14
Meg blieb unter Deck, als der Abend zur Nacht wurde. Biggins brachte ihr ein Abendessen, das sie mit wenig Appetit aß. Das Wetter war wieder umgeschwungen, und ein feuchter Nieselregen fiel. Also ging sie davon aus, dass Cosimo nicht auf dem Oberdeck essen würde. Vielleicht nahmen er und Gus das Abendessen zusammen mit David in der Kajüte des Arztes ein. Sie hätte Gus gern bei sich gehabt, so ganz allein war es etwas einsam.
Meg schob ihren noch halb vollen Teller beiseite und stand vom Tisch auf. Die Kajüte fühlte sich plötzlich eng und bedrückend an, und ihr wurde klar, dass sie sich schon den ganzen Tag kaum bewegt hatte. Sie hüllte sich in den dicken Umhang und verließ den Raum. Eine unheimliche Stille und völlige Dunkelheit empfing sie. Gewöhnlich hörte man Stimmen von Deck oder aus der Kombüse am Ende des Flurs. Immer ertönten irgendwelche Schritte auf den Decks oben. Doch jetzt hörte sie nichts außer dem Knarren von Holz und dem Klatschen des Wassers am Schiffsrumpf. Es war, als führe sie auf einem Geisterschiff. Und warum war es so dunkel?
Neugierig und etwas beunruhigt tastete sich Meg in Richtung Treppe. Dann verstand sie, warum es so dunkel war: Die Deckluke war geschlossen, so dass kein Schimmer von Sternen oder vom Mond hereindringen konnte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, weil sie plötzlich Angst hatte, dass sie eingeschlossen war. Warum hatte man sie ohne ein Wort der Erklärung allein gelassen?
Allerdings hatte sie selbst darauf bestanden, allein gelassen zu werden. Cosimo befolgte diesen Wunsch, doch dies ging ja wohl zu weit. Sie stellte einen Fuß auf die Treppe und reichte mit einer Hand nach oben, um zu prüfen, ob sie die Luke aufschieben könnte. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Meg hatte beobachtet, dass sie im Sturm manchmal von oben verschlossen wurde, wenn der Wind sehr stark war und die Wellen hin und wieder auf das Deck klatschten. Doch heute Abend gab es keinen Sturm. Feucht und regnerisch war es zwar, aber sie hatte nie bemerkt, dass die Luke verriegelt wurde, wenn es nur ein wenig regnete.
Versuchsweise klopfte Meg an die Luke und versuchte noch einmal, sie aufzudrücken. Als nichts geschah, klopfte sie noch einmal, diesmal lauter. Und jetzt geschah etwas. Die Luke wurde halb gehoben, und das weiße Gesicht von Frank Fisher erschien in der Öffnung. Er flüsterte ein dringliches Leise! Und wirkte derart panisch, dass Meg auf der Treppe wie angewurzelt stehen blieb. Dann schlich sie auf Zehenspitzen weiter aufwärts, und Frank hielt die Luke offen, so dass sie aufs Deck hinausklettern konnte.
Sie fand sich in einer Welt aus grauem Nebel wieder, der in Schwaden um den Mast und die Reling waberte. Es herrschte fast völlige Stille, nur das Klatschen der Wellen am Schiffsrumpf war zu hören. Dabei ging fast überhaupt kein Wind. Sie konnte gerade noch das einzelne Vorsegel erkennen, unter dem die Mary Rose fuhr. Als ihre Augen sich an das seltsame, graue Licht gewöhnt hatten, erkannte sie die Gestalten der Männer, die bewegungslos an der Reling standen, und Cosimo am Steuerruder sowie Mike neben sich. Alles wirkte tatsächlich gespenstisch, dachte sie.
Frank hatte seinen Finger eindringlich auf die Lippen gedrückt, und sie deutete mit einem Nicken an, dass sie verstanden hatte. Sie schlich über das Mitteldeck und die Stufen zum Oberdeck hinauf. Köpfe drehten sich in ihre Richtung, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie sich überhaupt bewegte, aber sie war sicher, dass ihre Schritte keinerlei Geräusch machten, als sie vorsichtig hinüber zum Steuerruder ging.
Cosimos Blick war auf den brodelnden Nebel vor ihnen geheftet. Seine Hände nahmen kleine Veränderungen am Steuer vor, nur für einen Moment hob er die eine Hand vom Steuerruder und drückte seine Fingerspitzen gegen Megs Lippen. Als ob sie wirklich noch eine Warnung gebraucht hätte, dachte sie ärgerlich.
Sie drehte den Kopf zur Seite und schob seine Hand zum Steuerruder zurück. Die Mary Rose segelte weiter. Und dann hörte Meg Stimmen durch den Nebel. Sie sah mit einer erschreckten Frage im Blick zu Cosimo hinüber. Seine Schultern hatten sich gespannt, aber seine Hände auf dem Steuerruder waren ruhig. Ein kleines Lächeln hob seine Mundwinkel, ein Lächeln, das Meg erkannte. Es war jenes mephistophelische Lächeln, das reinen, schadenfrohen, genießerischen Triumph bedeutete.
Sie strengte sich an, um die Stimmen zu hören, und erkannte nach einer Schrecksekunde, dass dort Französisch gesprochen wurde. Zuerst konnte sie nicht erkennen, woher die Stimmen kamen, doch dann entdeckte sie ganz schwach die Umrisse eines etwa fünfzig Meter entfernten Schiffes. Dennoch blieb die Mary Rose weiter auf ihrem Kurs, glitt lautlos unter ihrem einzelnen Segel durch das ruhige Wasser dahin.
Und dann rief sie eine Stimme an, die wie ein Donnern durch den Nebel schallte. Meg vermutete, dass dafür ein Megaphon verwendet wurde. Es war eine fröhliche Begrüßung, mit leicht anzüglichen Worten, und die Forderung nach Identifikation schien nichts als eine Formalität. Cosimo zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er in makellosem Französisch zurückrief: »Bonsoir, copains. Nous sommes l’Artemis, en route à Belle Isle.«
Meg spähte zum Bug und sah, dass dort die Trikolore gehisst war. Sie schien bei ihrem beleidigten Brüten in der Kajüte einiges Aufregende verpasst zu haben. Plötzlich kehrte ihre ganze Freude am Abenteuer in vollem Maße zurück. An dieser Aktion war nichts In-der-Ecke-Verstecktes, Messer-im-Dunkeln-Bedrohliches. Sie befanden sich mitten unter den Feinden, legten sie monumental herein. Und das faszinierte sie. Mit glänzenden Augen horchte sie auf die französische Antwort. Ein beiläufiges Bon voyage.
Cosimo sah sie an und entdeckte das Funkeln in ihren lebhaften, grünen Augen. Es war also doch noch nicht alles verloren, dachte er, und sein stilles Lächeln wurde tiefer. Er hatte sich nicht getäuscht. Meg hatte ihm doch ein Märchen erzählt mit diesem Theater von der schwachen kleinen Frau. Er spürte die Energie in ihr genauso stark wie in den Momenten, wenn sie sich geliebt hatten. Er war schon lange der Überzeugung, dass der vibrierende Pulsschlag der Gefahr große Ähnlichkeit mit dem Pulsschlag der sexuellen Leidenschaft hatte. Wenn sie hier erst außer Gefahr waren, würde er der Sache auf den Grund gehen, was ihren plötzlichen Stimmungsumschwung bewirkt hatte.
Er nahm ihren Arm und zog sie vor sich, so dass sie das Steuerruder ansah. Schweigend legte er ihre Hände darauf. Sie warf ihm über die Schulter einen erstaunten Blick zu und schloss dann die Finger fest um das glatte Holz, spürte das Schiff unter den Füßen. Sie beobachtete das Vorsegel, und als es leicht flatterte, legte Cosimo seine Hände auf die ihren und korrigierte das Steuer. Nachdem das zweimal so gegangen war, schob sie beim dritten Mal seine Hände weg und korrigierte das Steuer selbst. Dabei kam sie etwas zu weit nach Backbord, und das Segel flappte. Hastig drehte sie das Steuer zurück, und das Segel füllte sich. Sein Körper hinter ihr wirkte stark und beruhigend, aber Meg konnte ihre eigene Kraft spüren in der Art, wie die Mary Rose auf ihre Handbewegungen reagierte. Das war ein berauschendes Gefühl von Macht. Und unter anderen Umständen hätte sie laut gelacht, weil es so überwältigend war. Doch sie war sich allzu sehr der Gefahr bewusst, die sie auf allen Seiten umgab, finstere dunkle Formen in dem brodelnden grauen Nebel.
Und dann drehte sich plötzlich das Steuer unter ihren Händen, und sie spannte die Schultern an, um es zurückzudrehen, doch Cosimo hatte jetzt seine Hände darauf gelegt, und sie duckte sich unter seinem Arm hindurch und stand neben ihm. Der Nebel lichtete sich, sowie der Wind auffrischte und das Vordersegel blähte. Cosimo gab keine Befehle, aber seine Männer brauchten auch keine. Sie kletterten hinauf in die Wanten und machten sich bereit, das Hauptsegel zu setzen.
Die Mary Rose segelte aus dem Nebel heraus und in eine klare, sternenhelle Nacht, in der kein anderes Schiff mehr in Sicht war.
»Was ist passiert?«, fragte Meg, und dann schaute sie hinter sich, sah die graue Wand und verstand. Der Nebel hatte sich nicht gelichtet, sondern sie waren nur einfach herausgefahren.
»Dieses Stück der Bucht ist berüchtigt für seinen Nebel«, erklärte Cosimo. »Es war nur Pech, dass wir gleichzeitig hier durchmussten wie eine französische Flotte.«
Meg schüttelte amüsiert und ungläubig den Kopf. »Du hast das die ganze Zeit genossen, Cosimo!«
Er lachte leise. »Ja, das stimmt wohl. Der Gedanke, sich durch eine ganze Flotte von feindlichen Kriegsschiffen zu schleichen, ohne dass sie es bemerken, hatte seine komischen Seiten.«
Einen Moment lang war es, als hätten sie sich einander nie entfremdet.
»Übernimm das Steuer, Mike. Halte diesen Kurs. Wenn wir Glück haben, liegen die Schwierigkeiten erst einmal hinter uns.« Cosimo trat vom Steuerruder zurück. Er nahm Megs Ellenbogen. »Lass uns unter Deck gehen.«
Meg war einverstanden. Sie hatte keine Ahnung, wie sie aus dieser Situation herauskommen sollten, aber sie wusste, dass es ihnen irgendwie gelingen musste. Es musste einfach möglich sein, ihren moralischen Standard zu bewahren, ohne dieses Abenteuer ganz aufzugeben. Es würde auch so viel einfacher sein, auf der Mary Rose zurück nach England zu segeln, so wie der Freibeuter es ursprünglich geplant hatte. In einem solchen Fall mussten pragmatische Überlegungen an erster Stelle stehen. Sie konnte ja nicht in Bordeaux am Hafen herumlaufen und versuchen, sich eine Überfahrtmöglichkeit auf einem Handelsschiff zu kaufen. Das war nicht machbar, und sie wusste es… hatte es die ganze Zeit gewusst.
Ihr war nicht klar, warum sich Cosimo auf der Klippe so verhalten hatte, und eben hatte sie ihn dabei beobachtet, wie er unangefochten sein Schiff durch eine Flotte von Feinden steuerte. Vielleicht musste sie akzeptieren, dass dieser Mann ein Krieger war, der einen Krieg mit ungewöhnlichen Waffen bekämpfte. Wenn sie das akzeptieren konnte, dann würde es ihr gelingen, an Bord dieses Schiffes zu bleiben, bis sie Folkstone wieder erreicht hatten. Und wenn es dabei notwendig sein sollte, Sex mit dem Freibeuter zu haben, würde sie ihn als eine Art Bezahlung für die Überfahrt betrachten.
Sie hatte sich oft gefragt, wie es wohl war, eine Hure zu sein. Dieser Gedanke war so abwegig, dass sie ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. Die Tatsachen lagen offen: Sie war genauso wenig bereit, ihr leidenschaftliches Abenteuer aufzugeben, wie sie ihre Chancen auf den Docks von Bordeaux versuchen wollte. Eine erfreuliche Kombination von Notwendigkeit und Verlangen.
Cosimo blieb vor der Kajütentür stehen. »Ich könnte jetzt einen Cognac vertragen.« Er machte sich auf den Weg durch den Flur in Richtung Kombüse.
Meg betrat die Kajüte, zog den Umhang aus und setzte sich auf die Bank am Fenster. Gus war immer noch nirgends zu sehen, und das verwirrte sie. »Wo ist Gus?«, fragte sie Cosimo, als er mit dem Flachmann und Gläsern zurückkam.
»Unter Deck im Krankenraum bei David. Er hat noch nicht verstanden, dass er unter gewissen Umständen schweigen sollte, und er spricht kein Französisch.«
Meg lachte und nahm das Glas, das er ihr hinhielt. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass ihr mich hier unten einschließen würdet?«
»Du hattest doch ganz klar zu verstehen gegeben, dass du gern in Ruhe gelassen werden wolltest.« Er setzte sich auf die Tischkante und nippte an seinem Cognac. »Und jetzt möchte ich, dass du mir erklärst, warum das so war.«
Meg schwenkte die goldene Flüssigkeit in ihrem Glas und sah zu, wie bernsteinfarbene Lichter darin tanzten. Was hatte sie zu verlieren? Sie hatte eigentlich keine Wahl, als auf Cosimos Schiff zu bleiben, bis sie nach Folkstone zurückkehrten. Wenn er ärgerlich darauf reagierte, dass sie ihm gefolgt war und gesehen hatte, was sie gesehen hatte, dann sei’s drum. Vielleicht würde er ihr eine Erklärung dafür geben können, was ihren moralischen Bedenken möglicherweise eine neue Richtung geben konnte.
Mein Gott, sie war noch scheinheiliger, als sie selbst es je angenommen hatte. Bella würde sie auslachen.
»Warum hast du jene Männer getötet?« Sie hielt ihren Blick auf den Inhalt ihres Glases gerichtet.
Cosimo wirkte erstaunt. »Welche Männer?«
»Die Franzosen auf der Klippe bei dem halb verfallenen Haus. Sie unterhielten sich lediglich miteinander, und du hast dich von hinten an sie angeschlichen und sie getötet.«
»Ich verstehe.« Er zupfte an seinem Kinn. »Also bist du mir gefolgt?«
»Ja.«
Es hatte den Anschein, dass Miss Barratt unverbesserlich war. Er holte tief Atem und atmete laut aus. »Komm doch bitte mal her.«
Meg runzelte die Stirn und zögerte. In seinem Ton oder seiner Haltung schien nichts Drohendes zu liegen. Sie stand auf und ging zu ihm hinüber.
Er erhob sich und sagte: »Dreh dich bitte um.«
Meg tat das. Sie spürte seine Hand an ihrem Hals, dann einen leichten Druck dicht vor dem Ohr. »Wenn ich hier draufdrücke, wirst du das Bewusstsein verlieren«, sagte er in dem ruhigen, informativen Ton eines Mannes, der Studenten eine Lehrstunde erteilt. »Spürst du das?« Er drückte fester.
Meg schluckte. Ihr Gesichtsfeld änderte sich irgendwie seltsam. »Hör auf!« Sofort ließ der Druck nach.
»Das ist eine sehr effektive Methode, einen Feind kampfunfähig zu machen«, fuhr er in demselben Ton fort. »Leise genug und hinterlässt keine Spuren. Wenn der Betreffende erwacht, hat er keine Ahnung, was ihm passiert ist.«
»Aber du hattest doch ein Messer?« Sie drehte sich langsam wieder zu ihm um und sah ihn verwirrt an.
»Natürlich.« Das war die Feststellung einer Tatsache. »Ich riskiere nicht so leicht, dass etwas schiefgeht, meine Liebe.«
»Also hast du sie nicht ermordet?«, murmelte sie.
»Nein. Aber sie hatten zwei Männer getötet, meine Freunde, und zwar im Schlaf. Sie hatten auch zehn Tauben geschlachtet, sie in ihren Käfigen mit Schrot beschossen. Und jetzt sag mir, Meg, ob sie meine Gnade verdient hatten.« Seine Stimme hatte einen unangenehmen ironischen Klang.
Sie schluckte schwer.
»Aber du hast sie nicht getötet«, stellte sie leise fest.
»Ich töte nicht zum Vergnügen.«
Sie musste sich anstrengen, nicht zu der verschlossenen Schublade mit den Messern hinzuschauen. Er durfte nie erfahren, dass sie das ausspioniert hatte.
»Das steckte also hinter dem ganzen Unsinn«, meinte er. »Also, ich muss dir mitteilen, meine Liebe, dass es sowieso unglaubwürdig war. Ich habe dich mit dem Steuerruder beobachtet, Meg, und du hast keine Spur von Angst gezeigt. Also könnten wir uns vielleicht darauf einigen, dass du nicht versuchst, mir weiszumachen, du wärst eine schwache, ängstliche Frau, die kaum eine Gans aus dem Garten scheuchen könnte? Wenn du irgendwelche Sorgen hast, dann tu mir den Gefallen und konfrontiere mich damit.«
Das war vernünftig, und Meg sagte: »Einverstanden.«
»Gut. Und könnten wir uns ebenfalls darauf einigen, dass wenn ich dir dringend nahe lege, etwas zu tun… irgendwo zu bleiben…, dass du dann versuchst, dir gut zu überlegen, ob du dich nicht daran halten möchtest?« Seine Augenbrauen zuckten, und so leichthin die Frage auch gestellt sein mochte, war Meg doch klar, wie ernst sie gemeint war.
»Keine Sorge, Cosimo. Ich werde mich zwischen hier und Folkstone sorgfältig aus allen deinen außerplanmäßigen Aktivitäten heraushalten«, sagte sie mit voller Überzeugung. »Ich bin nur an Bord, bis wir wieder in Folkstone sind.« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. »Habt Ihr bezüglich irgendwelcher Annehmlichkeiten eventuell Anordnungen, Sir?«
Es gab noch genug Zeit, sie in die richtige Form zu schmieden – keine Notwendigkeit, eine Wiedervereinigung mit einer zu früh geäußerten Erklärung zu trüben. Er küsste sie und grummelte: »Ja, da wäre eine Sache.«