20
»Ich glaube, es wäre am besten, wenn wir Marseille meiden, angesichts unserer Begegnung mit deinem Freund Devereux«, bemerkte Cosimo, während sie unter der heißen Nachmittagssonne auf einer Landstraße dahinritten. »Ich würde ihm nur ungern noch einmal begegnen.«
Sie hatten schon vor ein paar Stunden die Rhone hinter sich gelassen, und das Gefühl der Nähe des Meeres wurde intensiver. Die Salzmarschen der Camargue lagen nicht allzu weit westlich von ihnen, und die Luft hatte schon ein deutlich salziges Aroma.
»Er war nicht mein Freund«, widersprach Meg.
»Hat er aber garantiert geglaubt«, sagte Cosimo und lachte.
»Was ja schließlich auch der Zweck der Unternehmung war.« Eine bissige Antwort, aber aus irgendeinem Grund verärgerte sie sein Lachen.
Cosimo betrachtete sie, wie sie neben ihm ritt, elegant gekleidet in ein braunrotes Reitkleid mit hohem, gestärktem Kragen und einen charmanten Hut, auf dem eine Pfauenfeder wippte. Die Kleider hatte er für sie in einer der größeren Städte gekauft, durch die sie gekommen waren. Die breite Krempe des Huts schattierte ihr Gesicht, aber er sah doch die strenge Haltung ihres Kinns und die schmale Linie ihres Mundes. Es hatte den Anschein gehabt, als hätte ihr die Rolle im Theaterstück des vergangenen Abends gefallen. Doch nun tauchten Zweifel in ihm auf.
Nun, er fand es sicherlich bald heraus, dachte er finster. Das letzte, endgültige Spiel würde bald gespielt werden. Heute Abend musste er mit der Wahrheit herausrücken. Sein Verstand schreckte vor dem Gedanken zurück – aus dem einfachen Grund, weil er sich ihrer nach wie vor nicht sicher war. Er hatte die ganze Zeit gehofft, dass sie ohne weiteres bereit sein würde, seine Partnerin zu spielen, wenn der fragliche Moment gekommen war. Und sei es nur, weil sie bis dahin schon eine besondere Beziehung verband.
Diese Beziehung verband sie jetzt, und in vielem wesentlich enger, als er je geglaubt hatte. Aber Meg fühlte sich offensichtlich nach wie vor unabhängig und war zeitweise so undurchschaubar wie von jenem ersten Moment an, als er ihren bewusstlosen Körper in seiner Kajüte betrachtet und überlegt hatte, was für eine Katastrophe sie bedeuten könnte. Seit jenem Zeitpunkt hatte er sich in seinem Verhalten auf seine Instinkte verlassen, war mit seinen Lügen vorsichtig umgegangen. Doch jetzt gab es keine weiteren Lügen mehr.
Er wusste, was in Toulon getan werden musste. Und er wusste auch wie, von den frühesten Stadien, in denen Meg ihre eigene Wohnung haben würde und ihre Wege sich Napoleon näherten, bis zum Höhepunkt der Mission. Selbst ihre Fluchtroute war bis in die letzte Einzelheit geplant. Und er traute sich zu, eine Lösung für alles Unvorhergesehene zu finden, was seine Pläne erfahrungsgemäß stets durchkreuzen könnte. Bis auf einen Punkt. Wenn Meg sich weigerte, mit ihm zusammenzuarbeiten.
»Ich bin sicher, dass Monsieur Devereux einen schönen Abend hatte«, sagte er friedfertig. »Man hat ihn vielleicht an der Fortsetzung gehindert, die er sich vorgestellt hatte. Doch das ist ja so oft das Schicksal der Männer.« Er seufzte schwer und bekam die Belohnung dafür – ein herzliches Lachen seiner Begleiterin.
»Von Frauen auch«, gluckste sie. »Und ich würde wetten, Cosimo, dass mehr Frauen als Männer unzählige Stunden ihres Lebens damit verbringen, darauf zu warten, dass irgendein Mann ihnen ein Angebot macht, sie besucht oder nur seine Karte bei ihnen abgibt.«
»Ich glaube nicht, dass wir uns über die verschiedenen Frustrationen der Geschlechter streiten werden«, sagte er und lachte. »Ich habe vor, die Nacht in einem kleinen Dorf in der Nähe von Miramas zu verbringen. Dort gibt es eine brauchbare Herberge. Morgen müssen wir dann einen Umweg durch die Berge machen, um Marseille zu umgehen. Aber die Straße ist weitaus frequentierter als die durch die Laucune und außerdem nicht so hoch gelegen.«
»Was immer du sagst«, erwiderte Meg. Sie war fasziniert davon, wie gut sich Cosimo in den Gegenden auskannte, die sie während der letzten Wochen durchquert hatten. Er war fast in jeder der Herbergen schon einmal gewesen, und sie hatten nicht ein Mal einen falschen Weg eingeschlagen. Sie hatte ihn am Anfang gefragt, wie oft er diese Reise schon gemacht habe, doch darauf hatte er eine eher vage Antwort gegeben. Damals war sie damit zufrieden gewesen, und die Härten der Reise hatten das Thema zudem uninteressant werden lassen. Doch jetzt, da sie sich dem Ende ihres Abenteuers näherten, wurde die Frage wieder interessant. Also fragte sie ihn noch einmal.
Er fasste die Zügel kurz, als ein Kaninchen genau vor den Hufen seines Pferdes über die Straße schoss. Der Wallach tänzelte rückwärts und schüttelte den Kopf, die Trense klirrte. »Ich bin nicht jedes Mal dieselbe Route gereist«, sagte Cosimo und beugte sich vor, um das Pferd mit einer Hand am Hals zu tätscheln, damit es sich beruhigte.
»Und doch weißt du über alle Herbergen Bescheid?«
»Nicht über alle«, korrigierte er.
Meg saugte an ihrer Unterlippe. »Ich weiß, dass du ein Spion bist, Cosimo. Ich weiß auch, dass du ein Kurier bist. Und ein Freibeuter. Aber warum gibst du keine klare Antwort auf eine klare Frage? Du hattest nicht erwartet, diese Nachrichten quer durchs Land von Bordeaux nach Toulon zu bringen, und doch weißt du ganz genau, welche Route du dafür nehmen musst. Wie?«
Cosimo erkannte, dass die Wahrheit unvermeidlich war. Er hatte sich innerlich darauf vorbereitet, es am Abend zu tun, doch wegen dieser Frage musste es jetzt sein. Hier inmitten der Landschaft, wo er keine Requisiten zur Hilfe einsetzen konnte und nichts hatte, das ihre Aufmerksamkeit ablenken könnte. Möglicherweise war es auch besser so. Schmutzige Geheimnisse, sauber ans klare Tageslicht gebracht, ohne irgendwelche Kunststücke.
»Ich werde es dir erzählen, aber nicht beim Reiten.« Er hob die Peitsche und deutete über ein Feld in eine Richtung, wo ein Rauchwölkchen in das tiefe Blau des Himmels hinaufstieg. »Wir reiten dort hinüber, wo es Wasser für die Pferde gibt und wir uns eine Weile ausruhen können, bevor wir weiterreiten.«
»Ich hätte auch nichts dagegen, mir die Beine ein wenig zu vertreten«, sagte Meg und versuchte, das Unbehagen hinunterzuschlucken, das wie Galle in ihre Kehle aufstieg. Warum war sie sich so sicher, dass etwas Unangenehmes geschehen würde?
Sie ritten quer über das Feld, und Megs Stute, die sonst nie gern artig in einer Reihe ging, trabte diesmal ordentlich mit der Nase am Schweif von Cosimos Wallach dahin. Am Ende des Feldes, das an einen Weiler grenzte, gelangten sie zu einem schmalen Bächlein, das eigentlich kaum mehr als ein mit Wasser gefüllter Graben war. Cosimo stieg ab, tauchte einen Finger in den Graben und leckte an der Fingerspitze. »Es ist brackig«, verkündete er. »Kommt wahrscheinlich irgendwo aus der Camargue.« Er stieg wieder auf sein Pferd. »Wir reiten in den Weiler. Dort wird es sicher einen Pferdetrog geben, so dass wir die Tiere tränken können.«
Meg folgte ihm, ihr unbehagliches Gefühl nahm zu. Cosimo war bisher noch nie freiwillig von ihrer Route abgewichen.
Sie ritten durch eine Hecke in eine schmale, staubige Straße. Auf beiden Seiten standen kleine Steinhäuschen, manche mit Küchengärten, und der Boden war hart gebacken durch die brennende Sonne des Südens. Sie begegneten nur wenigen Menschen: Ein alter Mann ruhte sich auf einer Egge aus, ein kleines Mädchen jagte ein mageres Huhn über die Straße.
Cosimo beugte sich über den Hals des Wallachs und fragte den Mann, wo sie den Pferdetrog finden konnten. Der Mann deutete die Straße hinunter und sagte etwas, das Meg nicht verstand, Cosimo aber offensichtlich schon. Er hielt ihm mit einem freundlichen Danke eine Münze hin und ließ den Wallach weitergehen.
Sie fanden den Brunnen und den dazugehörigen langen Pferdetrog an einem kleinen Platz an der Straße. Cosimo stieg ab und führte sein Pferd dorthin. Dieser kahle Ort war für seine Enthüllungen absolut nicht geeignet. Er stand zu sehr in der Öffentlichkeit, und man konnte sich nirgendwo hinsetzen. Meg stieg ab und führte ihre Stute zum Trog.
»Kannst du bitte die Pferde halten, Meg? Ich bin in ein paar Minuten wieder da.« Er gab ihr die Zügel seines Pferdes und des Packpferdes, das er geführt hatte, und lief in die Richtung, wo er die Herkunft eines bestimmten Dufts vermutete, in einer der engen Gassen, die von dem Platz abzweigten.
Als er mit einem Binsenkorb zurückkam, zog Meg gerade die Pferde von dem Trog weg. »Das war genug«, sagte sie. »Was hast du da?« Sie deutete auf den Korb.
»Etwas, das uns erfrischen wird«, erwiderte Cosimo. »Ich bin meiner Nase gefolgt, und sie hat mich zum Heiligen Gral geführt.« Er nahm die Zügel seines und des Packpferdes wieder entgegen. »Wir gehen ein paar Meter zu Fuß. Dort drüben ist der ideale Platz für ein Picknick.«
Trotz des unbehaglichen Gefühls war Meg hungrig genug, sich für den Inhalt des Korbes zu interessieren. Sie nahm ihre Stute und folgte Cosimo, der sie zu einem offenen Platz an einem Bach führte, in den der Graben mündete. Trauerweiden, die dort wuchsen, boten ihnen Schatten, und ein Kiefernwäldchen bildete die andere Seite der Lichtung. Sie folgte Cosimos Beispiel, der die Pferde an einer Stelle mit saftigem Gras anband.
»Ist das unser Abendessen?«, fragte sie und versuchte, heiter zu klingen, als sie sich auf eine moosbewachsene große Wurzel setzte und die Nadeln aus ihrem Hut zog. Sie legte den Hut neben sich ins Gras und griff nach dem Binsenkorb.
»Nicht direkt«, sagte Cosimo und setzte sich neben sie. »Ich hoffe, dass wir in der Herberge, wo wir übernachten, noch eine gute Mahlzeit bekommen. Aber wir haben heute noch nichts Ordentliches gegessen, also wird uns ein wenig Brot mit Käse, Eier-und-Schinken-Pastete, noch warm aus dem Ofen, und eine Flasche Wein sicher gut tun.«
Meg lehnte sich an die Weide. »Allerdings«, stimmte sie zu und holte die Flasche mit dem Rotwein hervor. Sie reichte sie Cosimo und hob vorsichtig die duftende Pastete, die eine goldene Kruste hatte, aus dem Korb. Sie schnupperte erfreut daran und entdeckte in dem Korb weiter einen knusprigen Brotlaib und ein dickes Stück reifen, sahnigen Käse.
Cosimo zog mit den Zähnen den Korken aus der Flasche und trank einen kräftigen Zug, dann gab er sie an Meg weiter.
Sie nahm den Wein, trank ebenfalls einen guten Schluck und sah Cosimo an. »Wirst du mir etwas erzählen, das ich eigentlich nicht hören möchte, Cosimo?«
Er erwiderte ihren Blick ruhig und sagte dann: »Ich weiß es nicht. Ich muss zugeben, dass mir eine andere Gelegenheit hierfür lieber gewesen wäre, aber es geht wohl nicht anders.«
Meg stellte die Flasche ins Gras und zog unter dem Rock ihres Reitkleides die Knie an. Die ledernen Kniehosen, die sie darunter trug, waren ihr in den letzten Wochen so sehr zur zweiten Natur geworden, dass sie meistens den Rock ganz vergaß.
Sie legte die Arme um die Knie und das Kinn darauf. »Vielleicht solltest du besser anfangen.«
»Ja, das sollte ich vielleicht.« Aber er fing nicht sofort an. Er zog das Klappmesser hervor, das er stets am Gürtel trug, und schnitt die Pastete in vier Teile. »Sollen wir zuerst essen?« Er hob ein Viertel auf die Messerschneide und hielt es Meg hin.
»Meinst du, ich werde eine Stärkung brauchen?«, fragte sie mit einem wenig überzeugenden Lächeln, nahm das Stück und biss hinein.
Er schüttelte den Kopf und sagte nur: »Iss, Meg.« Er schnitt den Brotlaib in Scheiben und ein Stück vom Käse ab und strich ihn auf das Brot.
Meg stellte überrascht fest, dass ihr Appetit trotz des nagenden Unbehagens genauso kräftig war wie immer. Trotzdem aßen sie schweigend und reichten die Weinflasche ab und zu hin und her. Schließlich wischte sich Cosimo die Hände ab, stellte die leere Schüssel der Pastete und die Flasche wieder in den Korb und stand auf.
»Ich werde diese Sachen zurückbringen«, sagte er. »Wir reden, wenn ich wiederkomme.« Er ging mit schnellen Schritten davon.
Meg stand auf und ging zum Bach. Sie kniete sich hin, um sich die Hände zu waschen, und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann ging sie in die Hocke, schaute auf die klare, perlende Oberfläche des Baches und bemerkte abwesend das silbrige Glitzern von winzigen Fischchen, auf die das Sonnenlicht traf. Das nagende Unbehagen war zur reinen Angst geworden, und das Essen lag ihr wie Blei im Magen.
Sie hörte nicht, wie Cosimo zurückkehrte, sondern spürte ihn eher, stand langsam auf und drehte sich ebenso langsam um. Er stand unter einer Weide, die Hände in den Hosentaschen, und begegnete ihrem eindringlichen Blick. Fast zwei Meter lagen zwischen ihnen. Sie verschränkte die Hände und sah ihn mit einem knappen Nicken an, das ihm bedeutete, sie sei bereit.
Seine Stimme war leise und gleichmäßig, als er begann. Er erzählte, was er war, was er tun würde, wie er sie angelogen hatte und was er von ihr wollte. Während der ganzen Geschichte blieb sie still und unbeweglich stehen, ihre Augen hafteten auf seinem Gesicht. Ihr Blick war derart eindringlich, als wolle sie die Worte sehen, wie sie seinen Mund verließen, bis es schließlich nichts mehr zu sagen gab und Cosimo verstummte.
Er würde Napoleon Bonaparte ermorden.
Meg starrte ihn an, sprachlos über die Ungeheuerlichkeit dieses Unternehmens. Aber es war nicht nur ungeheuer, sondern gleichzeitig gigantisch. Und dann wurde ihr langsam klar, was seine Worte für sie bedeuteten.
Von der ersten Minute ihrer Begegnung an hatte er sie benutzt, manipuliert, betrogen. Ich riskiere keinen Misserfolg, meine Liebe. Diese Worte Cosimos fielen ihr jetzt mit ihrer eigentlichen Tragweite wieder ein. Er hatte von Anfang an versucht, sie für seine Zwecke zurechtzubiegen.
»Nein«, erklärte sie. »Ich werde dir nicht dabei helfen, einen Menschen zu ermorden.«
Der Rest konnte warten – ihre Wut, ihr Entsetzen, der bittere Schlag gegen ihr Selbstgefühl, alles das konnte warten, bis er verstanden hatte, dass all die gemeinen Dinge, die er mit ihr angestellt hatte, wertlos gewesen waren.
Die Reaktion war schlimmer, als er erwartet hatte, und Cosimo dachte, er wäre auf das Schlimmste vorbereitet gewesen. Aber ihre extreme Blässe, der leblose Ausdruck in ihren grünen Augen, die sonst immer so lebhaft waren, die Art, wie ihre Züge einer Totenmaske ähnelten, erfüllten ihn mit Sorge.
»Meg…« Er machte einen Schritt auf sie zu.
Sie hob mit einem Ruck die Hände, die Handflächen gegen ihn gerichtet. »Komm mir nicht zu nahe.«
Unvernünftigerweise achtete er nicht auf ihre Worte. Er kam näher, wollte nach ihren Händen greifen. »Meg… Liebes, hör mir zu –«
Sie schlug ihn mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte. Ihre Handflächen klatschten gegen sein Gesicht, erst die eine Seite, dann die andere. Und das Geräusch war so heftig und plötzlich, dass die angebundenen Pferde erschreckt wieherten.
Seine Nasenflügel blähten sich, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. Seine Hände hingen unbeweglich an seinen Seiten, und scharlachrote Abdrücke erschienen auf seinen Wangen. »Das ist dein Recht«, sagte er leise.
»Ich hasse Gewalt«, sagte Meg und wandte sich von ihm ab. »Und ich verabscheue dich, weil ich deinetwegen so etwas tun musste.« Sie ging fort in das Kiefernwäldchen.
Cosimo berührte seine brennenden Wangen. Einen Augenblick lang hatte ihn ihr Angriff beruhigt, denn sie hatte wenigstens gehandelt und nicht nur wie tot dagestanden. Doch jetzt war er erneut verunsichert. Durch eine Tat, die so konträr zu ihrem Charakter stand, würde Meg sich nur noch schlimmer fühlen – und das würde sie noch mehr gegen ihn einnehmen.
Er stand ein paar Minuten lang unentschlossen da, dann schüttelte er die trüben Gedanken ab. Sie konnten hier nicht bleiben, wie unangenehm die Lage auch sein mochte. Er folgte ihr in das Wäldchen und rief ihren Namen.
Meg hörte seine Stimme, wanderte aber weiter, schleuderte bei jedem Schritt Kiefernnadeln hoch. Sie fühlte sich taub. Selbst in ihren schlimmsten Albträumen hätte sie sich nichts derart Schreckliches vorstellen können. Er hatte mit ihr gespielt. Die freudig gegebene Leidenschaft, die sie nie zu verstecken versuchte, benutzt, um sie zu manipulieren. Sie fühlte sich schmutzig und wertlos wie ein ausgesetzter Straßenköter.
»Meg!«
Die scharfe Dringlichkeit seines Rufs brachte sie diesmal dazu, stehen zu bleiben. Ihr war klar, dass dies Wirklichkeit war, dass sie dieses Grauen nicht hinter sich lassen konnte, indem sie stur weiterging. Sie machte kehrt und marschierte direkt an ihm vorüber zu den Pferden. Sie nahm ihren Hut, band die Stute los, stieg mit Hilfe eines Klotzes in den Sattel und saß dann da, die Zügel lose in der Hand, und wartete, dass Cosimo ebenfalls aufstieg.
Er sagte nichts, als er den Wallach neben die Stute führte, das Packpferd hinter sich. An dieser Stelle gab es nichts zu sagen, das wusste er, ohne ihr Gesicht zu betrachten. Er ließ den Wallach zurück zur Straße gehen, und Meg folgte ihm in einigem Abstand durch den langen, staubigen, heißen Nachmittag.
Die Herberge, die Cosimo ausgesucht hatte, lag in der Nähe eines kleinen Dorfes am Ufer einer Flussmündung, ein allein stehendes Gebäude mindestens eine Meile vom nächsten Haus entfernt. Müde stufte Meg es als genau die Art von Unterkunft abseits der viel begangenen Straßen ein, die ein Mann von Cosimos Beruf kennen würde. In den vergangenen Wochen hatten sie in mehreren derartigen Herbergen gewohnt. Manche waren unangenehm, manche angenehmer Art gewesen.
Dieses gehörte zur letzteren Kategorie. Sie wurden freundlich begrüßt, man nahm ihnen die Pferde ab und versprach, sie mit gutem Hafer und sauberem Heu zu füttern. Die Dame des Hauses führte sie in einen gepflegten Garten hinter der Herberge und bestand darauf, dass sie sich erst mal in den Schatten einer Weinlaube setzten und ein Glas des einheimischen Weins versuchten. »Aus dem Weinberg meines Vaters«, sagte sie. »Ein feiner Rhonewein – einen besseren bekommt Ihr im ganzen Tal nicht.«
Meg wollte ablehnen, doch die geschäftige Gastfreundlichkeit der Frau ließ eine solche Unhöflichkeit nicht zu. Sie ließ sich auf die Bank an einem Holztisch nieder und bedankte sich mit einem Lächeln. Das Reden übernahm Cosimo.
Die Frau brachte eine Schüssel mit Oliven und einen Teller Salami, dazu einen Kupferkrug mit Wein. »Et, Madame Ana, elle va bien, j’espère, m’sieur?« Sie strahlte Cosimo an und nahm dabei zwei Gläser aus den tiefen Taschen ihrer Schürze, die sie auf den Tisch stellte.
»Mais oui, Madame Arlene, merci«, gab Cosimo mit ausdrucksloser Stimme zurück.
Die Frau warf einen Blick auf Megs unbeweglichen harten Gesichtsausdruck, was sie plötzlich etwas nervös machte. Sie knickste kurz und eilte von dannen.
Meg nahm eine Olive, spuckte den Kern ins Blumenbeet neben sich und trank einen Schluck Wein. Wie oft wohl Cosimo und Ana auf irgendeiner heimlichen Mission schon hier gewesen sein mochten? Oft genug, dass die Wirtin Cosimos frühere Gefährtin erwähnte und sich nach ihrem Befinden erkundigte.
»Ich würde gern in mein Zimmer gehen«, sagte sie und stand auf. »Ich nehme an, du und Ana habt immer zusammen ein Bett gehabt. Ich hätte gern mein eigenes. Wäre das möglich?« Ihre Stimme war ausdruckslos.
Cosimo stand auf. »Natürlich. Ich komme mit dir und spreche mit Madame Arlene.« Meg war sowieso schon am Rand ihrer Nervenkraft, und Cosimo sah keinen Grund, warum er sie an dieser Stelle weiter bedrängen sollte. Er hatte alle seine Trümpfe ausgespielt, und obwohl er nicht akzeptieren wollte, dass er sein Spiel verloren hatte, würde er doch den Verlust seines letzten Tricks hinnehmen. Er glaubte nicht, dass er noch irgendwelche Asse aus dem Ärmel ziehen konnte. Aber eventuell konnte er den Rest seines Blattes doch noch Gewinn bringend einsetzen, wenn er es geschickt genug anfing.
Er berührte Meg nicht, sondern ging nur neben ihr zur Küche der Herberge, deren Boden mit Steinplatten belegt war. Von Leisten über dem Herd hingen Büschel mit trocknenden Kräutern, und die Luft duftete nach Thymian, Estragon, Majoran und Rosmarin.
Meg atmete den Duft tief ein. Er erinnerte sie an stille Küchen in Kent und Zeiten, als ein solcher Betrug für sie noch undenkbar gewesen war. Sie hörte zu, als Cosimo mit Madame Arlene sprach. Er erklärte ihr, dass er Madame Giverny nach Marseille begleite, dass Madame nach dem langen Ritt müde sei und sich gern in ihr Schlafzimmer zurückziehen würde.
Ob Madame Arlene glaubte, was sie da erzählt bekam, schien unklar. Doch Meg wusste, dass ihr das sowieso gleichgültig war. Sie folgte der lächelnden Herbergswirtin die Stufen hinauf zu einer kleinen, aber sauberen Kammer, die frisch nach Lavendel duftete.
»Merci, Madame Arlene«, sagte sie mit echter Dankbarkeit. Es war wirklich ein sehr hübsches Zimmer. »C’est très jolie.«
Madame Arlene murmelte einen Dank für das wohlverdiente Kompliment, doch ihr Blick wanderte gewissermaßen prüfend über ihren Gast, und Meg spürte, dass sie mit Ana verglichen wurde und offensichtlich dem Vergleich nicht ganz standhalten konnte. Sie lächelte kurz zum Abschied, und die Wirtin ging hinaus, wobei sie noch versprach, heißes Wasser hinaufzuschicken. Danach schloss sie die Tür hinter sich.
Meg atmete die friedliche Stille tief ein. Sie warf ihren Hut zur Seite und ging hinüber zum offenen Fenster. Dann wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Das Fenster öffnete sich zur Weinlaube. Cosimo war an den Tisch zurückgekehrt und saß da, drehte den Stiel seines Glases zwischen den Fingern und starrte finster vor sich hin. Seine Haltung wirkte angespannt. All die Fassung und Selbstsicherheit, die Cosimo sonst ausstrahlte, waren verschwunden.
Er hatte einen Fehler gemacht. Meg wandte sich vom Fenster ab. Cosimo war nicht daran gewöhnt, Fehler zu machen. Er hatte sich verschätzt, und jetzt litt er darunter. Wie oft kam es vor, dass seine Pläne nicht klappten?
Meg ließ sich auf das Bett fallen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Die Tagesdecke aus Chintz duftete nach Sonne und Meer. Plötzlich setzte sie sich auf, um ihre Stiefel auszuziehen, schleuderte sie quer durchs Zimmer. Ein unwiderstehlicher Drang zu schlafen überkam sie.
Sie öffnete die Augen. Es hatte sich nicht viel geändert. Die Sonne stand tief am Himmel, war jedoch noch nicht untergegangen. Sie hatte etwa eine halbe Stunde lang geschlafen. Meg setzte sich auf, kam mühsam auf die Beine, hatte ein trockenes Gefühl im Mund und Kopfschmerzen. Wein und Ärger in der Sonne konnten einem zusätzlich das Leben schwer machen, dachte sie und verzog das Gesicht.
Ein Krug mit heißem Wasser, das noch leicht dampfte, stand neben der Schüssel auf dem Toilettentisch. Meg zog sich mit ungeschickten Fingern aus und wusch sich mit dem Schwamm. Die Reisetasche mit ihrer Kleidung stand auf dem Boden neben dem Schrank, aber sie hatte eigentlich keine Lust, sich anzuziehen oder sonst etwas zu tun. Sie wollte nichts tun als nur einfach tief, tief schlafen.
Nackt kroch sie unter die nach Lavendel riechenden Decken und rollte sich zusammen. Sie würde schlafen, danach die Angelegenheit noch mal überdenken und dann einen Ausweg finden.
Cosimo stand neben dem Bett und betrachtete sie. Ein Mondstrahl beleuchtete ihr Gesicht und betonte seine Blässe, so dass die Sommersprossen über dem Nasenrücken deutlich hervorstachen. Der Hauch von Bräune, den sie nach den vielen Tagen in der Sonne bekommen hatte, schien wie weggewischt, als wäre er nur aufgemalt gewesen. Alles tat ihm weh, als hätte man ihn gefoltert, aber der Schmerz auf ihrem Gesicht war schlimmer für ihn als sein eigener Kummer. Er war zu ihr gekommen, bereit, der Situation ins Auge zu sehen, selbst bereit, Meg dazu zu zwingen. Sie sollte akzeptieren, dass es keine Alternative gab… für keinen von ihnen. Sie musste seine Partnerin werden, denn nur so hatten sie beide eine Chance zu überleben.
Doch als er sie jetzt ansah, brachte er es nicht übers Herz, ihren Schlaf zu stören. Sie brauchte die Kraft, die sie daraus schöpfen würde. Er wandte sich vom Bett ab und lehnte sich aus dem Fenster, um die Fensterläden zu schließen und das Mondlicht auszusperren. Dann zog er sich aus und legte sich unter die Decke neben sie. Er berührte sie nicht, aber er brauchte das Gefühl ihres Körpers in seiner Nähe, ihre Wärme, damit die Ferne zwischen ihnen nicht mehr so schlimm war. Nach einer Weile schlief er ein, denn ihr rhythmischer Atem und der vertraute Duft ihrer Haut waren so beruhigend.
Er erwachte mit einem heftigen Ruck. Meg lag auf der Seite, stieß ihre Füße gegen seine Schenkel und versuchte, ihn wegzuschieben.
»Los, raus!«, zischte sie wütend. »Wie konntest du das wagen? Lass mich in Ruhe!« Sie trat ihn, boxte mit den Händen gegen seine Brust. »Ich finde dich abscheulich. Verschwinde!«
»Warte… warte!«, sagte er und griff nach ihren Händen. »Meg… Liebes, bitte! Hör doch mal auf, ich tu dir doch gar nichts! Ich will doch gar nichts von dir. Hör auf.« Er entwand sich der Nähe ihrer trampelnden Füße, hielt dabei aber ihre Hände fest.
Meg entriss ihm ihre Hände und setzte sich auf. Das Zimmer lag wegen der geschlossenen Fensterläden in völligem Dunkel. Panik erfüllte ihre Brust, und sie holte ein paar Mal tief Atem, um sich in der Welt jenseits des Schlafes zu orientieren. Sie hatte tief geschlafen und war jäh erwacht durch die Erkenntnis, dass er neben ihr lag. Das brachte mit Macht alle schrecklichen Erinnerungen zurück, dass sie eine ganze Weile brauchte, sich zu beruhigen.
Cosimo hatte das Bett verlassen und stand jetzt daneben, ein hoher, dunkler Schatten, der sich kaum von der umgebenden Dunkelheit abhob. »Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er. »Ich wollte dich auch nicht wecken… Ich bin einfach neben dir eingeschlafen… verzeih mir.« Er klang verzweifelt.
Megs Augen gewöhnten sich etwas besser an die Dunkelheit. Sie wischte die Locken aus dem Gesicht, die ihr in die Augen fielen. »Zünde eine Kerze an.«
Cosimo tastete sich durch das Zimmer zum Toilettentisch, wo er Feuerstein und Zunder neben einer frischen Kerze fand. Er entzündete die Kerze, und die Flamme erhellte das Zimmer mit einem schwachen, goldenen Schimmer. »Es tut mir so Leid«, sagte er.
»Was?«, fragte sie bitter. »Dass du in mein Bett gekrochen bist und mir Angst gemacht hast? Oder wegen all der anderen Dinge? Aber die tun dir ja bestimmt nicht Leid, oder? Du bist halt, was du bist… was du tust… Und es interessiert dich nicht im Geringsten, wen du als Mittel benutzt, um dir zu deinem Zweck zu verhelfen.«
Cosimo zog seine Kniehosen an. Normalerweise hätte ihm seine Nacktheit nicht das Geringste ausgemacht, doch in dieser Situation war das anders. »Genau genommen interessiert es mich sogar sehr, Meg«, sagte er. »Denn du bedeutest mir eine Menge.«
»Ach ja? Das glaube ich sofort«, sagte sie bitter. »Du wolltest mich benutzen vom ersten Moment an, als du mich gesehen hast. Streite es ab, wenn du kannst.«
Er seufzte. »Kann ich nicht.«
Meg schwieg. Sie hatte erwartet, dass er die Beschuldigung heftig zurückweisen würde, eine Reaktion, die sie mit dem glänzenden Schwert der Gerechtigkeit angreifen konnte. Ein Schuldeingeständnis war unanfechtbar.
Leise sagte er in das Schweigen hinein: »Meg, ich bitte dich zu glauben, dass ich dich schon lange als meine Geliebte, meine Partnerin und eine Begleiterin betrachtet habe, deren Intelligenz und Kraft mir immer wieder ein Grund zur Freude waren.« Er machte mit ausgestreckten Händen einen Schritt aufs Bett zu. »Ich gebe offen zu, dass du nur zugestimmt hast, mich auf diese Reise zu begleiten, weil ich dir einen Haufen Lügen erzählt habe. Doch in den letzten Wochen gab es keinen Tag, an dem ich das nicht bedauert hätte.«
»Warum hast du mir die Wahrheit dann nicht schon früher erzählt?« Sie saß aufrecht im Bett und hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen.
»Tja, da hast du mich«, sagte er bedauernd.
Sie lachte ironisch. »Ja, weil du deine Mission nicht gefährden wolltest… dieses Attentat… indem du meine Weigerung auch nur eine Minute früher als unbedingt nötig riskiert hättest.«
»Das bestreite ich nicht.«
Es war unmöglich, mit einem Mann zu streiten, der jede Beschuldigung auf sich sitzen ließ, dachte Meg ärgerlich. Doch ändern tat es nichts.
»Ich werde dir nicht helfen, einen Mann zu töten«, sagte sie fest. »Lass mich hier, wenn du willst. Ich werde mir schon selbst irgendwie helfen. Aber ich werde nicht weiter bei dieser Sache mitmachen, Cosimo.«
»Napoleon hat geschworen, England zu erobern«, sagte er ruhig. »Und es gibt jeden Grund anzunehmen, dass ihm das gelingen wird. Er hat im letzten Oktober den Befehl über das englische Heer bekommen.«
»Warum geht er dann nach Ägypten?«, wollte Meg wissen. »Oder war das ebenfalls eine Lüge?«
»Nein«, sagte Cosimo. »Aber seine Entscheidung, die Eroberung Englands zu verschieben, gibt uns eine kurze Gelegenheit. Der Mann bedroht den ganzen Kontinent Europa, Meg. England wird durch den Ärmelkanal und seine Marine beschützt. Sonst nichts.« Er trat näher ans Bett. »Stell dir vor, wie viele Leben gerettet werden können, indem nur dieses eine verloren geht.«
Diese Logik hatte etwas Bestechendes. Aber er verlangte von ihr, dass sie einen Mann verführen und ihn damit in den Tod locken sollte. Kaltblütig. Der Tod im Kampf war schrecklich, aber… Sie dachte an den kurzen und relativ sauberen Kampf auf See, den die Mary Rose mit der französischen Fregatte ausgetragen hatte. Sie erinnerte sich an die Schmerzensschreie des verletzten Matrosen, dem die Kanone die Brust eingedrückt hatte. Sie erinnerte sich an das Blut aus Wunden von etwas so einfachem wie einem dicken Splitter. Es war nicht schwer, sich die Zustände in einer richtigen Seeschlacht vorzustellen. Und aus der antiken Geschichte hatte sie gelernt, sich Schlachtfelder vorzustellen.
Doch trotz dieser ganzen Logik schrak alles, was sie war, alles woran sie je geglaubt hatte, davor zurück, auf diese Art für den Tod eines Menschen verantwortlich zu sein. »Das kann ich nicht tun«, stellte sie nochmals fest und wandte das Gesicht vom Licht ab.
Cosimo sagte im Augenblick nichts, dann bückte er sich und hob sein Hemd und die restlichen Kleider auf. »Die Entscheidung war und bleibt die deine, Meg.« Er verließ das Zimmer und löschte die Kerze im Hinausgehen.
Meg warf die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Sie ging zum Fenster und öffnete den Fensterladen. Der Mond versank allmählich am Horizont. Sie konnte so etwas nicht tun… einen Mann zu Tode bringen. Sie konnte es einfach nicht.
Aber Cosimo würde es trotzdem tun. Mit oder ohne sie. Das wusste sie, ohne ihn zu fragen. Und sie würde irgendwo warten, bis er seine Mission beendet hatte, sich dann wieder mit ihm treffen, um zur Mary Rose zu fahren und dann vergnügt nach England zurückzusegeln.
Und wie in aller Welt sollte sie das fertig bringen?
Meg schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit. Sie wollte herumsitzen und Däumchen drehen, während Cosimo ein Attentat auf Napoleon Bonaparte verübte? Um sich danach auf dem Heimweg fröhlich mit ihm zu versöhnen?
Wie sollte er seine Mission ohne sie denn zu Ende bringen?
Er hatte bestimmt einen Plan für diesen Fall, sagte sie sich. Und was, wenn es keine Alternative gab? So wie er es ihr erklärt hatte, war es ihre Rolle, dafür zu sorgen, dass er entkommen konnte – oder wenigstens die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Wie würde er das ohne sie bewerkstelligen?