fällt mir etwas Machbares ein. Inzwischen schaue ich in die hiesigen Verbrechensregister. Vielleicht haben wir ja Glück.«

»Sei vorsichtig; ich will nicht, daß du dich kompromittierst.«

»Keine Sorge. Zu Beginn mache ich nur, was jeder Beamte nach einer normalen Verkehrskontrolle tut. Wenn ich danach beschließe, tiefer zu graben, werde ich sehr vorsichtig sein. Haben die Eltern je außerhalb von Los Angeles gelebt?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß eigentlich gar nichts über sie. Das sollte ich schnellstens ändern.«

»Ja, du schaust, was du herausbekommst, und ich fange von meiner Seite an.« Er lehnte sich an die Durchreiche und dachte laut: »Reiche Leute. Das könnte heißen, sie waren auf Privatschulen. Das macht die Sache schwieriger.«

»Für die Mutter trifft das nicht unbedingt zu. Sie ist ein einfaches Mädchen. Er ist Hochschullehrer. Vielleicht war sie eine seiner Studentinnen.«

Er öffnete sein Notizbuch. »Wo lehrt der Vater?«

»West Valley Community College. Soziologie.«

»Arbeitet die Mutter auch?«

»Nein, sie ist nur für das Kind da.«

»Hm - vielleicht gibst du mir jetzt besser einen Namen, mit dem ich arbeiten kann.«

»Jones.«

Er schaute mich an. Ich nickte.

Sein Gelächter war laut und kehlig, als sei er betrunken.