Kapitel 18

Rupert Venables, Fortsetzung

»Stan zuerst«, sagte ich.

»Ich?« Der Klang seiner Geisterstimme erinnerte mich an das damit einhergehende Mienenspiel zu seinen Lebzeiten. »Heiliger Strohsack, warum ich?«

»Weil du der Experte für Kentauren bist und ich einige Fragen an dich habe. Zum Beispiel hat man mir gesagt, Kentauren seien unglaublich loyal. Wenn sie einer anderen Person Freundschaft gelobt oder mit jemandem einen Vertrag geschlossen haben, werden sie unverbrüchlich dazu stehen.«

»Ja - a«, sagte Stan. »Ja, so ist es. Im großen und ganzen.«

»Und was geschieht, wenn sie einem Kentauren und einem Menschen gleichermaßen verpflichtet sind?«

»Der Kentaur kommt immer zuerst. Eingefleischte Rassisten, das sind sie. Sie werden jederzeit einen Menschen zugunsten eines andern Kentauren fallenlassen. Wohlgemerkt, wir würden im umgekehrten Fall das gleiche tun.«

»Okay. Wie sieht es mit ihrer Loyalität untereinander aus?«

»Familie über alles«, erklärte Stan entschieden. »Sie haben nichts übrig für Häuptlinge und Könige und so weiter. Gibt es bei ihnen nicht im eigentlichen Sinne. Aber für einen Verwandten tun sie alles, und je enger die Verwandtschaft, desto mehr sind sie bereit zu tun. Schwierig wird es, weil sie im allgemeinen keine lebenslangen Bindungen eingehen wie bei uns Menschen üblich, deshalb müssen sie ständig aufpassen, wessen Sohn ein Kind von wessen Tochter hat, und ausklamüsern, ob irgendwelche verwandtschaftlichen Verpflichtungen gegenüber dem Kind bestehen, wenn ja, bezeich-

nen sie sich als Vettern. Viele verbringen ihr halbes Leben mit Ahnenforschung. Langweilen einen zu Tode damit. >Ich bin sein Vetter, aber nicht ihrer.< Gräßlich.«

»Welches ist die engste familiäre Bindung?«

»Die zwischen Mutter und Kind«, antwortete Stan prompt. »Danach kommt die Bindung eines männlichen Kentauren zu den Kindern seiner Schwester, dann die einer Kentaurin zu den Kindern, von denen sie überzeugt sein kann, daß sie ihres Bruders Fleisch und Blut sind - gar nicht so einfach, sich dessen immer sicher zu sein -, und dann kommen Schwestern und Brüder und auf der nächstunteren Stufe das, was nach unserem Verständnis echte Vettern und Kusinen wären. Die Bindung zwischen dem Vater und den Früchten seiner Lenden kommt erst an sechster Stelle; vor seinen eigenen, wird er stets die Kinder seiner Schwester versorgen.«

»Richtig.« So weit deckte sich alles mit meinen bisherigen Überlegungen. »Nächste Frage: Ich habe gehört, daß Kentauren niemals lügen. Stimmt das?«

»Hm. Das ist die offizielle Lesart. Man wird einen Kentauren niemals dabei ertappen, daß er eine direkte Unwahrheit sagt, wie zum Beispiel Schwarz ist Weiß oder etwas in der Art. Aber sie sind durchaus fähig, die Wahrheit ein wenig zu verdrehen, falls sich die Notwendigkeit ergibt. Zum Beispiel stellen sie zwei Dinge, die nicht zusammenpassen, so dar, als täten sie es doch, oder sie schieben ein kleines Wort ein, das man nicht besonders beachtet, welches aber die Bedeutung dessen, was sie sagen, ins Gegenteil verkehrt. Ich bin selbst ein paarmal darauf hereingefallen. Schlaues Völkchen, diese Kentauren. Man darf nie vergessen, daß selbst ein dummer Kentaur mehr Grips hat als die meisten Menschen.«

»Werde ich mir merken«, sagte ich. »Ich werde daran denken, wenn ich mit Rob spreche, das heißt, falls er wieder einigermaßen bei Kräften ist.«

»Bestimmt ist er das und auch imstande, dich hinters Licht zu führen. Das ist noch ein Fakt, den du im Auge behalten solltest: Kentauren sind zäh. Was dich und Nick zwei Wochen ans Bett fesseln würde, durchlaufen sie im Schnellgang und sind im Nu wieder auf den Beinen.«

»Nach allem, was du erzählst, fange ich an, mich zu wundern, daß nicht Kentauren die Herrscher des Multiversums sind!« sagte ich.

»Nun, zum einen können sie in einer Hälfte davon nicht auf Dauer existieren«, gab Stan zu bedenken. »Sie brauchen Magie zum Überleben. Aber der Hauptgrund ist, das Konzept des Herrschens sagt ihnen nichts. Es erscheint ihnen nicht als vernünftig.«

»Das war auch mein Gedankengang. Aber merkwürdig - das sollte meine nächste Frage sein: Würde ein Kentaur nach dem Kaiserthron streben? Das koryfonische Gesetz enthält keinen Passus, der dagegen spricht, soweit ich es beurteilen kann

»Nur wenn der betreffende Kentaur sich mit der Vorstellung anfreunden könnte, allein zu sein, isoliert von allen anderen seinesgleichen«, erklärte Stan. »Die Konservativen würden ihn ablehnen, die anderen würden lachen und sich an die Stirn tippen. Gehorchen würden sie ihm nur, wenn sie aus Gründen der Verwandtschaft zur Loyalität verpflichtet wären.«

Ich dachte an Knarros, der in der Tat isoliert gewesen zu sein schien und der unzweifelhaft im Gespräch mit mir die Wahrheit verdreht hatte, und fragte mich ... Aber Knarros war tot. Und ich war ziemlich sicher, daß Knarros’ Loyalität gegenüber dem Kaiser und dann gegenüber den Mördern des Kaisers andere Gründe als die für einen Menschen offensichtlichen gehabt hatte. Ein Grund mochte sein, daß sie alle die gleiche Göttin im Dornbusch verehrten. Ich mußte Stan danach fragen. Später. Etwas anderes war wichtiger.

»Stan, können Kentauren sich mit Menschen paaren?«

Ich glaubte, ein unterdrücktes Stöhnen von Nick zu hören - oder vielleicht war es wieder ein Flüstern von Maree.

»Dieses Thema ist mit dem Odium des Unziemlichen behaftet«, meinte Stan, »aber doch, es kommt vor. Natürlich gibt es physische Probleme. Die meisten Mischlinge werden tot geboren, und eine Menschenmutter, die von einem Kentauren schwanger ist, hätte ziemlich früh eine Fehlgeburt. Würden sie es austragen, wäre das Fohlen zu groß. Aber umgekehrt, Menschenvater und Kentaurenmutter, das klappt gelegentlich. Ein oder zwei solcher Ausnahmen von der Regel sind mir begegnet. Meistens sind sie ziemlich klein. Und die vollblütigen Kentauren sind krampfhaft nett zu ihnen. Überschlagen sich fast, um deutlich zu machen, daß das Fohlen schließlich nichts dafür kann - du weißt schon.«

Aha, dachte ich, das ist es. Wir haben es hier mit Schwestersöhnen zu tun. Und mit deren Vettern und Kusinen natürlich. »Danke, Stan«, sagte ich. »Nick.« Nick zuckte schuldbewußt zusammen. »Nick, wie lautet dein voller Name?«

»Nicholas«, antwortete er. »Mallory.«

»Ach ja? Nicht zum Beispiel Nickledes Timos und so weiter?«

»Nichothodes«, verbesserte Nick gereizt. »Wenn schon.«

Fast hätte ich aufgelacht. Niemand kann es leiden, wenn man seinen Namen verballhornt. Stan gönnte sich ein verhaltenes Kichern, während ich die hochnotpeinliche Befragung fortsetzte. »Und Marees?«

»Sie wollte ihn mir nie verraten«, gestand Nick mürrisch, bedrückt. »Aber ich weiß, daß Maree eine Abkürzung für Marina ist.«

Sempronia Marina Timosa, dachte ich, auf einem blutgetränkten Fetzen Papier in der Hand eines toten Kentauren. Ich hätte Sempronia auch verschwiegen. »Und weiter?« bohrte ich.

»Was meinen Sie mit und weiter? Nichts weiter.«

»Nun, zum Beispiel würde mich interessieren, woher du weißt, was Entseelen bedeutet. Du hast mir vorhin berichtet, daß Maree entseelt worden wäre, aber das Wort kennst du nicht von mir. Ich kann mich genau erinnern, was ich über den Transit zwischen den Welten gesagt habe, als ich versuchte, euch beiden die Gefahren vor Augen zu führen, und ich weiß, daß ich diesen Ausdruck nicht benutzt habe.«

Keine Antwort. Nick saß vornübergebeugt neben mir und starrte in die trübe Neonhelligkeit, dorthin, wo die Eisenstäbe unmerklich dünner wurden und sich nach außen wölbten.

»Ich würde auch sehr gern wissen, ob du wirklich in der Hecke warst, oder ob du bei dem Entseelen geholfen hast.«

Das saß! Er fuhr herum, und seine Stimme überschlug sich, als er mir entgegenschleuderte: »Das habe ich nicht! Ich war in der Hecke! Und ich wüßte gar nicht, wie man das macht, jemanden entseelen. Es tut mir entsetzlich leid, was Maree passiert ist, aber es ging alles so schnell!« Unvermeidlich, daß diese letzte Wort gicksend herauskam. Sein Gesichtsausdruck verriet mir, daß er es hörte und sich schämte, und ich sah, wie er versuchte, sich zu beherrschen. Er hatte meine Sympathie, auch ich hasse es, mich lächerlich zu machen. »Wenn Sie es genau wissen wollen«, fuhr er mit angestrengt monotoner Stimme fort, »ich war auf der anderen Seite der Hecke, wie vorhin dieser Soldat, der gekommen ist, um mit Ihnen zu reden. Wir haben gestritten. Ich wollte nicht weg. Alles war so interessant - diese Landcruiser oder wie sie heißen, und Jeffros hatte einen Assistenten, der uns herumführte, und der hatte Flügel. Ehrlich. Und ich wollte mehr wissen. Ich versuchte, Maree zum Bleiben zu überreden, den ganzen Weg bis zum Auto. Maree sagte, wir wären schon einmal festgenommen worden, und auf den Hügel würden wir nicht kommen, weil man auf dem Pfad von einer unsichtbaren Barriere am Weitergehen gehindert wird! Außerdem meinte sie, wir sollten besser verduften, bevor jemand Ihnen von unserer Anwesenheit erzählte. Und ich wandte ein, Jeffros und seine Leute wären sehr nett zu uns gewesen ... Na ja, ich war sauer und zwängte mich durch die Hecke und sagte von der anderen Seite, ich würde nicht mit ihr nach Hause fahren. Und Maree sagte, dann würde ich eben Sie bitten müssen, mich mitzunehmen, und bestimmt würden Sie mich zur Schnecke machen, und recht geschähe mir. Dann lief sie das letzte Stück zu ihrem Auto und schwenkte die Schlüssel. Ich ging auf der anderen Seite der Hecke weiter, sagte nichts und hoffte, sie würde ihre Meinung doch noch ändern. Aber dann - dann kamen Mum und Gram White plötzlich um das Auto herum, und Mum sagte etwas wie: >Da bist du ja endlich, Maree!< und sie - sie schauten nicht ein einziges Mal zu mir her. Ich glaube, sie wußten nicht einmal, daß ich da war, ehrlich.«

Ich nickte.

»Ja, ich glaube dir. Sich in die Büsche schlagen, um zu schmollen, das ist eine von diesen blöden Sachen, die man tut, wenn man Streit mit Erwachsenen hat. Aber was ist mit dem Rest?«

Nick zuckte die Schultern. »Der Staub war unser Glück. Wir sind wie die Verrückten zum Auto gerannt, als wir Sie zum Parkplatz gehen sahen. Maree sagte, Sie hätten uns garantiert bemerkt, wenn nicht diese riesige Staubfahne gewesen wäre. Als Sie zu den Transportern abgebogen sind, haben wir uns einfach in einen anderen Feldweg verdrückt.«

»Und der Rest?«

»Nachdem wir es nicht geschafft hatten, auf den Hügel zu kommen, gingen wir zu den Transportern, und Soldaten kamen heraus und nahmen uns fest und ...«

»Nein«, unterbrach ich ihn, »ich meine den ganzen Rest.«

»Was für einen Rest? Ach, dieser Kentaur ...«

Ich fiel ihm wieder ins Wort. »Nette Ablenkungsversuche. Nein, ich meine nicht den Kentaur. Ich meine den ganzen Rest deines jungen Lebens. Ich will wissen, mit was für Geschichten deine Mutter dich in all den Jahren gefüttert hat.«

»Ich ... In den letzten zwei Jahren hat sie es bleiben lassen«, bekannte er widerwillig. »Seit ich ihr gesagt habe, daß ich kein Wort davon glaube. Ich meine, es war so krauses Zeug, daß ich eine Menge davon für mein Bristolia-Spiel verwendet habe.«

Er beendete den Satz mit fragend erhobener Stimme und schaute mich hoffnungsvoll an. War er, fragte ich mich, ein Egoist par excellence oder einfach nur jung? Was immer zutraf, eine kleine Bestechung konnte nicht schaden. »Also gut.« Ich seufzte im stillen. »Wenn du mir sagst, was man dir erzählt hat, werde ich einen Blick auf dein Bristolia-Spiel werfen und sehen, ob es Möglichkeiten hat. Mehr kann ich nicht versprechen.«

Nick wurde glühend rot, erkennbar daran, daß sich sein Gesicht in dem orangefarbenen Neonlicht zu einem blassen Indigo verfärbte. »Ich wollte nicht ... Es ist nur ... Ach, Scheiße. Danke. Also gut, aber es ist eigentlich nicht viel. Seit ich denken kann, betet meine Mutter mir vor, Ted Mallory wäre nicht mein Vater, bis vor ungefähr zwei Jahren, da hatte ich die Nase voll und beschloß, Dad trotzdem zu adoptieren, weil ich ihn eigentlich ganz gut leiden kann und Mutter mir ohnehin nicht verraten wollte, wer denn nun mein richtiger Vater ist. Sie sagte nur, er wäre ein unheimlich bedeutender Mann, und ich würde eines Tages auch bedeutend sein, wenn für mich die Zeit gekommen wäre, mein Erbe anzutreten. Das ist kein schönes Gefühl. Ich meine, er könnte jeder sein, und man malt sich wer weiß was aus, und andererseits denkt man, weshalb kriege ich einen geistigen Höhenflug wegen eines Kerls, der vielleicht ein Brechmittel ist oder sowieso nur ein Hirngespinst. Aber man kann es irgendwie nicht abschütteln. Ich würde lieber mit Ihnen tauschen. Sie haben richtige Geheimnisse, mit denen Sie sich dicke tun können.«

Stan unterdrückte ein Kichern. Ich sagte: »Sie muß dir mehr erzählt haben als das.«

»Das meiste hatte zu tun mit Entseelen und daß es Hunderte von anderen Welten gibt und in der Hälfte davon jede Menge Magie.« Nick stieß ein geringschätziges Schnauben aus. »Alles, was mit Magie zu tun hat, macht sie wild. Sie war total aus dem Häuschen wegen irgendwelcher Neuigkeiten, die sie von Gram White erfahren hatte und wollte mir unbedingt davon erzählen, aber ich sagte, es wäre alles langweiliger Mist und ging weg.«

Kaltherzige Jugend. Fast hatte ich Mitleid mit Janine, auch wenn sie eine Mörderin war. Andererseits, ich kann mich erinnern, daß ich in Nicks Alter genauso gewesen bin, und meine eigene Mutter hat es überlebt. »Kennt sie Gram White schon lange?«

Nick runzelte die Stirn. »Ich glaube. Seltsam - als wir am Freitagabend alle zum Essen gingen, war ich der Meinung, ich hätte ihn vorher noch nie gesehen, doch später am Tisch sagte er etwas und neigte den Kopf zur Seite, und da wurde mir bewußt, daß ich ihn gesehen hatte, oft sogar, früher. Damals hatte er keinen Bart. Er kam uns häufig besuchen, aber ich glaube, Dad mochte ihn nicht, und nach einer Weile blieb er weg.«

»Hat er - Gram White - dir die gleichen oder ähnliche Dinge erzählt wie deine Mutter?« Ich hielt gespannt den Atem an; je nachdem wie seine Antwort ausfiel, konnte Nick das gesamte Gebäude meiner Vermutungen zum Einsturz bringen.

Wieder runzelte Nick die Stirn. »Ich - ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur noch, daß Mum in seiner Gegenwart über den ganzen Kram redete - ich wäre zu Großem bestimmt und Zauberei und so weiter -, und er lachte sie nicht aus oder sagte, daß sie spinnt, wie es die meisten Leute wohl tun würden. Aber ich war damals noch klein.«

»Und Maree? Wieviel davon hat Maree ...?«

Stan fiel mir ins Wort. »Rupert, ich glaube, mit dem Mädel ist noch zu rechnen. Sie bewegt sich. Und wenn ich nicht irre, versucht sie sogar, etwas zu sagen.«

Sofort hatte ich Nicks Aufmerksamkeit verloren. Mit der Gelenkigkeit der Jugend hatte er sich herumgedreht, kniete auf dem Sitz und schaute angstvoll über die Rückenlehne auf Maree. Ich verstellte den Innenspiegel, so daß ich sie gleichfalls sehen konnte. Die Kehle wurde mir eng bei dem Anblick. Meine Gramarye eben hatte sie unübersehbar beeinflußt. Der stärker gewordene Lebensfunke manifestierte sich in kleinen, ziellosen Bewegungen ihrer Hände, von Kopf und Hüften. Hinter den spiegelnden Kreisen der Brillengläser schienen ihre Augen halb geöffnet zu sein, blaß wie der Rest von ihr, und von den farblosen Lippen kam ein leises Murmeln. Ich fragte mich beklommen, um wieviel ich ihr Halbleben verlängert hatte. Ein paar Stunden? Einen Tag? Mehr?

»Sag das noch mal.« Nick beugte sich zu ihr hinunter.

Nicht eben rücksichtsvoll von mir, aber während seine Aufmerksamkeit abgelenkt war, überrumpelte ich ihn mit einer anderen Frage, die mir wichtig zu sein schien. Wer mit seinen Gedanken und Gefühlen woanders ist, gibt oft geistesabwesend etwas preis, was er andernfalls nicht verraten würde. »Nick, hat deine Mutter dir je erzählt, weshalb die Erde den Codenamen Babylon hat?«

»Jemand namens Chorus oder so ähnlich ist hier entseelt worden. Sie lacht darüber. Sie sagt, er hätte versucht, die Erde zu erobern, und statt dessen den Turm von Babel erschaffen.« Nick hatte geantwortet wie um sich einer lästigen Pflicht zu entledigen, damit er sich wieder um Maree kümmern konnte. Er beugte sich noch tiefer über die Lehne und sagte langsam und deutlich: »Nein, schon gut. Er hält sie erst morgen Nachmittag. Du hast sie nicht verpaßt.«

Das war also geklärt, der Codename berührte kein Großes Geheimnis. Es war nur eine der Versionen, die über den Tod von Koryfos kursierten. Wenn ich mich recht erinnere, gab es Hinweise darauf, daß er zum Zeitpunkt seines Todes damit beschäftigt gewesen war, unsere Erde der Liste seiner Eroberungen hinzuzufügen. »Was sagt sie?« fragte ich Nick.

»Sie sagt, sie hätte versprochen, dabei zu sein, wenn Dad seine Rede als Ehrengast hält.« Er turnte auf dem Sitz zu mir herum, seine Augen leuchteten hoffnungsvoll. »Sie wird wieder gesund, nicht wahr? Ihre andere Hälfte wird nachwachsen?«

Ich schaute ihn an und fragte mich, wie ich es ihm beibringen sollte. Und ich staunte über meinen eigenen Schmerz. Empfindungen, die ich sorgfältig vor mir selbst verheimlicht hatte, brannten mir in der Kehle und zerrissen mir die Brust, als hätte mich jemand gezwungen, Glassplitter zu schlucken. Ich bezweifelte, daß ich überhaupt ein Wort herausbringen konnte.

Dankbar hörte ich Stan an meiner Stelle antworten. »Nein, Söhnchen, machen wir uns nichts vor. Hin und wieder passiert es, daß die Starken, diejenigen mit einer wirklichen Persönlichkeit, etwas länger Widerstand leisten. Deine Schwester ist eine von den Starken, weiter nichts.«

»Nicht Schwester - Kusine«, verbesserte Nick. »Wie lange?«

»Jahre. Manchmal.«

Nick warf sich herum und starrte mir ins Gesicht. Das orangefarbene Licht des verlassenen Busbahnhofs spiegelte sich in seinen Augen, so daß sie sich in meine brannten wie Funken glutroter Verzweiflung. Es war, als würde mein eigener Schmerz mir entgegenlodern. »Sie haben gesagt, es gäbe noch eine Möglichkeit«, schrie er mich an, und wieder überschlug sich seine Stimme. »Worauf warten Sie noch. Tun Sie’s, jetzt sofort!«

»Ich weiß nicht, ob ... Es ist ein Großes Geheimnis«, wehrte ich unglücklich ab.

»Ich werde kein Wort verraten. Nur tun Sie’s!«

»Darum geht es nicht. Es ist eine langwierige Gramarye. Vielleicht funktioniert sie nicht; ich habe es noch nie ausprobiert. Wir brauchen mindestens noch einen weiteren Magid und jemanden, der sie begleitet, und ich bin nicht sicher, ob wir ...«

»Sie verstehen nicht!« brauste er auf. »Ich war nicht richtig lebendig, bevor Maree bei uns eingezogen ist. Sie ist so jemand, der alles verändert.«

»Ich weiß, daß sie etwas Besonderes ist. Aber möglicherweise haben wir nicht...«

»Rupert«, mischte Stan sich ein, »der Junge hat recht. Nutze das Babylon-Geheimnis. Du mußt dieses Mädchen zurückholen, denn je mehr ich sehe, desto überzeugter bin ich, daß sie Bestimmt ist, dein neuer Magid zu werden.«

Wie sollte ich ihm sagen, daß ich hauptsächlich deshalb zögerte, weil mein eigener Wunsch es zu tun, so groß war? Ein großer Teil meiner Schmerzen kam daher, daß ich nichts lieber wollte, als von Babylon Gebrauch zu machen. Doch man darf nicht auf ein Großes Geheimnis zurückgreifen, wenn man glaubt, daß man es nur tut, weil man es möchte. Und die Vorstellung, es erfolglos zu versuchen, war unerträglich, fast so schlimm wie der Gedanke, ich könnte etwas Falsches tun, weil ich mir so sehr wünschte, Maree wiederzubekommen, so, wie sie gewesen war. Etwas von diesem Gefühlsaufruhr reagierte ich ab, indem ich Stan anschrie: »Es ist Bestimmt? Wozu dann dieses ganze Theater, wenn es das ist, was sie ohnehin wollten? Weshalb mich da hineinziehen?«

»Du weißt, daß sie nicht direkt Einfluß nehmen können«, wies Stan mich zurecht, »es ist nicht gestattet. Du kannst meine Strophe haben, wenn du willst. Sie wird anders lauten als deine.«

»Ich hoffe, euch ist bewußt, was ihr verlangt«, sagte ich, und ich glaube, meine Stimme brach wie die von Nick. »Ihr verlangt von mir, eine große, riskante Gramarye zu inszenieren, eine Gramarye, die töten kann, an einem Ort, der sich als höchst instabil erwiesen hat, ganz zu schweigen davon, daß wir einen verwundeten Kentauren am Hals haben, der sich vor zwei Mördern versteckt, von denen einer mit dem Nodus Schindluder treibt. Und der Nodus ist so stark, daß ich selbst mit Wills Hilfe nicht sicher bin, ob ich das alles organisieren kann, den Weg offenhalten, auf Maree aufpassen ...«

»Ich werde auf Maree aufpassen«, warf Nick ein. »Ich übernehme das.«

»... und dann wäre da auch noch das Rätsel um Andrew!« schloß ich. »Ja, ich fürchte, ich werde Maree in deine Obhut geben müssen, Nick. Anders ist es nicht zu schaffen.«

»Du vergißt, was ich dir seit eh und je gepredigt habe«, sagte Stan. »Erledige die Dinge hübsch der Reihe nach, wie sie kommen. Wenn du dir den ganzen Batzen aufbürdest, verhebst du dich nur.«

»Ich werde alles tun, was ich kann, um zu helfen«, beteuerte Nick. »Alles, ich versprech’s!«

»In Ordnung«, sagte ich, »überredet.« Mir fiel ein Stein vom Herzen. »Sobald wir uns aus dieser vermaledeiten Arkade befreien können.«

Wir warteten.

Objektiv betrachtet, dauerte es nicht lange. Sobald das Wachstum einmal begonnen hat, geht die Entwicklung mit Riesenschritten vonstatten. Die Metallstreben hatten das segmentierte Aussehen von Bambus angenommen, wuchsen anmutig in die Höhe und hoben das blattähnlich gerippte Dach aus Wellplastik mit empor. Der Kunststoff hatte sich dunkler gefärbt und war durchsetzt mit Knospen, aus denen lange, halb durchsichtige Blätter sprossen; sie raschelten im leichten Wind. Die Passage nahm sehr schnell das Aussehen eines dicht berankten Spaliergangs an. Meine Hände umfaßten vor Ungeduld zitternd das Lenkrad, während ich darauf wartete, daß der Prozeß seinen Abschluß fand. Nick konnte unmöglich eine Vorstellung davon haben, was er verlangte, von sich selbst oder von mir. Aber Stan wußte es. Die Tatsache, daß ich von ihm gebeten worden war, Babylon zu benutzen, vergrößerte meine Nervosität.

»Können wir?« meinte Stan endlich.

Ich drehte den Zündschlüssel und schaltete das Abblendlicht ein. Farben erwachten, die Passage war plötzlich grün und nicht nur über uns: durchscheinende Plastikblätter begannen, aus den Verbindungsstellen der Verstrebungen zu wachsen, und all das junge Grün links und rechts raschelte und knarrte und wogte, als der Wagen langsam hindurchrollte. Ich war beeindruckt. Das Zwitterding aus Allee und Dschungelpfad war so bezaubernd, daß ich, nachdem wir ins Freie gelangt waren, nur mit einem Gefühl des Bedauerns anhielt, um der Arkade zu suggerieren, daß sie nun wieder ihre ursprüngliche Gestalt annehmen solle. Die Suggestion mußte präzise und konzentriert erfolgen, damit Marees Schicksalsstrang nicht mit dieser Gramarye verwoben wurde.

»Schade«, meinte auch Stan, als das grüne Laub zu welken begann. »Es wäre ein Spaß gewesen, ihre Gesichter zu sehen, wenn sie es entdeckt hätten.«

»Fangen Sie jetzt mit der Gramarye an?« fragte Nick.

»Im Hotel, in meinem Zimmer. Ich muß mich erst mit Will besprechen.«

Wir fuhren zum Hotel, so schnell das System der Einbahnstraßen es zuließ. Das malträtierte Auto klapperte und eierte, und ich nahm besorgt ein Scheppern irgendwo unter dem Chassis wahr. Als wir in die Market Street einbogen, sagte Nick: »Hinter der Rezeption steht ein Rollstuhl. Soll ich ihn holen?«

Wir hielten vor dem Haupteingang, um ihn aussteigen zu lassen. Seine Tür ging nicht auf. Ich mußte mit einer kleinen Magie das Schloß knacken, und danach funktionierte es nicht mehr, so daß wir mit hin- und herschwingender Beifahrertür auf den Parkplatz rollten. Wir hielten neben Wills individuellem Geländewagen, dessen Anblick mir diesmal das Herz wärmte. Ich brauchte Will. Nicht einmal Stan gegenüber konnte ich ausdrücken, wie sehr. Ich sandte meinem Bruder einen dringenden Ruf, mich beim Aufzug zu treffen, und tat dann das Nötige, um die anderen Türen zu öffnen.

»Brauchst du meine Strophe?« erkundigte sich Stan.

»Allerdings.« Ich stemmte einen Fuß gegen die Fahrertür. Erst nach einem kräftigen Tritt sprang sie auf.

»Also gut, hier ist sie.« Stans Geisterstimme deklamierte:

Wie komme ich hin nach Babylon?

Jenseits von hier und dort.

Geht’s über Berg oder Brücke hinweg?

Beides, dann bist du dort.

Geh nicht bei Nacht und bei Tage nicht,

sondern folge dem Weg bei Kerzenlicht.

»Bitte«, schloß er. »Ergibt das einen Sinn zusammen mit deinem Teil?«

»Definitiv. Meine Text sagt etwas ganz Ähnliches, aber zwischen den Zeilen ist eine Warnung enthalten. Ich hoffe, Wills Strophe erweist sich als das Bindeglied.«

Im selben Moment, als es mir gelang, die hintere, eingebeulte, verzogene und zerkratzte Tür zu öffnen, erschien Nick mit dem Rollstuhl. Gemeinsam hoben wir Maree aus dem Auto und setzten sie hinein. Man konnte sehen, daß meine Gramarye von vorhin bei ihr immer noch wirkte. Zum Beispiel kam es mir vor, als sei sie schwerer geworden. Sie saß zusammengesunken in dem Stuhl, sehr klein und ätherisch, webte mit den Händen und sprach murmelnd vor sich hin. Ich ließ Nick vorausgehen, er sollte aufpassen, daß sie nicht hinausfiel, winkte Stan zu und schob Maree behutsam und vorsichtig ins Hotel.

Die Lampen und die allgegenwärtigen Spiegel zeigten mir, was für ein gespenstisches Trio wir waren. Nick war mit goldenem Staub überpudert und hatte in jedem Knie seiner Jeans ein ausgefranstes, blutiges Loch. Ich sah nicht viel besser aus, dazu noch leicht angesengt, besonders meine gute Wildlederjacke war vorn schwarz und verkohlt, die Hose übersät von kleinen Funkenlöchern. Meine Stirnhaare waren abgeflämmt, das Gesicht krebsrot, bis auf weiße Ringe um die Augen, wo die Brillengläser die Hitze abgehalten hatten. Maree sah aus wie eine verhutzelte alte Erbtante, über die jemand eine Tüte Mehl verstäubt hatte.

Dann stieß Nick die Flügeltür zur Lobby auf, und - siehe da! - wir waren gar nicht so fehl am Platz. Ich hatte den Maskenball vergessen. Die merkwürdigsten Gestalten flanierten durch den Saal, sogar eine große bunte Raupe mit mindestens fünf Paar Menschenbeinen. Da waren Wikinger, Aliens aller Couleur, der Sensenmann gleich in mehrfacher Ausführung, Leute in Umhängen, etliche bluttriefende Kadaver und Dutzende atemberaubender Grazien in Gewändern mit strategisch plazierten Gucklöchern. Einige trugen so gut wie gar nichts. Eine Amazone, deren Kostüm aus zwei Lederriemchen und schenkelhohen roten Stiefeln bestand, fesselte Nicks und meinen Blick. So sehr, daß uns um ein Haar Maree abhanden gekommen wäre.

Die bunte, vergnügte Menge schien Marees Lebensgeister anzuregen. Sie rutschte auf dem Sitz herum und machte einige Male Anstalten aufzustehen. Während Nick und ich von den Riemen und den roten Stiefeln abgelenkt waren, gelang es ihr. Nick lief sofort hinterher, drängte sich zwischen Aliens hindurch und stolperte über die Schleppe einer Königin. Bei der Raupe fing er sie wieder ein.

Wir hatten sie gerade unter gutem Zureden wieder in den Stuhl gesetzt und wollten unseren Weg fortsetzen, als wir uns Rick Corrie gegenüber sahen - als er selbst -, in Begleitung von zwei Jünglingen in bunten seidenen Reifröcken und mit rüschenverzierten Sonnenschirmchen.

»Originelle Kostüme«, flötete der eine. Und der andere fragte mit dunkler Altstimme: »In welcher Kategorie tretet ihr an?«

Nick, der sie zu kennen schien, antwortete fidel: »Außerirdische, natürlich. Wir sind Opfer der Minenkatastrophe draußen auf Tau Centauri.«

»Aha«, sagte Rick Corrie, »vielleicht erklärt das die seltsamen Gerüchte. Ich hörte, du wärst als Kentaur aufgetreten, Nick.«

»Das wollte ich, aber das mit den Beinen hat nicht geklappt, also haben wir das hier improvisiert.«

Nick schwitzte, als wir uns endlich zum Korridor hinter der Lobby durchgeschlagen hatten. Er schmierte sich mit dem Ärmel den Staub durchs Gesicht und äußerte den Wunsch, möglichst nicht noch jemandem zu begegnen, dem wir Rede und Antwort stehen mußten. Prompt stießen wir hinter der nächsten Ecke mit Ted Mallory und Tina Gianetti zusammen, die beide große Augen machten.

»Kreativ, aber miserabel umgesetzt«, urteilte Ted Mallory. »Ihr seht einer wie der andere schrecklich aus. Maree, was hast du denn mit dir angestellt?«

Maree erkannte ihn, sie murmelte und bewegte sich unruhig. Ich sagte hastig: »Sie ist die Mondgräfin aus dieser Kurzgeschichte von H. C. Blands.«

Natürlich konnte Mallory die Geschichte nicht kennen, aber wie ich gehofft hatte, mochte er es nicht zugeben. Er hakte seine Begleiterin unter und sagte im Weitergehen: »Also stürzen wir uns ins Vergnügen, Tina.« Doch ganz schien er nicht beruhigt zu sein. Jedenfalls schaute er noch einmal zurück und bemerkte mit einem irritierten Stirnrunzeln: »Dieses Kostüm gefällt mir sogar noch weniger als die Sache mit dem Kentauren, Nick. Rechne nicht damit, daß du von mir einen Preis bekommst.«

Ziemlich am Ende mit unserer Nervenkraft, erreichten wie die Aufzüge. Beide waren unterwegs. Nick stocherte mit dem Daumen abwechselnd auf die Rufknöpfe. »Das ist fast schlimmer als alles andere«, sagte er, als beide

Aufzüge gleichzeitig herunterkamen, und: »Hoffentlich treffen wir nicht noch jemand Bekannten.«

Die rechte Kabine spie eine Clique von Leuten aus, die sich um einen Engel mit Harfe scharten.

Die linke Kabine bescherte uns Janine.