Kapitel 25

Rupert Venables, Zum guten Schluß


  

  [1]

Rupert wollte, daß ich alles aufschreibe. Er sagte, es wäre für etwas mit der Bezeichnung »Obere Kammer«. Er sagte, da oben brauchen sie einen ausführlichen Bericht, und er muß auch einen anfertigen, und ob es mir viel ausmachen würde? Nicht mal die wissen so viel über Babylon wie ich. Sie wollen es für ihre Unterlagen haben. Eine Art Rechenschaftsbericht, hat er gesagt.

Ich hatte nicht viel Lust. Ich schreibe nicht gern Aufsätze oder so was, und wenn ich versuche, an Babylon zu denken, ist mir irgendwie, als wüßte ich nicht mehr, was passiert ist. Erst versuchte ich, Rupert so weit zu bringen, daß er mir eine Belohnung verspricht, damit ich es tue. Er ist mit einem neuen Projekt in einer anderen Gruppe von Welten betraut worden, und das scheint unheimlich interessant zu sein, also sagte ich, ich schreibe den Bericht, wenn er mir erzählt, was genau er jetzt tut, aber er hat nicht angebissen. Pech, aber einen Versuch war’s wert. Er sagte nur, ich soll es einfach so tun, aus Spaß an der Freud’.

Irgendwann habe ich dann angefangen. Anfangs war es mühsam, aber dann gab es so eine Art Durchbruch, und das Schreiben ging wie von selbst. Das alles ist auf dem Rest der Diskette gespeichert, dieser Teil hier ist ein Anhang, den ich auf die Diskette für Rupert schreibe und auf die andere kopieren werde, die Maree Koryfos bringen soll. Koryfos scheint wirklich Wert darauf zu legen.

Als ich mit dem Bericht fertig war, kopierte ich ihn auf alle Disketten, die ich hatte. Ziemlich viele. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, so viel Geld zu haben. Ich mache Blödsinn, wie zum Beispiel, daß ich mir hundert formatierte Disketten kaufe und vergesse, was ich wirklich brauche: ein Modem. Das Geld kommt daher, daß meine Mutter kein Testament gemacht hat, und ich gelte als ihr nächster Verwandter, und Gramos Albeck hat ein Testament gemacht und alles Mutter hinterlassen. Also gehören mir jetzt die Boutique und die Waffenfabrik. Na ja, die Fabrik nicht so richtig, weil Rupert und Dad meinen, das wäre zu viel des Guten. Sie haben in die Wege geleitet, daß das Unternehmen in einen Trust umgewandelt wird, aber den Kleiderladen haben sie an Mrs. Fear verkauft, die sowieso die eigentliche Chefin gewesen ist, und jetzt habe ich ein Guthaben bei der Post und einen Berg Anteile an einer Baufirma und reichlich Bargeld. Ich fand eigentlich, es wäre nicht fair Dad und Maree gegenüber, aber Dad meinte, er hätte seinen Stolz, und schließlich bringen seine Bücher ordentlich was ein. Maree sagt, sie würde nichts, was den beiden gehört hat, auch nur mit der Feuerzange anfassen. Außerdem steht Maree auch gar nicht so übel da: Koryfos hat ihr da drüben irgendwelchen Landbesitz geschenkt. Sie erzählt, Rupert und sie hätten viel Spaß dabei, Geld zu waschen, damit sie auf der Erde etwas damit anfangen können.

Wir überredeten Dad, wo wir jetzt doch reich genug sind, jemanden einzustellen, der für uns kocht. Maree kann’s nicht, Dad hat keine Lust, es zu lernen, und ich kann nur Spaghetti. Also geht Dad hin und heuert die Schwester von Mrs. Fear an, Yvonne, weil sie die letzte Verkäuferin ist, die Mum gefeuert hat. Doch das heißt, die Wohltätigkeit zu übertreiben! Yvonne kocht schlechter als Maree. Ich gebe hundert Pfund die Woche aus, um mir Sachen zu kaufen, die eßbar sind. Was ich eigentlich sagen wollte, ich habe Geld für alles mögliche. Ich habe mir den Packen formatierte Disketten gekauft und den Bericht kopiert, und dann habe ich die Disketten an allen möglichen Stellen versteckt, bevor ich mit Maree in ihrem neuen Auto zu Rupert hinausgefahren bin.

Ruperts Haus ist ziemlich klein, aber drinnen nicht übel. Ein ganzer Raum steht voller Computer und in seinem Wohnzimmer hat er eine tolle Musikanlage. Sie versuchen, meinen Onkel Derek (Maree nennt ihn neuerding ihren quasi-Paps) zu überreden, daß er dort einzieht. Maree und Rupert wollen in dem größeren Haus weiter unten an der Straße wohnen, das mit dem Teich im Garten, sobald Maree ihre Ausbildung beendet hat - aber das wird noch eine Zeitlang dauern, und sie will, daß Rupert auf meinen quasi-Onkel aufpaßt. Ich glaube aber, Onkel Derek ist zu unabhängig, um sich darauf einzulassen. Falls er in London bleiben will, werde ich Ruperts Haus kaufen. Es gefällt mir wirklich.

Als wir hinkamen, war das letzte Gelege Entenküken gerade geschlüpft. Man konnte nicht in die Küche, aus Angst, auf sie zu treten. Frau Buktary baut ihr Nest immer unter der Spüle. Herr Buktary kommt durch die Katzenklappe herein, die Rupert für seine Hausgenossen eingebaut hat, und ergreift sofort wieder die Flucht, wenn seine Abkömmlinge sich auf ihn stürzen. Er leistete uns im Wohnzimmer beim Mittagessen Gesellschaft. Rupert ist ein wirklich guter Koch; ich wünschte, er würde Yvonne ein paar Unterrichtsstunden geben.

Als wir fertig waren mit Essen, fragte Rupert: »Bereit, ihr zwei?« und als wir ja sagten, forderte er mich auf, meinen Ausdruck zu holen und bereitzuhalten. Dann sagte er: »Egal, wie es aussieht oder euch vorkommt, denkt immer daran, daß wir in Wirklichkeit diesen Raum nicht verlassen werden.«

Ich überlege immer noch, weshalb er das gesagt hat, wahrscheinlich ist es der vorgeschriebene Standardspruch für Außenstehende (also mich). Außerdem war es gelogen, hundertprozentig. Magids scheinen ziemlich oft lügen zu müssen - mir persönlich gefällt das. Ich weiß ganz genau, nachher war es Stunden später, und meine Füße taten weh vom Stehen. Doch am Anfang saßen wir auf unseren Stühlen und schauten auf die Bücherschränke und die Stereoanlage.

Nach einer Weile, obwohl ich keine Veränderung bemerkt hatte, sagte Rupert: »Los geht’s.« Er stand auf, ging zum mittleren Bücherschrank und schwang eine Hälfte davon zurück wie eine Tür. Im Halbdunkel dahinter führte eine Wendeltreppe in die Höhe. »Kommt mit«, sagte er und stieg als erster hinauf. Die Stufen waren aus Holz und knarrten. Maree folgte ihm. Sie war sehr nervös. Man sieht ihr gut an, wenn sie nervös ist, weil sie dann eine besonders kämpferische Miene aufsetzt und dauernd ihre Brille hochschiebt und blinzelt. Ich ging als letzter, und zu dem Zeitpunkt war ich noch überhaupt nicht nervös.

Die Treppe führte in einer Spirale immer weiter nach oben. Nach einiger Zeit wurde mir bewußt, daß wir längst schon viel höher gestiegen waren als Ruperts Haus überhaupt ist. Außerordentlich interessant. Und je höher wir stiegen, desto dunstiger wurde es in dem Treppenschacht, bis alles irgendwie milchig wirkte oder ein bißchen wie ein Filmnegativ, aber die Stufen waren unverändert aus Holz. Sie knarrten immer noch. Ich roch den staubigen Holzgeruch, und ich weiß, sie waren so wirklich wie ich. Es war außerdem ziemlich warm, und dadurch wurde der Geruch noch deutlicher.

Als wir nach meiner Schätzung mindestens so hoch gestiegen waren wie die Spitze des Kirchturms im Nachbardorf oder vielleicht sogar höher, standen wir plötzlich in einem offenen Türbogen auf einem Fußboden aus sehr breiten Dielen, die schlimmer knarrten als die Stufen. Und ich sah, wir waren in der Oberen Kammer. Sie war sehr groß, aber ich konnte nicht erkennen wie groß genau, obwohl ich die Wände sah, kahl und weiß gestrichen, aber über allem lag so ein milchiger Schleier wie schon auf der Treppe. Auch die Leute konnte man deshalb nicht richtig erkennen. Es waren viele, die meisten saßen an den Wänden auf Bänken, die aussahen wie angebaut, und die anderen auf Stühlen an einem riesigen Tisch, der den größten Teil des Raums einnahm. Ich konnte sehen, wie die am hinteren, weit entfernten Ende ich vorbeugten oder zurücklehnten, um uns zu mustern.

Es war merkwürdig mit diesen Leuten. Man hatte das Gefühl, als stammten sie aus allen möglichen Epochen und von allen möglichen Orten, obwohl sie alle gleich gekleidet waren. Einige von ihnen hatte die Art Gesichter, die man auf sehr alten Gemälden sieht. Und es gab zwei Sorten von ihnen. Ich kann nicht beschreiben, woher ich das weiß. Es hatte nichts damit zu tun, auf welchen Plätzen sie saßen oder wie sie aussahen. Ich wußte einfach nur, daß einige von ihnen früher lebendig gewesen waren und einige nie.

Der einzige, der nicht saß, war ein kleiner Mann mit Halbglatze und O-Beinen, der auf Rupert zugelaufen kam und über das ganze Gesicht grinste. Er war so wirklich wie alles andere. Rupert bückte sich und umarmte ihn, und dann küßte er ihn auf beide Wangen wie ein europäischer Politiker. Ich dachte, der kleine Mann müßte Franzose sein oder Russe oder so was. Dann fing er an zu reden, und ich erkannte die heisere Stimme. Er war der Geist aus Ruperts Auto. Selbst dann war ich noch nicht nervös, aber mit Maree wurde es immer schlimmer. Es war sehr warm und still hier oben.

»Ich habe meine Aussage bereits gemacht, Söhnchen«, krächzte der kleine Mann. »Ich bleibe noch, um deine zu verifizieren.«

»Großartig«, sagte Rupert. Ich hatte den Eindruck, er war auch ein wenig nervös. »Ich befürchtete, dich nie mehr wiederzusehen. Du erinnerst dich an Nick und Maree? Dies ist Stan.«

Wir schüttelten uns die Hände, alles ganz normal, nur daß Stan sagte: »Erfreut, euch leibhaftig kennenzulernen, wenn ihr versteht, was ich meine.«

Dann schob Rupert uns mehr oder weniger zum Tisch hin. An unserem Ende saß niemand, und wir hatten Platz, um nebeneinander zu stehen. Trotz der milchigen Schleier konnte ich erkennen, daß der Tisch aus dickem schwarzen Eichenholz gemacht war, und dort, wo wir standen, hatten die Dielenbretter tiefe Mulden, ausgetreten von Leuten vor uns.

Und dann war ich auf einmal nervös. Es waren die vielen Gesichter, die vielen Blicke. Ich konnte spüren, wie Maree bibberte. Stan klopfte mir beruhigend auf den Arm. Ich schaute von oben auf seinen Kopf hinunter, halb kahl, halb lockiges graues Haar, und der Anblick war so normal und alltäglich, daß ich mich besser fühlte. Aber diese Gesichter. Einige von ihnen waren - na ja, wie Koryfos. Selbst die menschlicheren sahen aus wie Richter ohne ihre Perücke im Fernsehen, mit diesen Mündern, die irgendwie nicht lächeln können wie die Münder anderer Leute. Daß man sie hinter den milchigen Schleiern nicht richtig erkennen konnte, machte es noch schlimmer.

Rupert sagte: »Magids und Archonten der Oberen Kammer, als Pate stelle ich hiermit Marina Timosa Euranivai Koryfoides zur Examination vor, für die Aufnahme in der Zirkel der Magids.«

Jetzt begriff ich den Grund für Marees Nervosität. Mir war aufgefallen, daß sie ihre besten Kleider trug, aber ich hatte mir nichts dabei gedacht, weil sie sich ja mit Rupert treffen wollte. Sie wirft sich immer in Schale für ihn. Ich hatte nicht gewußt, daß dies der Tag ihres Examens war.

Jemand ungefähr eine halbe Tischlänge von uns entfernt, ein Mann mit einer nüchternen, geschäftsmäßigen Stimme, fragte sie, ob sie bereit sei, in den Zirkel der Magids aufgenommen zu werden, und sie schob mit dem Zeigefinger die Brille hoch und antwortete kiebig: »So bereit, wie man nur sein kann.«

Dann fingen alle an, ihr Fragen zu stellen, ganz wie bei einer mündlichen Prüfung. Was es für Fragen waren, weiß ich nicht. Ich hörte sie ganz deutlich, aber ich glaube, man hat es so eingerichtet, daß sie in meinem Kopf verschwimmen, wenn ich mich zu erinnern versuche - genau wie ich glaubte, daß es auch mit Babylon passiert wäre. Aber Maree schlug sich gut. Alle stellten Fragen, aber die meisten kamen aus der Mitte der Stuhlreihen zu beiden Seiten des Tisches. Ich nehme an, dort saßen die wichtigen Leute.

Und ich kann auch über den nächsten Teil der Prüfung nichts erzählen, weil Maree droht, sie bringt mich um, wenn ich es tue. Ich weiß, sie könnte es, aber sie sagt, wie man das macht, ist ein Großes Geheimnis. Ich darf nur so viel verraten: Was sie als nächstes tun mußte, war eine Art magisches Ritual, ähnlich wie die Teezeremonie in Japan, und damit hat es sich. Der Grund ist, daß sie in der Mitte gepatzt hat. Sie mußte drei Stufen zurückgehen und von da weitermachen. Trotzdem war ich beeindruckt von dem, was sie tun konnte. Und ich war neidisch. Ich kriege es nicht hin, ein Licht in der Form des Symbols der Unendlichkeit über meinem Kopf schweben zu lassen. Ich hab’s probiert.

Sie bestand aber trotzdem. Einer von den Leuten auf den Bänken kam und reichte ihr ein Gewand, wie sie es alle trugen, und sie zog es an, und gleichzeitig schien sich auch so ein feiner weißer Schleier über sie zu legen wie über die anderen. Das machte mir angst. Sie sah fast aus wie damals, als sie entseelt war. Stan merkte es und klopfte mir wieder auf den Arm. Dann verkündeten sie ihr unter Aufsagung all ihrer Namen, daß sie jetzt ein Magid sei. Sie sah nicht mehr nervös aus, sondern strahlte, ganz weiß und nebulös.

Danach war Rupert an der Reihe, und mittlerweile war er um so nervöser. Sein Gesicht wirkte ganz hager. Einer von denen in der Mitte fragte, ob er einen vollständigen Bericht über Koryfos angefertigt hätte, auch über die Erben von Koryfos und damit in Zusammenhang stehende Belange? Er sagte ja, das habe er. Und er legte einen dicken Stoß Blätter vor sich auf den Tisch. Ich konnte mir nicht verkneifen, auf die erste Seite zu schielen, aber alles, was ich in der diffusen Helligkeit entziffern konnte, war der erste Satz: »Vor ungefähr einem Jahr wurde ich in die Reichshauptstadt Iforion gerufen, um einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen.« Ich denke, er hat das gleiche getan wie ich und später mehr angefügt.

Alle Gesichter wandten sich dem Papierstapel zu. Eine lange, gedankenvolle Pause entstand. Es war ziemlich schrecklich. Rupert zog ein Taschentuch heraus und wischte sich über das Gesicht.

Dann, ganz plötzlich, schienen alle genau zu wissen, was er geschrieben hatte, und fingen an, ihm darüber Fragen zu stellen. Wirklich harte Fragen. Wußte er, daß der Kaiser Timotheo umgehend exekutieren würde? Hatte er es geahnt? Weshalb seine eher desinteressierte Haltung gegenüber dem Imperium und seinen Angelegenheiten? War er vertraut mit der Natur der Göttin im Dornbusch? Hatte er in der Magid-Datenbank nach Informationen über sie gesucht? Und so weiter und so fort.

Jedesmal erklärte Rupert ausführlich, was er getan hatte und warum. Manchmal verteidigte er sich auch, aber nicht halb so gut, wie ich es gekonnt hätte. Ich dachte mir Ausreden aus, die er hätte vorbringen können. Zweimal konnte ich zu seinen Gunsten aussagen. Maree und ich sprangen ihm bei, als gefragt wurde, weshalb er zugelassen hatte, daß wir ihm nach Thule und dann nach Thalangia folgten. Maree wurde beim zweitenmal fuchsteufelswild.

»Wir haben aufgepaßt, daß er nichts merkt«, sagte sie. »Wir sind ihm nur gefolgt, weil Rob verletzt war und uns nicht führen konnte. Verdammt, wie hätten wir sonst hinfinden sollen? Ihr könnt nicht einfach hier sitzen und ihn für etwas beschuldigen, das wir getan haben!«

Ich erwartete, daß man sich ihren Ton verbitten würde, aber sie waren ganz höflich. Jemand ziemlich am Ende des Tisches, den ich nur schemenhaft erkennen konnte, sagte: »Meine Liebe, es besteht kein Grund, sich derart zu echauffieren. Wir beschuldigen den Magid keineswegs. Wir sind lediglich ernsthaft bemüht herauszufinden, wie und warum diese Dinge geschehen sind.«

»Da hätte ich mich ja fast täuschen lassen«, erwiderte Maree spitz. Ein paar von ihnen lachten sogar.

Aber die Befragung ging weiter.

Nach einer Weile merkte ich, weshalb Rupert keine Ausflüchte machte. Jedesmal, wenn er etwas der Wahrheit entsprechend erklärt und aufgeklärt hatte, wurden die entsprechenden Seiten irgendwie aus dem Stapel heraussortiert und waren verschwunden. Zum erstenmal fiel es mir auf, als Stan einige der Ratschläge wiederholte, die er Rupert gegeben hatte. Der Papierstapel war danach ein ganzes Stück kleiner. Doch wenn die Fragesteller nicht zufrieden waren, blieben die Seiten liegen. Manchmal breiteten sie sich sogar am Ende des Tisches in einer Reihe aus. Das geschah, als sie von Rupert wissen wollten, weshalb er die Morde oben auf dem Hügel nicht verhindert hatte. Und mir wurde klar, wenn man diesen Leuten nicht erzählte, was geschehen war und warum, und zwar haargenau, mußte man tagelang dort stehenbleiben - wochenlang, vielleicht -, bis man sich bequemte, es zu tun. Für mich ein Anlaß, mich zu fragen, ob es wirklich so lustig war, Magid zu sein.

Ein zweites Mal breiteten die Blätter sich aus, als Babylon zur Sprache kam. Darüber wollten sie einfach alles wissen. Die ersten Fragen drehten sich, wie nicht anders zu erwarten, um die schwerwiegenden Dinge. Weshalb hatte Rupert alle drei Thronerben von Koryfos nach Babylon geschickt? (Das war mir gar nicht bewußt gewesen!) Und hatte er das Für und Wider einer solchen Aktion gründlich erwogen? Wußte er, wie wenige nur von dort zurückkamen? Hatte ihm die Zeile in der fünften Strophe, in der darauf hingewiesen wurde, nicht zu denken gegeben?

Plötzlich verlor Rupert die Beherrschung. »Nein, ich habe nichts erwogen!« sagte er. Eigentlich brüllte er fast.

»Es war die einzige Möglichkeit, die ich kannte, Maree zurückzubekommen! Mir war zumute, als wäre ich selbst entseelt worden, ist das so schwer zu verstehen?«

Niemand sagte etwas. Die Blätter schoben sich einfach zurück in den Stapel, und man ging zu anderen Fragen über, sachlichen, ins Detail gehenden Fragen. Was sie nicht alles wissen wollten! War der Bausch Ziegenwolle verschwunden? Rupert hatte sich wieder beruhigt und sagte ja, genau wie die Wasserfläschchen und unsere Kleider. Konnte er die Landschaft vielleicht genauer beschreiben? Er sagte nein. Dann fragten sie nach den Enten. Sie waren fasziniert von ihnen. Etwas Ähnliches sei noch nie zuvor geschehen, sagten sie und wußte Rupert eine Erklärung, weshalb die Enten als ausgewachsene Vögel zurückgekehrt waren? Rupert antwortete, er könne es nicht erklären, aber sie wären nicht nur ausgewachsen, sondern auch klug. Enten sind normalerweise ziemlich dumme Vögel, sagte er. Und Maree mischte sich ein und sagte, nach ihrer Meinung wäre den Enten bewußt gewesen, daß es ihnen an Verstand mangelte, und sie hätten sich auf den Weg nach Babylon gemacht, um das zu ändern.

Aber wie hätten sie als Enten ihren Wunsch äußern sollen? wollte irgendwer auf den hinteren Bänken wissen.

Maree antwortete: »Wir haben nicht die geringste Ahnung. Sie waren lange vor uns da, und das kann ich ebensowenig erklären, wie ich einen Grund dafür weiß, weshalb ich für den Rückweg viel länger gebraucht habe als Nick.«

Danach wurde der Stapel wieder ein paar Zentimeter niedriger, aber zögernd, als bedauerten die Leute, nicht mehr erfahren zu können, und sie wandten sich dem letzten Teil zu und informierten sich über Dakros’ Rolle in der ganzen Angelegenheit. Ich hatte nicht gewußt, daß Rupert meinetwegen so besorgt gewesen war. Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich ihm gesagt, daß er sich das sparen könne. Ich komme meistens ganz gut zurecht. Dann war der ganze Stapel Blätter verschwunden, und Rupert sah wieder nervös aus. Eine Dame ziemlich nah an unserem Ende des Tisches wandte sich ihm zu: »Sie wußten nicht, daß Charles Dodgson ein Magid ist? Ich dachte, das wäre allgemein bekannt

Rupert wollte ihr antworten, als ein Mann weiter oben am Tisch ihm winkte und mit erhobener Stimme sagte: »Was die römischen Auguren angeht, haben Sie nicht ganz recht gehabt, müssen Sie wissen. Die meisten waren sture Ignoranten. Ich bin damals Leiter des Vermessungstrupps gewesen, und oft hatte ich erhebliche Schwierigkeiten, die gepriesenen Auguren zu überreden, das Lager auf dem optimalen Nodus aufzuschlagen. An wenigstens drei Punkten haben sie mich gezwungen, einen anderen Platz zu wählen. Das ärgert mich heute noch. Ich möchte, daß Sie wissen, es war nicht meine Schuld.«

Rupert lachte und sagte: »Danke.«

Anschließend entstand eine Pause, angefüllt mit dem Knarren von Holz und dem Rascheln von Gewändern. Dann beugte sich der Mann mit der nüchternen Stimme etwas vor und fragte: »Wie beurteilt Ihr selbst Eure Leistungen bei dieser Mission, Magid?«

»Als miserabel«, antwortete Rupert. »Wo es möglich war, einen Fehler zu machen, habe ich ihn gemacht. Manchmal glaube ich, ich habe neue Fehler erfunden. Und den Tod dieser drei Kinder werde ich mir mein Leben lang nicht verzeihen können.«

Langes Schweigen.

Dann ließ sich der Mann vernehmen, den ich am Ende des Tisches nicht sehen konnte. Er hatte aber eine Stimme, die man nicht vergißt. Er sagte: »Ihr seht Euch in einem allzu schlechten Licht, Magid. Bis heute seid Ihr der jüngste Magid in unseren Reihen gewesen und wir haben Euch ohne Skrupel benutzt, um eine unserer riskanteren und komplexeren Intentionen zum Abschluß zu bringen. Um die Wahrheit zu sagen, wir hatten nicht viel Hoffnung für Euch. Der größte Vorwurf, den wir Euch machen können, ist der, daß Ihr oft zu stolz auf Eure Fähigkeit, kunstvolle Gramaryen zu erschaffen, gewesen seid und Euch darüber entfallen ist, weshalb Ihr sie erschaffen habt. Uns allen ist es zu unserer Zeit nicht anders ergangen; Archont oder Sterblicher, einst kannten wir alle dieses Hochgefühl unserer neuerworbenen Fähigkeiten. Wir hoffen nun, Ihr akzeptiert für ein Jahr einige weniger beschwerliche Aufträge und betrachtet es als eine Gelegenheit, die Erfahrungen dieser Mission zu verarbeiten und daran zu reifen.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Rupert, und man hörte ihm an, daß er es ernst meinte.

Dann war ich an der Reihe. Rupert hatte mir erklärt, daß ich, weil ich kein Magid war, meinen Bericht laut vorlesen mußte. Ich verstehe immer noch nicht so ganz, warum. Offenbar geht es darum, daß die Obere Kammer Wert darauf legt, meine integrale Autonomie zu respektieren. Oder so was. Wie auch immer, all die vielen Gesichter wandten sich mir zu. Ich nahm meine Blätter und wollte anfangen, aber meine Stimme war weg. Was herauskam, war ein Gekrächze schlimmer als das von Stan, und schon dafür mußte ich mich anstrengen. Ich hustete. Mir wurden die Knie weich. Die Ränder der Blätter flatterten wie verstörte Motten.

»Na, na, es wird dich schon keiner fressen, Söhnchen«, meinte Stan.

»Keine Gefahr«, fügte Maree hinzu. »Sie haben sich gerade an Rupert gütlich getan, jetzt sind sie satt und friedlich.«

»Ä-hem!« machte ich. Ich kam mir vor wie ein Idiot. Dann fing ich an zu lesen.

[2]

»Das erste Wegstück war ganz bequem. Wir hätten gut vorankommen können, wäre Maree nicht so schwach gewesen. Sie ging sehr langsam, und ich mußte sie stützen. Man konnte den Weg deutlich sehen. Er war sehr steinig, und sämtliche Steine waren von einer Seite schwach angeleuchtet, wie vom Mond beschienen, aber als ich mich umschaute, war da kein Mond, auch kein anderes Licht, nur grauschwarzer Himmel. Was links und rechts war, konnte man nicht sehen. Aber hören. Ein ständiges Rascheln, manchmal lauter, manchmal leiser, wie totes Gras, über das ein böiger Wind streicht, nur wehte gar kein Wind. Die Luft war still und stickig und warm, so drückend, daß man furchtbar viel schwitzte. Und bei dem Geruch, der vom Boden aufstieg, dachte ich, daß sich da draußen endlose Flächen Torfmoor erstrecken mußten.

Als ich den Weg vom Hotelzimmer aus betrachtet hatte, hatte er ganz gemütlich ausgesehen. Aber das war ein Irrtum; in Wirklichkeit führte er ständig bergauf und bergab. Es war ein hartes Stück Arbeit, Maree dazu zu bringen, daß sie Schritt hielt. Als wir über den ersten großen Hügel hinweg waren und ins Tal hinuntergingen, wurde mir langsam mulmig. Daß man nichts sehen konnte, außer der Straße, die sich immer weiterschlängelte, und dauernd dieses Rascheln ohne Wind - unheimlich. Dann, unten im Tal, war der Weg plötzlich verschwunden, unter großen Steinen und Felsklötzen mit scharfen Kanten und Graten. Ich glaube, es war ein alter Flußlauf. Er führte kein Wasser, aber ich sah das ausgetrocknete Bett, das sich zu beiden Seiten durch das Tal wand, verschüttet von dieser Gerölllawine. Links von uns gab es rechteckige Steinquader und den Rest eines steinernen Bogens, offenbar die Trümmer einer alten Brücke. Etwas - jemand? - hatte sie zerstört. Wir mußten daneben über die Felsen klettern.

Während wir da herumkraxelten, wurde Maree plötzlich sehr aufgeregt und hektisch, und ich wußte nicht, was ich mit ihr machen sollte. Ich vermutete, daß sie es eilig hatte, weiterzukommen, aber genau wußte ich es nicht, und plötzlich war mir alles zuviel, und ich hätte am liebsten geschrien. Sie führte sich auf wie eine Geistesgestörte. Mir kam der Gedanke, daß der Weg vor uns noch an vielen anderen Stellen zerstört sein könnte, und ob vielleicht das, was ihn zerstört hatte, irgendwo auf uns lauerte, und da war nur ich, um Maree zu beschützen, und ich fühlte mich einfach nicht stark genug dazu. Ich hatte noch nie so viel Verantwortung für jemanden gehabt. Und wir beide waren vollkommen allein. Mir war echt zum Heulen zumute.

Aber ich hatte versprochen, Maree nach Babylon zu bringen, also riß ich mich irgendwie zusammen und schleppte sie weiter, und wir schafften es durch das Flußbett und den nächsten Hügel hinauf.

Danach wurde es besser, hauptsächlich, weil Maree wieder Ähnlichkeit mit einem richtigen Menschen bekam. Sie sprach immer noch langsam und leise, aber während es abwechselnd bergauf und bergab ging, sang sie vor sich hin: >Her und hin und hin und her, auf und ab, das ist nicht schwer; linker Hand und rechter Hand, wer will nach Ägypterland?< Und als ich sie fragte, was das zu bedeuten hätte, antwortete sie: >Seilhüpfen. Kennst du das nicht? Ägypterland, da sind wir schon, wir fahren jetzt nach Babylon! < Ich wußte nicht, was das sollte. Dann fragte sie: >Gibt es so etwas wie hier auch in deinem Bristolia?<

Ich sagte: >Es hat Ähnlichkeit mit den Niemandsländern/ Sie sagte: >Erzähl.<

Also erzählte ich während der nächsten Etappe von Bristolia und fühlte mich sehr viel besser, und dann sahen wir, nachdem wir den nächsten Hügel hinaufgestiegen waren, vor uns wieder einen Fluß.

Dieser führte Wasser, ich sah es glitzern. Davon abgesehen war er tiefschwarz. Er war sehr, sehr breit, und danach zu urteilen, wie das Glitzern vorüberjagte, hatte er eine starke Strömung. Eine unglaublich lange Brücke führte hinüber; ihr anderes Ende war nicht zu erkennen. Ich sah den Bogen, schwach angeleuchtet wie die Straße, aufsteigen und in der Ferne verschwimmen. An diesem Ende standen hohe Torpfeiler, je einer links und rechts, nach den Umrissen zu urteilen waren es Skulpturen. Beim Näherkommen konnte ich erkennen, daß sie Geschöpfe mit Flügeln darstellten.

Deutlicher sah ich sie nie, auch nicht, als wir dicht davor standen, denn das Tor und der Aufgang zur Brücke lagen in tiefem Schatten.

Wir hatten gerade den Schattenbereich betreten - es war kalt da drin -, als die Statue links zu sprechen begann. Ich bekam einen solchen Schreck, daß ich einen Moment dachte, ich falle um. Sie hatte eine laute, hohle Stimme, so ähnlich wie das Geräusch, wenn man über die Öffnung einer leeren Milchflasche bläst, und sie sagte: >Halt! Im Namen des Schöpfers der Gestalt!<

Dann sprach auch die rechte Statue und sagte: >Halt! Im Namen des Schöpfers der Macht! <

Erst glaubte ich, daß jede einen Flügel ausbreitete, um den Weg zur Brücke zu versperren, aber als ich richtig hinschaute, war es mehr ein Gitter wie ein ganz feines Spinnennetz. Ich drückte dagegen, und es fühlte sich eiskalt an - und es ließ sich nicht aufstoßen.

Dann kam jemand und musterte uns durch das Gitter hindurch. Auch wenn ich sein Gesicht nicht erkennen konnte, war er ziemlich furchteinflößend. Mit einer scharfen, kalten Stimme fragte er: >Was ist euer Begehr?«

Meine Zähne wollten anfangen, vor Angst zu klappern. Ich biß sie zusammen und antwortete: >Wir sind auf dem Weg nach Babylon.< Und dann trat ich vorsichtshalber ein paar Schritte zurück.

Er sagte: >Ihr könnt nicht nach Babylon gehen, so wie ihr seid. Kehrt um.<

>Nein<, sagte ich. >Ich kann nicht umkehren, wegen Maree. Was brauchen wir denn, damit Sie uns passieren lassen?<

»Ich schwöre, daß er lächelte. Er schien sich zu amüsieren, als er sagte: >Viel weniger, als ihr habt, oder ein Quentchen mehr.<

Also, viel weniger ging nicht, deshalb fragte ich: >Was für ein Quentchen mehr?<

>Kehrt um und stellt denen, die euch geschickt haben, diese Frage.<

>Lieber Gott!< sagte ich. >Bitte, ist es nicht möglich, daß Sie uns einfach so durchlassen?<

>Nein<, antwortete er. >Kehrt um und fragt nach der fehlenden Strophe.<

>Na gut.< Ich war wütend und in Panik, weil ich immer daran denken mußte, wie die Kerzen niederbrannten und Maree ging so furchtbar langsam. >Aber Maree muß hierbleiben, während ich zurücklaufe, sonst brauchen wir die ganze Nacht. Sie werden ihr doch nichts tun, während ich weg bin, oder?<

Es machte ihn zornig, daß ich glaubte, er könne Maree etwas antun - ich spürte es durch das Gitter wie einen kalten Wind. >Kein Leid wird ihr geschehen<, sagte er verächtlich. >Mach dich davon.<

Also brachte ich Maree dazu, sich hinzusetzen, außerhalb des Schattens, weil es da wärmer war, und ich vergeudete eine Menge Zeit damit, ihr einzuhämmern, daß sie da sitzenbleiben sollte und auf mich warten, und ich ließ mir von ihr versprechen, daß sie sich nicht von der Stelle rühren würde. Schließlich sagte sie: >Geh nur. Mach dir keine Sorgen um mich<, als hätte sie wirklich alles richtig verstanden.

Dann machte ich mich auf den Rückweg. Dieser Teil, der Rückweg, das war schrecklich. Ich war ganz allein, und ich wurde die Angst nicht los, Maree könnte verschwunden sein, wenn ich wiederkam, und ich sah immer die Kerzen vor mir, wie sie Stück um Stück weiter herunterbrannten. Und wenn ich nun das Hotelzimmer nicht fand und wer weiß wo landete ... Ich lief, so schnell ich konnte, aber in dem ausgetrockneten Flußbett knickte ich mir den Fuß um und mußte langsamer machen. Einerseits erschien mir der Weg endlos, und doch brauchte ich gar nicht lange, um wieder dort zu sein, von wo ich aufgebrochen war. Nach ein paar Minuten schon bemerkte ich auf der Kuppe des Hügels vor mir einen hellen, flackernden Lichtschein, und am Fuß des Hanges angekommen, sah ich, daß das Licht von zwei brennenden Kerzen stammte. Von da unten wirkten sie erstaunlich groß.

Ich keuchte den Hang hinauf, und oben stand ich wieder in Ruperts Hotelzimmer.

Er und Will waren ziemlich bestürzt, mich zu sehen. Ich merkte Rupert an, daß er dachte, wir wären schon in Babylon gewesen und Maree wäre nicht mit zurückgekommen. Also erzählte ich ihnen, daß man uns nicht über die Brücke lassen wollte ohne ein Quentchen mehr. Rupert ging regelrecht in die Knie vor Erleichterung, daß es nichts Schlimmeres war.

Er will, daß ich erzähle, was passiert ist, während er Zinka holen ging.

Zuerst nicht viel. Ich ging zu der dreieckigen freien Stelle neben dem Bett, weil ich mich hinsetzen wollte, aber vor Ungeduld lief ich nur auf und ab und spielte mit den leeren Fläschchen auf dem Kühlschrank und so weiter. Rob stützte sich auf einen Ellenbogen und beobachtete mich besorgt. Will sagte, setz dich, du machst die Enten verrückt, aber ich konnte nicht. Deshalb fingen die kleinen Viecher an herumzulaufen und zu piepsen, und ich glaube, Rob wurde von der Unruhe angesteckt, weil er sich aufrichtete und die Hufe zu Boden gleiten ließ und wissen wollte, wie es da draußen sei.

Rob ist jemand, mit dem ich reden kann. Es gibt nicht viele Menschen, von Maree abgesehen, denen ich wirklich etwas erzählen kann, aber Rob wird immer dazugehören. Seit das alles passiert ist, bin ich ziemlich oft drüben bei ihm gewesen, und wir haben echt über alles mögliche gequatscht. (Rob möchte nach Bristol kommen, um mich zu besuchen, aber wir wissen, er würde einen ziemlichen Aufruhr verursachen.) Diesmal erzählte ich ihm einiges von dem, was ich hier aufgeschrieben habe, und am meisten von der Kletterei zwischen den Felsen im Flußbett, weil das am furchtbarsten gewesen war. Ich wußte, Will dachte nur bei sich: >Oha, scheint ziemlich hart da draußen zu sein<, aber Rob verstand, was für ein Gefühl es war, ganz allein zu sein mit Maree, die sich benahm, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf, und ohne daß man sehen konnte, wo man sich überhaupt befand.

Mit einem Satz war er aus dem Bett.

Er sagte: >Autsch!<, weil seine Wunde schmerzte und tänzelte und schnitt Grimassen. Sein Gesicht wurde ganz weiß. Dann nahm er sein Hemd und zog es an.

Will fragte: >Was zum Teufel hast du vor?<

Und Rob antwortete: >Ich mache mich fertig, um Nick nach Babylon zu begleiten. Sie brauche meine Hilfe.< >Red kein dummes Zeug!< sagte Will. >Deine ganze Seite ist gerade erst zusammengeflickt worden. Der Weg ist rauh, die Wunde wird aufbrechen. Und es drohen auch noch andere Gefahrene Rob warf stolz den Kopf in den Nacken, daß die Haare flogen, und sagte: >Was schert mich die Gefahr! < Er sagte, er wäre es Maree schuldig, sie hätte ihn verarztet, und er hätte sie zum Dank in eine Falle gelockt. Und Will darauf, ziemlich höhnisch, fand ich, o ja, Rob wäre vom Wurm zum Helden mutiert, und warum hörte er nicht auf, den starken Mann zu spielen, und legte sich wieder hin? Und Rob brüllte: >Ich spiele nicht! < Und danach schrien sie sich gegenseitig an, und die kleinen Enten bekamen Angst.

Ich hielt mich raus. Ich wollte, daß Rob mitkam. Bei der Aussicht, Gesellschaft zu haben, wurde mir viel leichter ums Herz, vorausgesetzt, Rob hielt durch. Seine Wunde schien ihn fast gar nicht mehr zu behindern, während er herumstampfte und schrie. Mittendrin wirbelte er zu mir herum und fragte, ob ich ein Stück Bindfaden hätte. Ich fand ein Gummiband in meiner Hosentasche. Rob nahm es und bündelte sein Haar am Hinterkopf zusammen. Für einen Moment sah es genauso aus wie eine Pferdemähne, dann riß das Gummi und das Haar fiel ihm wieder ins Gesicht. Grimmig zwirbelte er das zerrissene Gummiband zwischen den Fingern. >Kentauren binden sich das Haar zurück, wenn sie in den Kampf ziehen<, sagte er.

Will lachte. Darüber wurde Rob so wütend, daß er sich abwandte und wieder ins Bett legte. Ich fühlte mich echt deprimiert und hatte Lust, Will eins auf die Nase zu geben - nur ist er leider viel größer und stärker als ich -, als Will plötzlich merkte, daß die Tür aufgegangen war und die Küken sich davongemacht hatten. Er lief hinterher, fluchte wie ein Droschkenkutscher und brüllte mir zu, daß ich kommen sollte und ihm helfen. Also stieg ich über die Kerzen weg und ging nach draußen in den Flur.

Die Küken waren total verängstigt, sie trippelten hierhin und dorthin, und mir kam es vor, als wären es mindestens zwanzig und nicht nur die zwei. Sie liefen weg, und ich lief hinterher, in dieser idiotischen Haltung, vornübergebeugt und mit ausgebreiteten Armen wie ein Pavian, und ich sah nichts, außer diesen kleinen Viechern, und rannte - Tilt! - genau in Gram White hinein. Ich schaute hoch und sah, daß Mum bei ihm war.

Ich weiß noch, wie ich dachte, ich wünschte, sie würde nicht mit ihm herumziehen. Sie waren kein schönes Paar.

Mum sagte: >Da bist du ja endlich, Nick. Ich möchte, daß du jetzt mit uns kommst.<

Ich scheuchte eines der Küken um die halboffene Tür herum zurück ins Zimmer und sagte: >Okay.< Dabei versuchte ich, Will unter meinem Arm hindurch einen Blick zuzuwerfen, daß ich gleich wiederkäme, aber gut möglich, daß er es nicht bemerkt hat. Er war vollauf mit der Entenjagd beschäftigt. Dann ging ich mit Mum und Gram White den Flur hinunter zu den Aufzügen.

Die Sache ist so: Nachdem Maree mit ihren Eltern von damals nach London gezogen war, hatte ich keinen Freund mehr und mußte eine Methode finden, mit Mum auszukommen. Ich weiß, das hört sich gefühllos an, aber es ging nicht anders. Die erste Zeit machte ich mir jede Menge Gewissensbisse, aber dann setzte ich mich hin und arbeitete ganz nüchtern einen Plan aus. Schon in der ersten Woche, nachdem Maree weggegangen war, wurde mir bewußt, daß ich nie ich selbst sein würde, wenn ich mich nicht wehrte. Mum wollte, daß ich nur mit ihr etwas unternahm - nicht, was mir Spaß gemacht hätte, sondern nur, was ihr Spaß machte - und daß ich ihr alles erzählte, was mir durch den Kopf ging. Und sie durchsuchte meine Taschen und las meine Computerdateien und meine sämtlichen Schulhefte. Dazu kommt, daß Mum es genießt, wenn man versucht, mit ihr zu streiten. Maree hat das immer falsch gemacht, sich von ihr provozieren zu lassen. Es ist für Mum ein innerer Vorbeimarsch, wenn sie jemanden fertigmachen kann, aber sie langweilt sich - nein, ich meine war und langweilte, ich vergesse immer, daß sie ja tot ist -, also sie langweilte sich, wenn man zu allem ja und amen sagte, und erst recht, wenn man ihr lang und breit von irgendwelchen Sachen erzählte, die für sie keine Bedeutung hatten.

Meine allererste nüchterne Erkenntnis war: Mum ist nicht interessiert an mir, sie will mich nur beherrschen. Deshalb erfand ich Bristolia. Sie wollte bald nichts mehr davon wissen, obwohl ich immer mehr Spaß daran fand. Verrückt, eigentlich. Es hatte nur eine Tarnung sein sollen, um von anderen Sachen abzulenken, mit denen ich mich beschäftigen wollte. Ich packte meinen Computer voll mit Bristolia, und sehr bald hörte sie auf, darin herumzuschnüffeln. Dann entwickelte ich eine Strategie, um nicht mit ihr zu streiten. Ich sagte einfach nur Okay, wenn sie etwas von mir wollte, und wartete in aller Ruhe, bis sie mich nicht mehr wahrnahm, und dann verdrückte ich mich. Sie machte sich fast nie die Mühe nachzusehen, was ich tat. Es interessierte sie null.

Auch an dem Abend wollte ich mich an meine Strategie halten, nur marschierten sie links und rechts neben mir her wie Polizisten, und die Kerzen brannten, und Maree wartete da draußen, und ich hatte immer noch Angst, daß sie weglief und sich verirrte. Also dachte ich, es wäre gut, den Prozeß zu beschleunigen. Ich fragte: >Weshalb sollte ich denn mitkommen?<

Ich hoffe nicht, daß Gram White mir deshalb später gefolgt ist; ihm könnte aufgefallen sein, daß es ungewöhnlich für mich war zu fragen. Normalerweise wartete ich geduldig darauf, daß Mum ihre Wünsche äußerte, nachdem sie mich gefunden hatte. Rupert denkt, Gram hätte es in Wirklichkeit auf Rob abgesehen gehabt. Möglich. Nach dem Tumult und den Blutspuren, die Rob im ganzen Hotel hinterlassen hat, wußte jeder, daß sich ein Kentaur im Haus befand, auch wenn die meisten scheinbar glaubten, ich wäre es, in einem besonders tollen Kostüm.

Ich merkte, daß Mum keine speziellen Wünsche hatte, sie wollte mich nur im Auge behalten. Gram White sagte: >Wir möchten nicht, daß du dich mit den Leuten in diesem Zimmer herumtreibst. Sie sind kein guter Umgang.< Ich sagte, sie wären harmlos, aber ziemlich langweilig. Dann gähnte ich ein paarmal.

Mum sagte: >Geh zu Bett, mein Schatz, du hast Schlaf nachzuholen. Gestern bist du viel zu lange aufgeblieben.< Na bestens. Ich versprach ihnen brav, ich würde mich ins Bett legen (und das habe ich zu guter Letzt ja auch getan, oder nicht?) und trottete davon. Es fiel mir nicht besonders schwer, müde auszusehen nach dem anstrengenden Hinmarsch mit Maree im Schlepptau und der Lauferei zurück. Sie blieben stehen und schauten mir nach. Ich mußte um sämtliche - sieben - Ecken der oberen Etage biegen. Sobald sie mich nicht mehr sehen konnten, fing ich an zu laufen, aber trotzdem kam ich nur eine Minute, bevor sie Rob ohne mich losgeschickt hätten, zurück in Ruperts Zimmer. Rupert sagt, ich muß einen ziemlich starken Hörigkeitsbann durchbrochen haben, um überhaupt wiederzukommen, aber ich habe nichts davon gemerkt. Vielleicht war ich daran gewöhnt, mich Dingen zu entziehen, die man mir aufzwingen will.

Ich erschrak furchtbar, als Gram White plötzlich um die Ecke kam und auf Rob feuerte. Rob auch. Keiner von uns beiden hatte je so etwas erlebt. Wir konnten nicht schnell genug unsere Vorbereitungen beenden - jeder bekam eine Handvoll Getreide und eine brennende Kerze -, dann gingen wir sofort los. Ich wußte, daß die Zimmertür hinter uns offenstand, und jeden Moment rechnete ich damit, daß Gram White wieder auftauchte und schoß. Erst unten, am Fuß des Abhangs, wurde mir wohler.

Die brennenden Kerzen machten einen großen Unterschied, denn jetzt war der Weg viel deutlicher zu erkennen, sogar schemenhaft zitterndes Gras zu beiden Seiten. Und egal, wie schnell wir gingen, die Kerzen flackerten nicht, weil auch unsere Bewegungen in der bleiernen Schwüle keinen Luftzug verursachten. Rob war in einen schnellen Schritt gefallen, und ich trabte nebenher. Im Nu hatten wir das trockene Flußbett durchquert und sahen vor uns schon die Brücke, wo man Maree und mich abgewiesen hatte. Als ich Rob fragte, meinte er, auch ihm wäre der Weg nicht lang vorgekommen. Er lahmte etwas, aber nicht schlimm. Nur die Stiche ziepten, meinte er.

Als wir uns der Brücke näherten, veranstaltete mein Herz merkwürdige Bocksprünge, weil ich Maree nicht entdecken konnte. Aber sie war da. Sie stand in dem schwarzen Schatten am Tor, hatte die Finger in das Gitter gehakt und redete mit dem Wächter auf der anderen Seite.

>Die Frustration ist das Schlimmste hörte ich sie sagen. >In letzter Zeit ist einfach alles schiefgegangen!< Dann hörte sie Robs Huf schlag und drehte sich langsam um, als könnte sie es nicht glauben. >Rob!< sagte sie. >Und Kerzen! So weit die kleine Kerze Schimmer wirft, so scheint die gute Tat in arger Welt... Sind sie wichtig?< Von da an redete sie fast normal, nur daß alles, was sie sagte, sich irgendwie spinnert anhörte.

>Kerzen, Wasser und eine Handvoll Getreide vermischt mit Salz<, zählte Rob auf.

>Und Luft?<

>Unser eigener Atem.< Als geschulter Magier begriff Rob wahrscheinlich besser als ich, was Maree im Sinn hatte.

Bevor sie sich ihre Kerze und ihre Handvoll Getreide geben ließ, bestand sie darauf, Robs Flanke zu untersuchen. Sie sagte, daß er sie hoffentlich unterwegs nicht zu stark belasten mußte. Schließlich brachten wir sie dazu, ein Fläschchen Wasser in ihre Jackentasche zu stecken - ich tat das gleiche - und die Kerze und das Korn zu nehmen. Es sah unheimlich aus, als wir ihre Kerze anzündeten. Sie wurde noch blasser, ihre Kleider und ihre Haut, und verströmte ein schwaches Leuchten, als ob die Kerze sie von innen anstrahlte, statt von außen.

Als wir den Blick von Maree abwendeten, versperrte kein Gitter mehr die Brücke, und kein Wächter stand da. Auch die beiden Statuen waren verschwunden. Wir schauten uns schulterzuckend an und setzten unseren Weg fort. Robs Hufe verursachten auf der Brücke fast kein Geräusch. Überhaupt war es totenstill, sogar der breite, reißende Fluß unter uns strömte vollkommen lautlos dahin. Die Brücke war so breit wie eine Hauptstraße und alles schien in bester Ordnung zu sein, bis wir den Scheitelpunkt des Bogens erreicht hatten und auf der anderen Seite hinuntergingen.

Dann wurde es richtig wild.

Die Brücke schien zunächst nur vorhanden zu sein, so weit der Kerzenschein reichte, und so blieb es auch den Rest des Wegs. Nach einer Weile kam es uns normal vor, daß wir unseren eigenen kleinen, begrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit mit uns führten, es war eben so; aber anfangs, bevor wir uns daran gewöhnt hatten, fanden wir es gar nicht komisch. Man schaute nach vorn und sah schwarzes Nichts hinter ein paar Metern fester Straße. Besser, man hielt den Blick innerhalb des Lichtkreises, aber man durfte auch nicht genau nach unten schauen. Die Kerzen breiteten einen Ring aus Schatten rund um die Füße, und der Schatten war ebenfalls schwarzes Nichts. Am unheimlichsten war es unter Robs Körper, er schien sich auf einem Rechteck aus Nichts zu bewegen. Als er es merkte, spreizte er entsetzt alle vier Hufe und erstarrte, nur sein Schweif peitschte aufgeregt hin und her. Maree und mir ging es auch nicht besser.

>Wir - wir müssen weitergehen, sagte Rob schließlich. Wer nicht losgeht, kommt nicht ans Ziel<, sagte Maree.

Also setzten wir uns in Bewegung, aber mit weichen Knien, und bei jedem Schritt hatten wir Angst, ins Leere zu treten und in die Tiefe zu stürzen.

Und als wäre das nicht genug, hatte man selbst dort, wo man im Kerzenlicht den Boden erkennen konnte, das Gefühl, als ob darunter die grenzenlose Leere darauf wartete, daß wir hinunterstürzten. Sie war lebendig. Ich kann es nicht beschreiben. Ich fühlte nur, daß sie schwarz war und wie ein Rachen voller spitzer, scharfer Zähne - schlimmer als jeder von Dads Dämonen. Wir alle wußten, daß sie lebte. Wir hörten, wie sie sich regte, und fühlten ihren kalten Atem aus der Tiefe heraufwehen. Sie wanderte unter unseren Füßen mit.

Rob sagte zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, während er sich mit steifen Beinen zentimeterweise vorwärtstastete: >Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben solche Angst gehabt.<

>Prima<, sagte Maree. >Du nimmst mir das Wort aus dem Mund.<

Dann wurde es noch schrecklicher, denn je näher wir dem anderen Ufer kamen, desto schadhafter wurde die Brücke. Sie bestand nur noch aus Bruchstücken, flachen Platten wie Eisschollen, und zwischen den Schollen wartete die Leere auf uns. Die jeweils nächste Scholle sahen wir erst, wenn der Lichtschein unserer Kerzen sie erreichte. An manchen Stellen war es schlimmer für Maree und mich, zum Beispiel, wenn der Abstand von einer Scholle zur nächsten besonders groß war und wir hatten beide Hände voll und konnten uns nicht aneinander festhalten oder uns stützen. Man schloß mehr oder weniger die Augen, machte einen großen Schritt und hoffte das Beste. Rob hatte Schwierigkeiten, wenn die Platten klein waren und die Abstände unregelmäßig. Er mußte sozusagen auf Zehenspitzen gehen und genau überlegen, wohin er die Hufe setzte. Ein- oder zweimal rollte er wild mit den Augen, und ich hatte Angst, daß er in Panik geriet, doch wir arbeiteten uns voran, Stück um Stück, und nach endlosen Meilen - so kam es uns vor - sahen wir die beiden Pfeiler am Ende der Brücke. Wir stürmten zwischen ihnen hindurch und atmeten auf, als wir wieder festen Boden unter uns spürten.

Es wurde aber nicht besser, nur anders.

Der Weg, den wir mit unseren Kerzen beleuchteten, wurde hier zu einem Pfad, halb überwachsen von Stechginster und wilden Brombeeren oder irgendwelchen anderen Büschen mit Ranken und Dornen, und einige davon waren sogar größer als Rob. Die Dornen waren gemein. Rob hatte einiges auszustehen, denn er konnte sich nicht seitlich dazwischen hindurchschieben wie Maree und ich. Durch die Lücken zwischen den Büschen fuhr nun ein heftiger Wind. Die Kerzenflammen wurden fast waagerecht zur Seite geweht, trotzdem verloschen sie nicht, und nach einige Zeit bemühten wir uns nicht mehr, die Flammen abzuschirmen; es war ohnehin sehr mühselig zu bewerkstelligen mit einer um Getreidekörner zur Faust geballten Hand. Davon abgesehen, wir brauchten diese Faust, um die dornigen Ranken beiseite zu schieben.

Ich kann mich nicht erinnern, wann unsere Kleider verschwanden, aber an irgendeinem Punkt waren sie weg, Schuhe und alles andere. Zuerst fühlte ich nur schneidende Kälte, dann ratschte ein widerlicher Dornenzweig quer über meinen Bauch, und ich merkte, ich war splitterfasernackt. Auch Maree, die vor mir ging, war nackt und schien noch stärker von innen heraus zu leuchten als vorher, und als ich über die Schulter blickte, sah ich, daß Rob sein Hemd verloren hatte. Maree sang vor sich hin: >Das ist ja so peinlich, das ist ja so peinlich!<, aber ich fand, barfuß zu sein war schlimmer. Die Steine auf dem Pfad waren schärfer und spitzer als die Dornen, und abgestorbene Dornenzweige lagen auch noch dazwischen. Es war so schrecklich, daß ich am liebsten kehrtgemacht hätte, aber ich erinnerte mich an die Brücke.

Nach einer Ewigkeit führte der Pfad durch eine Art Lichtung in den Büschen, wo der Wind noch heftiger tobte, und da, nur ein kleines Stück vor uns, war etwas Helles, das sich bewegte, huschte und flatterte. Wir sahen es alle gleichzeitig. Ich schrie auf. Maree blieb stehen. Rob fragte zähneklappernd: >Was ist das?< Es sah gespenstisch aus.

>Sieht aus, als wäre die große Wäsche gekommen, um uns zu ermorden!< sagte Maree. >Oh!< Und dann lief sie auf die Gespenster zu und rief: >Wunder über Wunder!<

>Was ist es denn nun?< Rob zitterte am ganzen Leib.

>Nachtmahre, böse Geister, Hexenspuk! < rief Maree zurück. >Kommt schon, ihr Feiglinge, es sind Kleider!<

Wir folgten ihr, und - na ja, ich weiß, wir waren nicht in der normalen Welt, aber trotzdem konnte ich es fast nicht glauben - die Kleider, die an den Büschen hingen, waren Marees alter Rock und Pullover und meine Jeans und das Sweatshirt, die ich ihr für die Kleiderkammer mitgegeben hatte. Das gibt einem zu denken. Auf dem

Boden standen eine ganze Menge alte Schuhe. Keiner von uns hatte Zeit oder Lust, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie hergekommen waren. Wir steckten die Kerzen in den Boden und wurstelten uns einhändig in die Sachen hinein. Ich suchte mir die größten Turnschuhe heraus und versuchte mit einem scharfen Stein in die Spitzen ein Loch zu schneiden. Das war ein solches Gewürge, daß ich beschloß, mir sämtliche Reime und Zaubersprüche schnuppe sein zu lassen. Ich stopfte die Körner in die Hosentasche, damit ich beide Hände für die Schuhe frei hatte. Da erst fiel mir auf, daß mit meinen Kleidern auch das Wasserfläschchen verschwunden war. Ich schaute mich um, weil ich es Rob sagen wollte, und sah ihn frierend dastehen, die Arme um den Oberkörper geschlungen und keine Kleider für ihn in den Büschen. >Hast du nie alte Kleider weitervererbt?< fragte Maree. >Nein.< Er fröstelte. >Knarros hat uns jedes Stück tragen lassen, bis es auseinanderfiel.<

>Hast du wenigstens deine Gürteltasche noch?< erkundigte ich mich. >Oder vielmehr Wills Gürteltasche.<

Ich wollte hinzufügen, wenn nicht, dann hätten wir all unser Wasser verloren, doch er schaute mich an, als hätte ich soeben den Geistesblitz des Jahrhunderts gehabt. >Aber natürlich! Danke! < Er machte die Tasche auf, ließ seine Handvoll Getreide hineinrieseln und nahm den Bausch Ziegenwolle heraus. Dann gab er mir seine wild flackernde Kerze zum Halten und nahm sich einen Teil von der Wolle, den er anschließend sorgsam immer mehr auseinanderzupfte. Das Stück wuchs und wuchs, und bald war es so groß, daß der Wind es packte und hin- und herwehte, aber Rob klemmte die Ecken fest und zupfte weiter.

>Aha, eine Pferdedecke!< sagte Maree.

Zum Schluß war es sogar größer als eine Pferdedecke, ein leichtes, flauschiges Gespinst wie Mohair. Rob knotete sich die Zipfel um den Hals, und Marees Anweisungen folgend, zog ich es über seinen Rücken bis zum Schweif. Dort blieb es haften. Ich war begeistert

von der Idee, nahm die Hälfte von dem Rest der Wolle und zupfte daraus eine Art Schal. Maree behauptete, ihr wäre nicht kalt, doch als ich ihre Haut anfühlte, war sie eisig. Deshalb machte ich für sie ebenfalls einen Schal. Jeder wickelte sich seinen um, dann gingen wir weiter. Ich fühlte mich erheblich besser, aber Rob und Maree bewegten sich, als würden ihnen die Beine immer schwerer.

Der Dornenpfad nahm kein Ende. Ich glaube, es ging die ganze Zeit bergauf, aber das ist schwer zu beurteilen, wenn man nichts weiter sehen kann als den kleinen Lichtkreis, in dem man sich bewegt. Doch als wir die Dornen endlich hinter uns hatten, wurde der Weg richtig steil und führte über nackten Fels, verwittert zu spitzen Zacken, Graten und Kanten, wie ein Hügel aus Messern. Zu meiner Überraschung hatte Rob keine Mühe, hinaufzusteigen. Er meinte, es gäbe reichlich Halt. Maree war diejenige, die sich quälen mußte. Schließlich blieb Rob stehen und sagte, auf diese Weise kämen wir nie bis nach oben, und Maree sollte lieber auf seinen Rücken steigen.

>Aber das wird weh tun!< sagten wir beide.

Rob wußte, daß es weh tun würde. Er antwortete so gereizt, wie man es tut, wenn man weiß, daß einem etwas Unangenehmes bevorsteht, und man will es hinter sich bringen: >Hilf ihr aufzusteigen und keine Diskussion! <

Er hielt alle drei Kerzen, während ich Maree auf seinen Rücken stemmte. Ein Glück, daß sie nur noch die Hälfte wog, sonst hätte ich es nie geschafft. Und Rob hatte tatsächlich Schmerzen auszustehen. Er stampfte mit den Hufen und zuckte und wurde immer gereizter. Maree legte sich flach auf seinen Rücken, weil es für ihn so am wenigsten unangenehm zu sein schien. Während ich beide Hände frei hatte, zog ich das letzte Wasserfläschchen aus Robs Gürteltasche und nahm es an mich. Später war ich froh, daß ich es getan hatte.

Dann setzten wir unsere Marsch fort, bis Rob plötzlich einen Schrei ausstieß und abrupt stehenblieb. Im ersten Moment dachte ich, seine Wunde wäre aufgebrochen, aber er hatte etwas gesehen, das ihn erschreckte. Auf seiner von mir abgewandten Seite standen drei Kinder am Rand des Lichtkreises. Außer ihren spitzen weißen Gesichtern konnte ich nicht viel von ihnen sehen. Sie standen einfach da und schauten, zwei Jungen, einer vielleicht so alt wie ich, der andere jünger, und ein kleines Mädchen. Sie taten nichts, aber Rob geriet in eine heftige Erregung.

>O bitte, bitte nicht! < sagte er. >Wir haben uns doch immer gut vertragen! <

Wir alle schauten auf die Kinder, als die Vögel sich aus dem Dunkel auf uns stürzten. Man stellt sich nicht vor, wie furchteinflößend das ist - große Vögel, die einem aus dem Nichts kommend um den Kopf fliegen und flattern. Es waren schwarze Vögel und weiße. Erst stießen sie auf uns nieder. Wir schrien und schlugen nach ihnen, deshalb ließen sie uns in Frieden und pickten nach den drei Kindern. Die drei schienen nicht zu wissen, was sie dagegen tun sollten.

Maree rief: >Schnell, schnell! Die Körner, die Körner! < Und sie beugte sich von Rob hinunter und streute etwas von ihrer Handvoll Getreide vor die Füße der Kinder.

Die Vögel machten sich sofort darüber her und stritten um jedes Korn, als stünden sie tatsächlich kurz vor dem Verhungern.

Ich wühlte in der Hosentasche nach meiner Ration, als Rob die Plastiktüte mit der Reserve aus der Tasche nahm und vor sich auf den Boden ausleerte. Die Vögel stürzten sich auch darauf. Die schwarzen - im Licht der Kerzen sah man, daß sie eigentlich braungefleckt waren - warfen die Körner beiseite und pickten das Salz, aber die weißen verschlangen die Körner.

>Lauft weg, jetzt, während sie beschäftigt sind!< forderte Maree die Kinder auf. Alle drei schauten sie verständnislos an, aber nach kurzem Zögern wichen sie in die Dunkelheit zurück. Sie schienen überhaupt nicht zu begreifen, was los war.

Wir gingen weiter, bevor die Vögel sich an uns erinnerten. Maree sagte: Eigentlich müßten wir bleiben und den armen Kindern helfen!<

Rob schüttelte den Kopf. >Wir können nichts für sie tun.< Es klang so jämmerlich, daß Maree schwieg.

Danach folgte eine mühsame Kletterpartie, die Jahre zu dauern schien. Der Wind hatte etwas nachgelassen, aber er wehte immer noch in kalten, plötzlichen Böen. Keiner von uns geriet ms Schwitzen. Endlich gelangten wir auf eine Art Plateau, und einen herrlichen Moment lang dachten wir, wir hätten es geschafft. Ringsum erhoben sich Ruinen von Gebäuden, oder wenigstens sah es so aus. Dann hielt Rob seine Kerze an die uns am nächsten befindliche Ruine, und wir sahen im Lichtschein, daß es eine Art Pfeiler aus tiefschwarzem Gestein war. Der Weg führte in die Tiefe, bis er nur noch so breit war wie ein Kaninchenpfad, und schlängelte sich hierhin und dorthin zwischen Hunderten dieser Pfeiler hindurch. Einige davon waren klein - kniehoch -, und andere ragten auf wie Kirchtürme, und jeder hatte eine andere skurrile Form. Immer wieder sah es so aus, als ginge es nicht mehr weiter, und wir dachten, wir wären endlich am Ziel, doch jedesmal schimmerte im Licht einer unserer Kerzen ein weiteres Stück Weg hell zwischen den schwarzen Felszacken.

Rob hatte Mühe, sich hindurchzuzwängen. Maree stieg ab, damit es leichter für ihn war. Sie behauptete, sie hätte sich ausgeruht, aber ich fand, sie sah ziemlich elend aus. Trotzdem marschierte sie vorweg und hielt die Kerze hoch erhoben, der Schein der vom Wind hin- und hergerissenen Flamme zeigte uns zu beiden Seiten immer neue Pfeiler. Der Wind verursachte sonderbare Geräusche zwischen den Felsen. Dachten wir anfangs, aber dann wurden die Geräusche eindeutig zu Stimmen.

Hauptsächlich war es ein Raunen und Flüstern. Das war gruselig genug. Manches hörte sich nach einer fremden Sprache an, aber mich traf fast der Schlag, als dicht an meinem Ohr jemand sagte: >Du entkommst mir nicht. Ich warte nach der Schule draußen auf dich.< Es klang wie eine ernstgemeinte Drohung, aber da war niemand.

Wir alle hörten Stimmen, aber wir hörten nicht dieselben. Was immer sie zu Rob sagten, er versuchte, sich die Ohren zuzuhalten. Kerzenwachs tropfte in sein Haar, und manchmal zischelte es, aber ganz offensichtlich war ihm das lieber, als sich anhören zu müssen, was ihm die Stimmen erzählten. Maree liefen beim Gehen Tränen unter der Brille hervor. Ich selbst wurde nach dem ersten Schreck immer wütender. Da war eine Stimme, die in gelangweiltem Ton ständig wiederholte: >Kein Grund zur Sorge. Ist schon so gut wie erledigt!< Das ging mir echt auf den Keks. Das Schlimme war, sie hörte sich an wie meine eigene Stimme. Ein- oder zweimal konnte ich einfach nicht anders, und ich schrie zurück: >Verdammt, halt die Klappe! Manchmal sage ich auch was Nettes!< Aber sie wollte nicht schweigen. Endlich hatte ich es dermaßen satt, daß ich Rob anbrüllte, ich wüßte gern, was die Stimmen ihm erzählten.

Er drehte sich um, als wäre ich sein Retter in der Not, und schrie zurück, sie drohten ihm, seine Schönheit wäre futsch, wenn er weiterginge. >Sie sagen, ich brauche mich nur durch den nächsten Spalt an dieser Seite schieben, und ich wäre zu Hause<, erklärte er. Wenigstens glaubte ich, das zu verstehen, aber meine Stimmen übertönten ihn und zerschwätzten jedes andere Geräusch.

Und es ging weiter, das reinste Irrenhaus, bis wir uns zwischen den beiden letzten Felspfeilern hindurchzwängten und die Stimmen und der Wind verstummten wie abgeschnitten.

Das nächste Stück Weg war lang, gerade und eben. Rob und Maree wurden wieder putzmunter, gingen nebeneinander her und redeten. Kaum zu glauben, aber Rob wußte nicht, was er sich in Babylon wünschen sollte.

Er sagte, Will hätte ihm klargemacht, daß er dringend um etwas bitten müßte, aber er könnte sich einfach nicht vorstellen, was. Er erzählte Maree einige von den Dingen, die Will ihm an den Kopf geworfen hatte.

Während sie sich unterhielten, wurde mir immer beklommener zumute. Es schlug mir aufs Gemüt, daß vor uns und hinter uns nur Dunkelheit war und an beiden Seiten auch. Besonders an beiden Seiten. Ich fühlte mich wie auf Messers Schneide mitten im Nichts, dem kalten, hungrigen Nichts mit scharfen Zacken darin, das uns unter der Brücke begleitet hatte. Während Maree zu Rob sagte: >Das hört sich an, als solltest du um eine neue Seele bitten<, hatte ich nichts Besseres zu tun, als zum Rand des Weges zu gehen und die Hand mit der Kerze auszustrecken, um zu sehen, was es dort gab.

Nichts. Da war nichts, absolut nichts. Nur ein bodenloser Abgrund. Wie ein Idiot rannte ich zur anderen Seite. Genau das gleiche. Noch ein Abgrund. Wir spazierten tatsächlich über einen Steg mitten im Nichts.

Ich hörte kein Wort mehr von dem, was Rob und Maree redeten. Sie gingen unbekümmert weiter und diskutierten über Robs Seele. Ich tappte hinter ihnen her, wagte kaum die Füße zu heben, und das kalte Grauen schüttelte mich wie die Katze die Maus. Ich hatte solche Angst, daß ich am liebsten auf Händen und Knien weitergekrochen wäre - auf dem Rückweg tat ich es -, aber ich wollte mich nicht vor den beiden anderen blamieren, denen das alles gar nichts auszumachen schien. Ich fühlte mich erst wieder besser, als wir die hängenden Gärten erreichten.

Der Name fiel uns spontan ein, und er paßte, aber das Ganze war etwas anders, als man es sich vorstellt. Am Anfang merkten wir nur, daß wir jetzt über einen federnden, höckerigen Untergrund gingen, der einen zitronigen Duft verströmte und unter unseren Füßen ein wenig zu schwanken schien.

Maree sagte: >Zitronenverbenen! Wunderbar!<

Der Weg führte ziemlich steil bergauf, und der Boden schwankte immer stärker, je weiter wir gingen, und bald fiel der Schein unserer Kerzen auf einen Turm, halb unter wuchernden Pflanzen begraben. Er sah aus wie der Turm aus einem Schachspiel, nur groß wie ein Haus. Ein Stück weiter noch ein Turm, auf der anderen Seite, dieser hatte Ähnlichkeit mit einer Pagode aus Porzellan. Überall üppige Vegetation, im Kerzenschein entdeckten wir Blumen, und die Luft roch aufdringlich süß, schlimmer als in einer Parfümerie. Dann wieder ein Turm, diesmal eine Pyramide mit zu vielen Stufen. Danach führte der Pfad fast senkrecht in die Höhe, und der blumenbewachsene, duftende Untergrund schwankte nicht nur, er begann zu schaukeln. Inzwischen war uns allen klar, daß wir nur die Spitzen von gewaltigen Türmen sahen, die aus einem tiefen, tiefen Abgrund aufragten, und daß die Gärten an den Türmen himmelhoch über uns aufgehängt waren. Sobald einem das klar wurde, fühlte sich der schaukelnde Boden so dünn an wie Seidenpapier.

Maree geriet in Panik und erstarrte zur Salzsäule, ich mußte sie am Arm mitziehen. Rob konnte mir nicht helfen. Wenn er nicht Hände gehabt hätte, um sich hochzuziehen, wäre er wirklich in der Klemme gewesen. Auch so hatte er zu kämpfen: Manchmal war er mit den Vorderhufen zu weit geklettert, wußte die Hinterhand nicht nachzubringen und wurde immer länger. Schließlich mußte ich nicht nur Maree helfen, sondern auch Rob. Ich nahm meinen Schal ab und band ihn mir um die Taille. Daran schleppte ich Maree so weit nach oben, wie sie es aushalten konnte, bevor sie anfing zu weinen und mich anflehte stehenzubleiben. Meistens versuchte ich, sie dicht bei einem der Türme zu parken, wo der Boden weniger schwankte, und dann ging ich zurück, um Rob zu holen. So pendelte ich hin und her, einhändig, die Kerze hoch erhoben, um zu sehen, wohin wir traten. Die Blumendüfte wechselten, von süß, zu würzig, zu krautig, nach einiger Zeit fing ich an, sie zu hassen. Ich zertrampelte Blumen, um den Fuß einstemmen zu können, wenn ich Rob über eine schwierige Stelle hinweghalf, und ich verlor den Überblick über die ständig auftauchenden Türme und die vielen verschiedenen sonderbaren Formen. Irgendwann war ich mit meinen Kräften ziemlich am Ende.

Wir kamen in einen Bereich, der offener wirkte, weil der Boden aus tausenden Moospolstern zusammengesetzt war. Weil das Moos sehr hell war, konnte man sehen, wie es sich vor uns und zu beiden Seiten scheinbar ins Endlose erstreckte. Hier war das Schaukeln schlimmer als auf dem ganzen Stück vorher. Trotzdem lebte Maree wieder auf - dafür fühlte Rob sich alles andere als wohl in seiner Haut, unter anderem, weil er hier besser sehen konnte und also auch sah, wie seine Hufe jedes Mal unaufhaltsam auseinanderglitten. Doch am meisten setzte ihm das Schaukeln zu.

Er machte ungewollt einen wirklich schlimmen Spagat - die Vorderhufe fast unter meinem Kinn, während ich seine Hand umklammerte, die Hinterhufe senkrecht darunter und den Bauch im Moos -, als der ganze Hang heftig in Schwanken geriet.

>Was ist das?< keuchte er.

Wahrscheinlich hätte ich es ihm nicht sagen sollen, aber ich war auch in Panik. Ich blickte an Rob vorbei nach unten und sah, wie das Licht einer Kerze die Blätter zu dem leuchtenden, unechten Grün verfärbte, das man bekommt, wenn am Fernseher die Farben zu grell eingestellt sind. Wer immer das da unten war, er arbeitete sich mit kraftvollen Rucken nach oben und hangelte sich dabei an den Pflanzen weiter, und das verursachte das Schwanken. >Da kommt jemand<, sagte ich zu Rob.

Rob fluchte und strengte sich noch mehr an. Aus irgendeinem Grund waren wir beide überzeugt, daß es sich um einen Feind handelte. Er warf über die Schulter einen Blick nach unten und sah die Kerze ebenfalls. >Auf diese Weise bin ich keine Hilfe für euch<, sagte er und versuchte, sich mit der Hinterhand abzustoßen und nach oben zu schnellen, aber durch die Wunde war er steif und ungelenk und streckte sich nur immer länger, und in der nächsten Sekunde brachen seine Hufe durch die Moosdecke und der halbe Rumpf hinterher, und er baumelte über dem Nichts. Er ließ die Kerze fallen und krallte die freigewordene Hand in einen Mooshügel. Ich sah die Flamme immer kleiner werden, bis sie schließlich vom Dunkel verschluckt wurde, und mir wurde klar, daß ich um keinen Preis seine Hand loslassen durfte, oder es war um Rob geschehen. Ich setzte mich auf seine Vorderhufe, damit sie nicht wegrutschen konnten, auch wenn es ihm weh tat, und umklammerte mit aller Kraft seine Hand.

Ein Alptraum! Und ich war schon so erschöpft, daß meine Arme sich anfühlten wie Gummi.

Maree befand sich haushoch über uns. Sie schrie auf und kletterte nach unten. Wie als Antwort rief eine Männerstimme laut von unten herauf: >Was ist los?<

>Er fällt! < schrie Maree. >Hilfe!<

>Haltet durch! < rief der Mann, und er kam im Eilzugtempo näher. Mittlerweile war es mir egal, ob er Freund war oder Feind oder sonst was. Im Licht der Kerze, die ich ins Moos gesteckt hatte, um mit beiden Händen zugreifen zu können, starrten Rob und ich uns an, und ich betete nur, er möge sich beeilen.

Dann war er bei uns, und ich erkannte den seltsamen Fremden, der im Spiegel immer andere Kleidung getragen hatte. Selbst das war mir egal, Hauptsache, er war stark. Er warf einen Blick auf Rob, steckte seine Kerze neben meine, kniete sich hin und packte Rob unter den Achseln. >Auf mein Kommando<, sagte er zu mir. >Eins, zwei, drei !< Ich hatte kaum noch Kraft, der Fremde mußte die ganze Arbeit allein tun, hievte und beugte sich so weit nach hinten, bis er fast rücklings auf dem Hang lag, während Rob langsam, langsam durch die Moosschicht nach oben kam, dann mit einem Hinterhuf irgendwo

Halt fand und mithelfen konnte und endlich aus dem Loch heraus war.

Eine Weile lagen wir neben den Kerzen, völlig geschafft und am Ende. Über Robs Gesicht strömten Tränen, und Maree, die über uns hockte, wiederholte immer wieder: >Vielen Dank! Vielen, vielen Dank.<

>Wenn ich sagen würde, nicht der Rede wert, wäre das gelogen<, meinte der Fremde, als sein Atem wieder ruhiger ging, >das war ein schweres Stück Arbeit, aber ich bin froh, daß ich rechtzeitig gekommen bin; dies ist kein guter Ort für einen Kentauren.<

>Könnte kaum schlechter sein<, stimmte Rob ihm zu. Er nahm die Reservekerze, die Zinka uns gegeben hatte, und zündete sie mit Ruperts Reservefeuerzeug an.

Ich sagte: >Ich habe Sie gesehen. Im Hotel Babylon.< Maree sagte: >Ich auch.< Mir fiel ein, daß sie in den höchsten Tönen von ihm geschwärmt hatte, und ich schaute sie an, um zu sehen, ob sie vielleicht gerade dabei war, in Ohnmacht zu fallen oder so ähnlich. Nein, sie musterte den Mann verwirrt, aber gleichzeitig auf eine Art, als wäre ihr etwas klar geworden. >Wer sind Sie?< fragte sie ihn. >Rupert Venables kennt Sie.<

>Ich weiß noch nicht so genau, wer ich bin<, antwortete er verlegen. >Aber früher war ich der Nachbar von Rupert Venables. Sind Sie ihm bekannt?<

>Ich habe ihn vor sechs Wochen das erstemal getroffen und fand ihn schrecklich. Das zweitemal bin ich ihm in dem Hotel begegnet, und es kommt mir vor, als würde ich ihn schon ewig kennen.<

>Wenn das so ist und Sie treffen ihn vor mir, richten Sie ihm aus, daß ich mich melde.< Er stand auf und schaute bekümmert in seine rechte Handfläche. >Drei Körner sind noch übrig<, meinte er. >Die anderen sind den Weg gegangen, den auch du fast gegangen wärst, Kentaur.< Er ließ die Körner vorsichtig wieder in die Tasche gleiten. >Wir können Euch ein paar abgeben<, sagte Rob.

>Drei müßten genügen. < Der Mann streckte Rob die

Hand hin. >Komm mit. Ich helfe dir nach oben, und diese beiden helfen sich gegenseitig! <

In zwei Gruppen setzten wir unseren Weg fort. Rob kam viel besser voran mit jemandem, der zu ihm sagte: >Die Hufe dichter zusammen. Nimm dieses Büschel, es ist größer. Jetzt ein Sprung nach oben, immer mit der Ruhe.< Maree aber war wirklich der völligen Erschöpfung nahe, und ich fühlte mich schwach wie ein neugeborenes Kätzchen. Rob und der Fremde gewannen einen immer größeren Vorsprung. Endlich, als ihre Kerzen nur noch ein Blinzeln hoch über uns waren, riefen sie zurück, sie würden oben auf uns warten.

Das war das letzte, was wir von ihnen sahen oder hörten. Damals waren wir ziemlich beunruhigt, aber Koryfos erklärte mir später bei der Privataudienz in dem Truppentransporter, daß sie wirklich versucht hatten zu warten, aber der Ort da oben ließ es nicht zu. Ob sie stillstanden oder sich bewegten, sie mußten gehen, wohin sie gingen, und wenn sie umkehrten, stellten sie fest, daß sie wieder in eine andere Richtung geführt worden waren. >Und glaub mir<, sagte er, >es war viel schlimmer als der Weg, auf dem wir gekommen sind. Rob kann sich glücklich schätzen, daß er es überlebt hat.<

Die Erklärung dafür ist, daß da oben, über den Hängenden Gärten, wirklich Babylon war. Wir wußten es sofort, Maree und ich, im selben Moment, als wir oben abkamen. Doch ich glaube nicht, daß ich es beschreiben kann, unter anderem, weil es so viele Dinge gleichzeitig war. In meiner Erinnerung ist es gespeichert als der dunkle, flache Gipfel des Berges oder als ein unvorstellbar hoher Turm - und wir waren gleichzeitig drinnen und draußen - oder als ein unvorstellbar helles Licht, in dem ich stand. Doch wenn ich an das Licht denke, kommt es mir vor, als wäre es farbig gewesen, und Farben wie diese gibt es nirgendwo sonst und auch keinen Namen dafür. Sie schlugen Wellen wie Nordlichter oder sahen aus wie Signalzeichen, dann wieder denke ich:

Nein, es waren keine Wellen, es waren Säulen. Und die Richtungen waren auch nicht wie normal. Ich meine, wenn ich mir Babylon als den Turm vorstelle, weiß ich, er spiegelt sich durch zehn oder zwanzig rechte Winkel nach oben und unten und um die Längsachse, genau wie das Hotel, nur in diesem Turm konnte ich die verschiedenen Richtungen sehen, und das war ziemlich verwirrend. Und es gab noch andere Wunder.

Maree erinnert sich nicht einmal an das. Alles, was sie noch weiß, ist das Ende, als wir beide glaubten, wir wären zu einer Art von Steintrog gekommen - nur war er so seltsam wie alles andere, weil er auch in den vielen anderen Richtungen existierte und deshalb eine merkwürdige Form hatte für einen Trog. Eine Weile standen wir da und überlegten. Ich sagte: >Wir können nicht einfach so unseren Wunsch aussprechen. Man muß uns dazu auffordern!<

Maree sagte: >Gib mir das Wasser.< Ich hatte nur das eine Fläschchen, aber ich gab es ihr, und sie goß ungefähr die Hälfte des Inhalts vorsichtig in den Trog - man mußte vorsichtig sein, weil auch das Wasser in sämtliche Richtungen floß und nicht unbedingt dahin, wo man es haben wollte. Sie gab mir das Fläschchen zurück und befahl: Jetzt du. Dann streu das Korn aus.<

Mit dem Getreide war es noch schwieriger. Es wanderte überallhin und um alle Ecken, und nur ein paar Körner gelangten in den Trog. Doch sobald die Körner in das Wasser gefallen waren, begann es zu schäumen und zu steigen, bis es wie ein Fluß gegen die Rändern des Trogs schwappte.

Dann glaube ich, daß eine Stimme zu uns sprach, aber sicher bin ich nicht, denn falls es eine Stimme war, klang sie mehr wie Gesang oder Glockenläuten. Aber mir kam es so vor, als gäbe sie uns zu verstehen, Maree dürfe als erste ihren Wunsch äußern, vorausgesetzt, sie wäre in großer Not.

Ich gab Maree einen Schubs. Sie zuckte zusammen. Ich flüsterte ihr zu, was sie sagen sollte. Sie nickte lebhaft, und ich dachte, sie hätte verstanden. Sie schob die Brille hoch und sagte: >Ich wünsche mir, daß mein kleiner dicker Paps von seinem Krebs geheilt wird.<

Ich konnte es nicht fassen! Die totale Verschwendung! Jetzt mußte ich Maree ihre andere Hälfte zurückwünschen, statt etwas für mich, und ich hätte schreien können. Es gab sonst keine Möglichkeit, sie zurückzubekommen, wenn ich es nicht wünschte, und dann waren die Mühe und Arbeit, die alle sich gemacht hatten, umsonst gewesen, nur weil ich auf meinem Wunsch beharrte. Ich glaube, ich habe geweint über die Verschwendung, aber es wäre einfach sinnlos gewesen, diesen weiten Weg gekommen zu sein und dann den entscheidenden Wunsch nicht auszusprechen. Also wünschte ich für sie.

Eine Art Glockenschlag ertönte. Maree hatte plötzlich wieder ihre richtige, gesunde Farbe, und sie sah handfester aus, nicht mehr so vergeistigt. Sie schien auch wieder ganz bei klarem Verstand zu sein, und ihr Gesicht hatte wieder die richtige Form. Und ich nehme an, ich war froh. Ach, was soll’s - ich war froh.

Dann ertönte die Glocke noch einmal, und das bedeutete, wir waren entlassen. Mir schien es darüber hinaus ein Hinweis zu sein, eine Warnung, denn ich mußte an die Geschichten denken, Orpheus und so weiter, und ich schaute Maree nicht mehr an. Ich drehte mich einfach um und machte mich auf den Rückweg.

Ich habe keine Ahnung, wie es gekommen ist, daß ich sie so weit hinter mir gelassen habe. Maree kann es auch nicht erklären. Sie glaubt, sie hätte fast den ganzen Weg meine Kerze vor sich gehabt, und ich hörte ihre Schritte. Ich hörte und fühlte sie hinter mir den Mooshang hinunterklettern. Ich hörte wieder ihre Schritte, während ich auf Händen und Knien über das Felsband mit dem Abgrund auf beiden Seiten kroch. Ich begreife es einfach nicht.

Der Rückweg war eine Qual. Man wußte genau, was einem bevorstand. Nur die Kinder und die Vögel waren nicht da, als ich den Messerhang hinunterstieg, aber alles andere wartete auf mich. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, war noch etwas anders: Als ich zu den Dornenhecken kam, rechnete ich damit, daß meine Kleider wieder verschwinden würden, aber das taten sie nicht, nur der Schal aus Ziegenwolle. Und als ich zu der Brücke kam, war nichts am anderen Ende, kein Tor und keine Statuen, aber da war ich schon so müde, daß ich es fast nicht bemerkte. Ich war einfach nur froh, daß niemand mich aufhielt und trottete weiter. So müde war ich, daß ich, in Ruperts Zimmer angekommen, kaum begriff, daß ich stehenbleiben durfte, weil ich die Reise beendet hatte, nach Babylon und wieder zurück.«

[3]

Sie saßen vorgebeugt auf ihren Plätzen und lauschten aufmerksam meinem Bericht, die Angehörigen der Oberen Kammer. Weil ich mich auf das Vorlesen konzentrierte, fiel mir erst nach einer Weile auf, daß Blatt für Blatt weggezaubert wurde, sobald ich mit einem fertig war. Jedesmal, wenn ich eine Seite unter den Stapel schob, verschwand sie. Am Ende hielt ich noch drei Blätter in der Hand. Ich richtete den Blick darauf. Auf dem obersten stand das Erlebnis mit den Kindern und den Vögeln.

Jemand ziemlich weit unten am Tisch fragte: »Weißt du, wer diese drei Kinder waren?«

Ich sagte: »Ja. Es müssen die Tochter und die zwei Söhne des Kaisers gewesen sein, die ermordet wurden.«

»Und was, glaubst du, hatte es mit den Vögeln auf sich?« erkundigte sich eine andere ferne Stimme.

»Ich weiß es nicht. Ich dachte, hier wüßte man über solche Dinge Bescheid.«

»Ich wünschte, es wäre so«, sagte der Mann rechts neben mir an meinem Ende des Tisches. »Diese Sache ist für uns so rätselhaft wie für dich und deine Gefährten.«

Dann waren es nur noch zwei Blätter. Auf dem obersten war beschrieben, wie wir im Flur die Entenküken jagten, nachdem ich das erste Mal zurückgekommen war. Mir wurde flau in der Magengegend.

Die Frage, vor der ich mich fürchtete, kam von der Bank an der Wand und wurde gestellt von einer sehr, sehr alten Dame mit eingefallenen Wangen. »Welche Gefühle hast du heute in bezug auf deine Mutter?«

Ich konnte darauf nicht antworten. Ich wußte einfach nicht, wie ich es sagen sollte, dabei hatte ich die ganze Zeit, seit Dad und Maree und ich nach Bristol zurückgefahren waren, darüber nachgedacht.

Die alte Dame sagte: »Versuch zu antworten. Vielleicht hilft es.«

Die einzige Möglichkeit einer Antwort bestand für mich darin, über etwas anderes zu sprechen. Ich sagte: »Vergangenes Jahr hatte ich einen Furunkel am Hals. Er war ziemlich imposant. Während er wuchs, war er wunderbar glatt und rund, etwas spitz und ebenmäßig, mit einer komischen, winzigen Kuhle in der Mitte oben. Wenn ich ihn betrachtete, sah er so richtig aus, daß man fast glauben konnte, er wäre ein normaler Teil meines Körpers und gehörte dahin. Doch er tat immer mehr weh und zwang mich, den Kopf schiefzuhalten. Schließlich ging Dad mit mir zum Arzt. Der Arzt warf nur einen kurzen Blick auf den Furunkel, dann schnitt er ihn auf. Es war eine fiese Bescherung und der Schmerz zehnmal schlimmer. Als ich nach Hause kam, sah die Stelle noch ekliger aus, näßte, und ich fühlte mich scheußlich, aber der Schmerz war ein viel besserer Schmerz, obwohl die Stelle noch lange weh getan hat und mir eine ziemliche Narbe geblieben ist.«

Die alte Dame nickte. »Eine gute Antwort.«

Dann hatte ich nur noch ein Blatt übrig. Ich schaute es an, und mein ganzer Körper verkrampfte sich. Es war

das letzte Blatt, und ich würde den Teufel tun und ihnen auf die Nase binden, was ich mir hatte wünschen wollen, nur wußte ich nicht, wie ich sie daran hindern sollte, mich zu zwingen, es ihnen zu verraten.

Jemand irgendwo am Tisch stellte die Frage. Er sagte: »Du hast dein Motiv nicht genannt. Du erwähnst nirgends, weshalb du bis zum Ende durchgehalten hast.«

»Wie meinen Sie das?« versuchte ich zu lavieren.

»Ich meine«, sagte er, »du erklärst, weshalb du dem Kentauren geholfen und gewünscht hast, daß deine Schwester ihre zweite Hälfte zurückbekommt, aber bei wenigstens einer Gelegenheit wolltest du umkehren, und aus deinem Bericht geht hervor, daß du die Möglichkeit gehabt hättest. Weshalb bist du weitergegangen?«

»Ach so.« Ich bemühte mich, sie nicht merken zu lassen, wie erleichtert ich war. »Ich bin weitergegangen, weil ich neugierig war, natürlich. Ich wollte wissen, wie die Geschichte ausgeht.«

Das schienen alle lustig zu finden. Am Tisch und auf den Bänken wurde gelacht, und danach waren alle meine Blätter verschwunden. Rupert schien zu glauben, wir dürften jetzt gehen, aber sie waren noch nicht fertig. Einer von den Ehrfurchtgebietenden auf den mittleren Plätzen sagte zu mir: »Einen Augenblick. Dieser Bericht über Babylon enthält wesentliche Teile des Großen Geheimnisses der Magids, das denselben Namen trägt. Aus diesem Grund sehen wir uns gezwungen, alle Erinnerungen daran aus deinem Gedächtnis zu tilgen. Wir bitten um Verständnis und hoffen, daß du wegen dieser Maßnahme keinen Groll gegen uns hegen wirst. Es ist unumgänglich.«

Nun ja, sie taten ihr Bestes, nehme ich an. Ich erinnerte mich wirklich an gar nichts mehr - zum Beispiel wunderte ich mich, daß Maree wieder ganz gesund und lebendig aussah und konnte mir nicht erklären wieso -, bis ich nach Hause kam und die Notiz fand, die ich für mich selbst hinterlassen hatte. Nach Disketten suchen. Also suchte ich überall und fand ungefähr zwanzig von den hundert Stück, die ich versteckt hatte. Die anderen waren verschwunden, wie auch die Datei von meiner Festplatte. Aber ich glaube nicht, daß die Obere Kammer gemerkt hat, wie clever ich gewesen bin.

Nachdem Rupert mir nämlich gesagt hatte, daß die Leute in der Computerfirma mein Bristolia-Spiel nun doch nicht haben wollten - es wäre ihnen zu kompliziert! -, beschloß ich, statt dessen ein Babylon-Spiel zu entwickeln. Zum Teufel mit Großen Geheimnissen! Sagen Rupert und Maree nicht immer, die vornehmste Pflicht eines Magids wäre es, für die Verbreitung all des magischen Wissens zu sorgen, damit es im rechten Augenblick zur Hand ist? Und außerdem, ich will mich erinnern. Nach meiner Ansicht ist es ein ausgezeichnetes Druckmittel, um die Obere Kammer zu bewegen, mich ebenfalls als Magid aufzunehmen. Das war mein Wunsch für Babylon gewesen, ein Magid zu werden, bevor ich statt dessen meinen Wunsch Maree geben mußte. Was soll’s, werde ich es eben auf einem anderen Weg versuchen.

*.* ENDE *.*