Kapitel 12

Aus Maree Mallorys

Ordner >Dornenhexe<,

Datei 25


  

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Nick ließ mich irgendwann an diesem Vormittag im Stich, die Ratte, aber erst, nachdem wir zusammen auf Erkundung ausgezogen waren. Wir versuchten, Mallory Universe und Home Universe auseinanderzudividieren. Unmöglich. In einem Hotel Babylon muß Chaos herrschen, insbesondere die Weiterführung der ehrwürdigen Tradition des babylonischen Sprachengewirrs betreffend, der sich wiederum insbesondere die Russen und die Deutschen verpflichtet zu fühlen schienen. Eine vielköpfige Schar aus beiden Ländern befand sich in der >Ops< im zweiten Stock, und man schrie sich in beiden Sprachen gegenseitig nieder, durchsetzt mit halbherzigen Verständigungsversuchen in schlechtem Englisch. Die Ops ist das Krisenzentrum. Hier handelte es sich eindeutig um eine Krise, aber niemand wußte, war es eine gemeinsame oder waren es zwei getrennte Krisen oder überhaupt, worum es ging.

Man war gern bereit, uns Sachverhalte wie diesen zu erklären. Wenn es gerade keine Krise gab, plauderten die Leute mit uns oder lächelten uns freundlich an. Alle schienen uns zu kennen, auch ohne unsere Namensschilder zu lesen. Überhaupt achtet hier kein Mensch auf die Namensschilder. Die drei langhaarigen Androgyne mit dem Baby grinsten uns auf unserer Odyssee durch die Flure jedesmal an, sogar das Kind. Nick äußerte, eine angenehmere Bestrafung hätten seine Eltern sich schwerlich ausdenken können, und ich wiederholte mehrmals, wie nett doch alle wären. Da ahnte ich noch nichts.

Wir stolperten in einen Raum mit dem Schild PRESSEBÜRO an der Tür, wo Leute in noch wortreicheren T-Shirts als gewöhnlich damit beschäftigt waren, das mehrmals täglich erscheinende Flugblatt mit den neuesten Nachrichten des Cons zu drucken. Sie drückten uns jedem eins in die Hand, und wir gingen nach unten in die Lobby, um es in Ruhe zu lesen.

Alle sitzen in der Lobby. Sie ist ziemlich groß, aber sie wirkt riesig, weil die Spiegel an einer Wand die großen Fenster in der Wand gegenüber reflektieren. Kinder diverser Größen und Altersstufen in Umhängen oder Batman-Kostümen laufen zwischen den Tischen und Sesseln herum, und die Erwachsenen bilden Cliquen. Als wir kamen, war der Raum ziemlich voll, weil eine ganze Ladung Neuankömmlinge sich dort breitgemacht hatte. Die meisten gaben sich schon durch ihre elegante Kleidung als VIPs zu erkennen, und sie waren umgeben von einer wichtigen Bin-bei-der-Arbeit Aura, die sie, wie einige von ihnen anscheinend dachten, um mindestens eine Klasse über uns gewöhnliches Fußvolk erhob. »Verachtet sie nicht«, meinte Wendy, als sie sich plumpsend in den Sessel neben uns fallen ließ. Nick mußte wieder den Blick abwenden. »Das sind die Verleger. Sie werden heute abend allesamt Parties schmeißen.«

Also verachtete ich sie nicht und richtete statt dessen meine Aufmerksamkeit auf das Flugblatt. Nick jedoch konnte jemanden von Wendys Masse und Umfang nicht in seiner Nähe ertragen. Er sprang auf. »Ich muß los, die Spiele fangen gleich an«, sagte er. »Ich werde gegen Mittag hier nach dir suchen oder oben in deinem .Zimmer.« Eine unverschämte Lüge. Ich wußte, die Spiele fingen noch nicht an, und ich konnte sehen, wie er sich an der Tür am anderen Ende der Lobby herumdrückte - er hatte mich im Stich gelassen, wieder einmal, gerade als ich zu der Stelle kam, wo es hieß: »Wir möchten die Aufmerksamkeit aller Fans auf Ted Mallorys Nichte Maree Mallory lenken. Die Ärmste leidet an gebrochenem Herzen. Also, wenn ihr Maree begegnet, seid besonders nett zu ihr.«

Vor Wut und Scham schossen mir die Tränen in die Augen. Mein Gesicht fühlte sich irgendwie blauglühend an. Wendy sagte etwas zu mir, aber ich wollte es nicht hören oder antworten, oder sie ansehen. Sie redete wahrscheinlich nur deshalb mit mir, weil das Flugblatt sie dazu aufforderte. Ich stieß einen gepreßten, heulenden Laut aus.

»Ich habe gefragt«, wiederholte Wendy, »steht etwas Interessantes drin? Ich habe das Flugblatt noch nicht gelesen.«

Sofort haßte ich mich dafür, so mimosenhaft gewesen zu sein. Ich hob den Kopf und schob die heruntergerutschte Brille vor die Augen. Und siehe da. Olala! Wunder über WUNDER! Mein Traummann vom Abend vorher durchquerte die Lobby! Er war ganz genau so fabelhaft wie ich ihn in Erinnerung hatte - besser, falls möglich. Diese herrlichen schlanken Hüften. Und dieser Gang! Aber schade, er schritt, ohne rechts und links zu schauen, vorbei an Sesseln und an Tischen voller Kaffeetassen, vorbei an den Kindern mit den flatternden Umhängen, an Leuten in Gruppen auf dem Fußboden und an elitären Verlegercliquen, und am anderen Ende hinaus, jeden Zentimeter des Wegs verfolgt von meinen Blicken.

Ich war nicht die Einzige in seinem Bann. Eine schicke Verlegerin verzwirbelte sich korkenzieherartig die Beine, weil sie nicht die Augen von ihm lassen konnte, und wäre fast umgekippt. Neben mir sagte Wendy: »O mein Gott! Siehst du das? Siehst du den? Hast du je einen so supertollen Typ gesehen?« Als es mir gelang, den Blick von der Tür loszureißen, durch die er verschwunden war, merkte ich, daß auch sie ihm hingerissen nachschaute. Sie hatte andächtig die Hände unter den mächtigen Brüsten gefaltet, und ihr Gesicht wurde abwechselnd blaß und rot.

»Fabelhaft«, stimmte ich zu. Meine untere Körperhälfte fühlte sich schwach an.

Dann erblickte ich Tansy-Ann, die, ein Flugblatt schwenkend, auf mich zusteuerte. Mit einem spitzen Schrei sprang ich auf, trotz weicher Knie, und ergriff die Flucht. Leute strömten in den großen Saal, wo Onkel Teds Podiumsdiskussion stattfinden sollte; ich ging mit ihnen hinein, sank auf einen Stuhl neben der Tür und fing an, darüber nachzudenken, daß ich anscheinend wirklich langsam über Robbie hinwegkam. Er hatte nie einen vergleichbaren Sturm von Gefühlen in mir ausgelöst.

Dann meldete sich ein Rest Vernunft, und ich erkannte, daß man Empfindungen dieser Art für Popstars hegt oder andere Leute, denen man nie zu begegnen erwartet, und ich beruhigte mich so weit, daß ich anfing, mich zu fragen, wer dieser Mann war. Und Ärger stieg in mir auf, als ich über das Flugblatt nachdachte und darüber, wer mir das angetan haben mochte. Mein erster Verdacht fiel auf Onkel Ted. Nicht, daß er mich blamieren wollte, doch es war ihm zuzutrauen, daß er gestern beim Abendessen die ein oder andere gönnerhafte Bemerkung über seine arme kleine Nichte fallengelassen hatte. Janine kam natürlich auch in Frage. Oder Mijnheer Kees oder Rick Corrie, die glaubten, mir einen Gefallen zu tun. Wer es auch gewesen ist, bei der ersten Gelegenheit werde ich ihm/ihr mit Genuß die Zähne in die Wade schlagen und zubeißen.

Nach und nach kehrte ich in die Wirklichkeit zurück und nahm wahr, was um mich herum vorging. Eine attraktive Dame im VIP-Kostüm stellte sich als Diskussionsleiterin vor - ich glaube, sie heißt Gianetti und ist Gastgeberin einer Talkshow im Fernsehen - und erzählte dem geneigten Publikum, Onkel Ted wäre der Meister des Schwarzen Humors und Frau Soundso neben ihm hätte ebenfalls etliche humorige Geschichten verfaßt und Mervin Thurless, der bei ihnen dort oben saß, sei berühmt für seinen Witz (ach ja?), und alle wollten jetzt über das Thema >Humor in der Fantasyliteratur< diskutieren. Man muß es Onkel Ted lassen - niemand wäre auf die Idee gekommen, daß er keine Ahnung gehabt hatte, über was er reden sollte. Er nahm sich einfach das Mikrofon und legte los. »Ein Buch schreiben ist ein Job wie jeder andere.« Nicht schon wieder diese Leier, betete ich, aber mein Flehen wurde nicht erhört. Nicht lange, und er sagte: »Sie müssen sich den Prozeß des Schreibens vorstellen, als ginge es darum, ein Fahrrad zusammenzubauen. Ich brauche einen Rahmen - also den Plot -, dann setze ich die Räder ein - die Personen und ihre Motive -, und dann baue ich die Gänge ein. Das sind die Gags. Größe und Konfiguration müssen genau stimmen, oder man tritt in die Pedale und - Hoppla! - die Kette springt ab.« Er wurde gelacht. »Deshalb plane ich meine humorigen Einschübe im voraus und bis ins kleinste Detail«, dozierte er weiter. »Das ganze Buch ist eine Maschine, genauestens konzipiert und geölt mit einem geschmeidigen Schreibstil.«

Und so weiter und so weiter. Dann meldete Mervin Thurless sich zu Wort und sagte, ja, ganz derselben Meinung, nur wäre für ihn der Humor mehr das Salz in der Suppe. Dann bestätigte auch die Frau, Schreiben wäre ein absolut mechanischer Prozeß, aber sie fügte hinzu (als schämte sie sich, es einzugestehen), manchmal brächten ihre Einfälle sie zum Lachen.

Darauf ergriff Onkel Ted wieder das Mikrofon und sagte, er lachte niemals: es wäre fatal.

Und Thurless gab seinen Senf dazu, indem er monierte, es wäre ohnehin schlechter Stil, über seine eigenen Gags zu lachen.

Mittlerweile war ich echt deprimiert. Ich dachte an Onkel Teds magische Fenster und kam zu der Erkenntnis, daß er wirklich und wahrhaftig niemals hindurchgeschaut hatte. Dieser zweite Schock nach der taktvollen Aufforderung im Flugblatt, doch nett zu der armen Maree mit dem gebrochenen Herzen zu sein, war zu viel für mich. Machte denn niemand sich die Mühe, einmal richtig hinzusehen und zu erkennen, daß man nicht alles und jedes danach beurteilen muß, ob es funktioniert oder die gewünschte Wirkung erzielt?

Um der Diskussionsleiterin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - sie wirkte ebenfalls ein wenig frustriert. Endlich sagte sie: »Aber wo bleibt dieses spezielle Element, das Wunder der Phantasie? Kommt niemals der Augenblick, wenn das Schreiben mehr wird als Malen nach Zahlen? Wird keiner von Ihnen je von einem lustigen Einfall überrascht und begeistert? Lassen Sie es mich aussprechen: Was ist mit Inspiration?«

Onkel Ted schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Wenn beim Schreiben etwas Brauchbares herauskommen soll, muß alles strikt im Rahmen bleiben. Man darf sich nicht gehenlassen, oder die Geschichte gerät außer Kontrolle, und das Produkt verkauft sich möglicherweise nicht.«

»Ich möchte noch weitergehen«, warf Mervin Thurless ein. »Wenn es eine Inspiration gibt, ist es Geld.«

»Exakt«, sagt Onkel Ted, natürlich. »Man wird dafür bezahlt, daß man die richtige Formel kennt, das Rezept.«

Ich stand auf und ging, und es war mir egal, ob die Tür hinter mir zuknallte.

Mir reichte es endgültig. Fahrräder. Formeln und REZEPTE. Bah!!

Während ich im Flur stand, Blitz und Donner im Gemüt, klickte leise die Tür, der Fatzke kam heraus und schloß sie behutsam hinter sich. Er sah zu meiner Überraschung genau so aus, wie mir zumute war.

»Geld!« sagte ich zu ihm. »Fahrräder!«

Er nickte. »Ja, ich weiß. »Welchen Preis hat Phantasie, ganz zu schweigen von Integrität? Und um Gottes willen, schieb nicht dauernd so energisch die Brille hoch, sonst bekomme ich das Gefühl, ich müßte die drei verteidigen, und dazu habe ich keine Lust. Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?«

So kam es, daß ich zu meiner fortgesetzten Überraschung mit ihm in der Ecke eines Korridors irgendwo an einem Glastisch Kaffee trank. Ich glaube, der Fatzke war selbst ziemlich überrascht; seine Augen hatten einen staunenden Blick hinter den goldgefaßten Gläsern. Trotzdem, nur um sicherzugehen, fragte ich ihn, ob er das Flugblatt gelesen hatte. Der staunende Blick verstärkte sich, und er fragte: »Die geben hier auch noch ein Flugblatt heraus? Hier wird ziemlich hart gearbeitet, nicht wahr?« Nun war ich überzeugt, daß er mir nicht aus Mitleid den Kaffee spendierte, und da ich immer noch kochte, erzählte ich ihm von Onkel Teds magischen Fenstern.

»Und alles, was er dazu sagte, war, daß sie den Wert seines Hauses steigern!« schloß ich. »Igitt! Pfui!«

»Vielleicht ist es ihm nur auf diese Art möglich, darüber zu sprechen«, glaubt der Fatzke abwiegeln zu müssen. »Sie müssen irgendeine Wirkung auf ihn haben. Immerhin hat er >Wert< gesagt, selbst wenn er den Ausdruck im Zusammenhang mit Geld gebrauchte. Unter Umständen fällt es ihm schwer, öffentlich über Dinge zu reden, die ihn als seltsam oder wundersam berühren. Er könnte Angst haben, daß die Leute glauben, er wäre ein Spinner oder Träumer.«

»Da sollte er drüber stehen«, meinte ich. »Und Sie haben eben gesagt, Sie wollten ihn nicht verteidigen.«

»Ja, richtig, aber - ich weiß von meiner Arbeit her, alles Planen und Wollen bringt mich nicht sehr weit, außer es kommt dieser Moment blitzartiger Erleuchtung, wenn wie durch ein Wunder plötzlich alles zusammenpaßt. Dann erscheinen mir die Dinge hell und klar, und die Ideen fliegen mir zu. Ihr Onkel und die anderen - sie müssen solche Augenblicke erleben, oder sie könnten nicht tun, was sie tun. Doch es ist furchtbar schwer in Worte zu fassen, und deshalb verkaufen sie sich als reine Handwerker und erzählen, was sie glauben, das die Leute hören wollen.«

»Netter Versuch«, sagte ich, »aber Dinge in Worte zu fassen ist ihr Job, oder nicht? Das sollten sie können. Was arbeiten Sie denn?«

»Ach, ich - hm - ich entwickle Computerspiele.«

»Klasse! Aliens subtrahieren? Zraaap, zraaap? Mir macht es Spaß, Aliens abzuschießen.«

Und er: »Kann ich mir vorstellen. Aber bei meinen Spielen kann man noch ein paar andere Dinge tun; sie sind ziemlich vielschichtig. Eine komische Vorstellung übrigens, daß ziemlich viele von ihnen auf der Grundlage von Büchern entstanden sind, die man hier auf dem Basar kaufen kann, wie ich höre, und ich habe kein einziges davon gelesen.«

»Aber das hätten Sie tun sollen!« Ich war entsetzt. Er sagte, er arbeitete nach den Wünschen der Vertreiberfirmen, und ich belehrte ihn, das sei nicht genug. Sobald wir ausgetrunken hatten, schleppte ich ihn zum Basar, von dem ich mich bisher tunlichst ferngehalten hatte. Wenn ich außer dem im Preis inbegriffenen Frühstück noch ab und zu etwas essen wollte, durfte ich nicht in den Bannkreis all dieser Bücher gelangen. Ich hatte nur einmal an der Tür gestanden und gelechzt. Doch es war in Ordnung, wenn jemand anders sie kaufte, stellvertretend - es befreite mich von dem Drang, mit meinem letzten Geld den Geist, statt den Leib zu nähren. Nun ja, fast. Ich überredete ihn, alles zu kaufen, was man einfach gelesen haben muß (Kaum zu glauben, er kannte nicht einmal I, Robot oder den Herrn der Ringe!) und ein oder zwei meiner besonderen Favoriten sowie die neuesten Werke von drei oder vier Autoren, die ich wirklich mag. Ich gedenke, sie mir von ihm auszuleihen. Wir sahen uns auch Schmuck und Drachen und Comics an (sie hatten einen alten Sandman, der mir noch fehlt, aber zu einem horrenden Preis) und dann die Stände mit Bildern. Zinka Fearon hatte einige schöne Sachen zu verkaufen, aber die gläsernen Aliens am Stand daneben waren scheußlich!

»Erinnert mich an den Pullover Ihrer Tante«, sagte der

Fatzke. »Sie ist Ihre Tante, nicht wahr? Die mit dem Vanillepudding auf der Schulter.«

»Ich fand, es sieht aus wie ein Ei. Ja, das ist unsere Janine.« Durch den Pullover wurde ich an das Frühstück erinnert, und ich versuchte, aus ihm herauszubekommen, weshalb er den verrückten Kroaten, der glaubte, Onkel Ted wäre der Malory mit dem Buch über die Ritter der Tafelrunde, so merkwürdig angesehen hatte. Doch er war aalglatt.

Er sagte: »Armer Kerl. Ich sah plötzlich, was der Krieg den Menschen antun kann.«

Ich wußte, er wich mir aus, aber mehr ließ er sich nicht entlocken. Hm. Ich kann nicht anders, als Nicks Beobachtung von gestern nacht mit diesem Blick in Verbindung zu bringen.

Wie auch immer, anschließend besuchten wir zusammen die Kunstausstellung. Wenn mir tags zuvor jemand erzählt hätte, ich würde mit dem Fatzken vor Gemälden stehen und angeregt plaudern, hätte ich dem Betreffenden ein blaues Auge verpaßt und ihn einen Lügner genannt. Es muß an der Atmosphäre bei diesem Con liegen. Wir diskutieren gerade über einige sehr gewagte Bilder von Zinka Fearon, als Mijnheer in den Ausstellungsraum geschossen kommt. Sofort stürzt sich der Fatzke auf ihn, hält ihn fest und sagt: »Habe ich Sie endlich gefunden! Wollen Sie mit uns zu Mittag essen?«

Mit uns? dachte ich.

Unter keinen Umständen, nicht mit Kees - abgesehen davon, daß der Fatzke betucht ist und bestimmt nur in dem teuren Hotelrestaurant ißt, und das kann ich mir nicht leisten. Also machte ich mich flugs in der entgegengesetzten Richtung davon.

In der Nähe des Aufzugs traf ich Nick. Er strahlte über das ganze Gesicht. »Bristolia hat ihnen gefallen«, jubelte er. »Und auch mein neues Wantchester-Spiel. Ich habe ein paar neue Ideen drin, auf die von ihnen noch keiner gekommen ist. Sie sagen, ich sollte richtige Computerspiele daraus machen lassen. Nur habe ich keine Ahnung, an wen man sich für so was wendet.«

»Aber ich - rede mit dem Fatzken«, sagte ich. Nick starrte mich an. »Er hat mir gerade erzählt, er ist Designer für Spielesoftware und kennt die meisten Hersteller und Vertreiber.«

»Wow!« sagte Vetter Nick. »Stell mich ihm vor!«

[2]

Aus dem Bericht von

Rupert Venables

Mir fällt auf, daß in den Notizen, die ich mir während des Cons gemacht habe, die Stunde mit Maree Mallory nur am Rande erwähnt ist. Da steht nur flüchtig hingekritzelt: Eine unbestimmte Anzahl Bücher gekauft, gefolgt von Mallory beunruhigend scharfsinnig, womit ich bestimmt nicht ihren Onkel gemeint habe. Selten einen solchen Krampf gehört, wie er ihn bei dieser Podiumsdiskussion heute von sich gegeben hat. Worauf ich anspielte, war der unbehagliche Moment, den Maree mir bereitete, als wir vor Zinkas Gemälden standen. Zinka malt exquisite, geschmackvolle Darstellungen von Menschen bei der Kopulation mit verschiedenen Arten fledermausflügliger Lebewesen. Zumeist handelt es sich um Angehörige der Spezies, die man immer häufiger findet, je weiter man sich vom Imperium aus Mehrwärts bewegt. Auch wenn ich selbst den gehörnten Männern nie begegnet bin, kenne ich ziemlich viele der anderen Geflügelten auf den Bildern - wenn auch bestimmt nicht so intim wie Zinka.

Maree sagte voller Bewunderung, und dieser Schluchzer in ihrer Stimme machte sich deutlich bemerkbar: »Man könnte wirklich glauben, sie wären nach dem Leben gemalt!«

Ich bemühte mich, nicht zusammenzuzucken. »Zinka hat eine lebhafte Vorstellungskraft«, sagte ich. Daraufhin schob Maree die Brille nach oben und schaute mich an. Sie scheint instinktiv zu wissen, wann ich versuche, etwas zu überspielen. Kurz darauf verschwand sie, als ich mir Cornelius Punt angelte, und ich wußte kaum, ob ich erleichtert war oder es bedauerte.

Punt war mir weder besonders sympathisch noch besonders unsympathisch, aber das ist bei der Auswahl eines neuen Magids ohnehin kein Kriterium. Wonach ich suchte, waren bestimmte Eigenschaften, die vorhanden sein müssen. Kees, wie er genannt werden wollte, verfügte zweifellos über einige davon. Er hatte den nötigen Grips. Das Reisestipendium hatte er für herausragende Leistungen an der Universität erhalten - wie er mir erzählte, war er aus Tausenden Bewerbern aus den ganzen Niederlanden ausgewählt worden. Doch es dauerte eine Weile, bis ich ihn so weit brachte, darüber zu sprechen. Er war unglaublich aufgedreht - ich nehme an, im Kommunikationsrausch durch den Con - und schien nichts anderes im Sinn zu haben, als den Clown zu spielen.

»Wir müssen halbe-halbe machen«, war das erste, was er sagte. »Ich habe kein Geld.«

»Aber das bedeutet, jeder übernimmt die Hälfte.«

»Genau das!« rief er, und seine Stimme schnappte vor Entzücken über. »Sie steuern das Geld bei und ich das Vergnügen meiner Gesellschaft.«

Ich erklärte mich einverstanden, und er machte sich daran, die teuersten Gerichte auf der Karte zu ordern, während ich versuchte, etwas Vernünftiges aus ihm herauszubekommen.

Bei den Scampi des ersten Ganges meinte er kauend: »Ich habe beschlossen, es ist ein feiner Spaß, in Maree Mallory verliebt zu sein. Es heißt, sie hat ein gebrochenes Herz, also besteht keine Gefahr für mich.«

Mir wurde heiß vor Ärger. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«

»Oh, ich weiß. Sie wird mich beißen. Oder kratzen.« Er gluckste. »Aber ich bin bekennender Masochist, also geht das in Ordnung.«

Fast wäre mir eine aufgebrachte Bemerkung entschlüpft. Nur merkte ich rechtzeitig, daß Kees mich mit Maree gesehen hatte und versuchte, aus mir eine Reaktion herauszukitzeln. Meine Vermutung wurde Gewißheit, als er hinzufügte und mich dabei aus den Augenwinkeln beobachtete: »Und sie ist ganz der Vater. Wahrscheinlich ist sie einer der Dämonen ihres Onkels in Menschengestalt.«

Ich ging darüber hinweg, aber ich fühlte mich beschämt. Wahrscheinlich ist die Eintragung über diesen Vormittag so kurz und knapp ausgefallen, weil ich zu meiner Bestürzung erkannte, daß ich Maree, von der ich gesagt hatte, nur über meine Leiche würde sie je ein Magid, jedem der anderen Kandidaten vorzog. Wenn nur nicht dieser Schluchzer in ihrer Stimme wäre ...

Mittlerweile ging mir Kees Punt mehr und mehr auf die Nerven. In gewisser Weise, dachte ich, wäre es eine gute Tarnung für einen Magid, für einen Spaßvogel gehalten und niemals ernst genommen zu werden, nur lenkte Punt zu sehr die Aufmerksamkeit auf sich - seine Stimme steigerte sich zum schrillen Diskant, wenn er wieder eins seiner unsäglichen Wortspiele vom Stapel ließ -, und das ist für einen Magid kein empfehlenswertes Verhalten. Wenn man erst die Blicke auf sich gezogen hat, bleibt nichts mehr lange verborgen. Aber Kees war jung. Es bestand die Hoffnung, daß er ruhiger wurde. Irgendwo hinter den Albernheiten mußte ein ernsthafter Charakter verborgen sein, dachte ich, während er mir mit gellender Signalpfeifenstimme verkündete, die Schrift auf seinem T-Shirt sei Elfisch.

Und ich denke immer noch darüber nach, ob ich Kees Punt ausreichend geprüft habe, denn während er sich mit Appetit über seine Becasse Supreme hermachte, wurden wir beide durch einen sich anbahnenden Disput unter den anderen Gästen abgelenkt. An dem Tisch hinter mir sagte Ted Mallory laut: »Und weshalb hätte ich es leugnen sollen, gottverdammich? Er hat es total verbockt. Ich habe den Gag genommen und verbessert, und ich schäme mich nicht, es zuzugeben. Bücher sind Allgemeingut - und er hatte kein Recht, so verdammt unhöflich zu sein!«

Kees’ blasses Gesicht bekam Farbe. Er hob die Hand, um meine Aufmerksamkeit auf das Gespräch zu lenken. »Ich liebe Klatsch und Skandale«, bekannte er mit entwaffnender Unverfrorenheit, »das da scheint ein fetter Brocken zu sein.«

An dem Tisch hinter ihm äußerte einer meiner amerikanischen Bekannten: »Also, wenn der Mann glaubt, er wäre beraubt worden, wie will er sich in das Autorenprojekt Gemeinsame Welt einfügen? Da läuft es doch so, daß einer einen guten Einfall hat, ein anderer greift ihn auf, und in null Komma nichts wird er mehr oder weniger variiert in jeder einzelnen Story verbraten. Nichts anderes hat Mallory getan. Thurless ist ein Arschloch.«

Von der anderen Seite des Speisesaals konnte man Thurless keifen hören: »Schamloses Plagiat, nenne ich das! Geistigen Diebstahl! Ich hätte nicht übel Lust, Mallory zu verklagen!«

Ich beobachtete Kees, sein lebhaft gerötetes Gesicht, die erhobene Hand. Er hatte das Zeug zu einem Magid, kein Zweifel. Ich konnte spüren, wie er den Lautstärkepegel aller Stimmen ringsum anhob, so daß auch von dem weit entfernten Thurless jedes Wort zu verstehen war. »Es ist ein Skandal!« gluckste er entzückt.

Wie es schien, hatten Maree und ich die Podiumsdiskussion zu früh verlassen, bevor es lustig wurde - Thurless war unvermittelt auf Mallory losgegangen und hatte ihn beschuldigt, die amüsantesten Szenen von Shadowfall aus einem im Jahr zuvor veröffentlichten Roman von Thurless gestohlen zu haben. Mallory hatte kein Hehl daraus gemacht. »Wenn ich das Rädchen, das ich brau- che, in jemandes verkorkster Maschine herumliegen sehe«, sagte er hinter mir, »erscheint es mir durchaus gerechtfertigt, es zu nehmen und nach den Regeln der Kunst zu benutzen.« Diese Einstellung entsprach seiner privaten Philosophie, aber kein Zweifel, daß es einen handfesten Streit gegeben hatte und nicht zu jedermanns Vergnügen.

Durch Punts Manipulationen hörte ich die Leiterin der Diskussion, Tina Gianetti, tränenerstickt zu Maxim Hough sagen: »Ich konnte sie nicht bändigen! Ich hatte Angst, sie würden sich über mich hinweg an die Gurgel fahren! Und bei einer Fernsehsendung hätte ich eine derartige Ausdrucksweise keinesfalls geduldet!«

Kees’ Augen leuchteten auf. »Ausdrucksweise? Was für eine Ausdrucksweise? Klartext, Tacheles, Fraktur, gespickt mit Fäkalinjurien? Jemand möge uns erleuchten!«

Tatsächlich drängte er Gianetti und die Amerikaner, zu wiederholen, was die Kontrahenten sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten. Ich konnte nicht mehr an mich halten. »Kees, tun Sie das immer, Leute manipulieren?«

»Nur, wenn ich etwas erfahren möchte«, gestand er unbefangen. »Für die Gerüchteküche und das Examen und so weiter.«

»Das ist ein Mißbrauch von Macht.«

»Ach, Sie sind ein Paragraphenreiter, ich habe es Ihnen angesehen. Aber was ist so schlimm daran?«

»Beim Examen wäre es zum Beispiel Betrug.«

»Alle betrügen«, sagte er, »wenn sie die Gelegenheit haben. Ich würde es nicht tun, wenn es um etwas Wichtiges ginge, eine Parlamentswahl oder so. Und das hier kann man sich doch einfach nicht entgehen lassen.«

Allmählich hegte ich ernsthafte Zweifel an der moralischen Integrität dieses Kandidaten. Vielleicht meinte er es wirklich nicht böse, aber konnte man darauf vertrauen, daß in zehn Jahren aus dem Spaß nicht Ernst geworden sein würde? Ich war ganz froh, als er auf seine Uhr schaute und sagte, er müsse gehen, für die Verleger den Laufburschen machen.

»Sie brauchen kein Dessert zu bestellen«, warf er über die Schulter zurück. »Ich bin süß genug.«

Ich ging ebenfalls, nachdem es mir gelungen war, einen Kellner heranzuwinken und meine Rechnung abzeichnen zu lassen. In jeder Hand zwei Tragetaschen mit Büchern, machte ich mich auf den Weg zum Ausgang. Thurless saß an dem Tisch neben der Tür. Ich hatte gehofft, mir ihn als nächsten vornehmen zu können, doch er war unverkennbar immer noch in Rage, nach der Hingabe zu urteilen, mit der er die Bratkartoffeln auf seinem Teller aufspießte. Man sah ihm an, wie er sich ausmalte, das sind Ted Mallorys Nieren, und das ist sein Herz, und sein Bart zitterte vor Wut. Trotzdem wäre ich stehengeblieben, um mich mit ihm bekannt zu machen, hätte nicht der andere Mann an seinem Tisch bei meinem Näherkommen den Kopf gehoben und mich angesehen. Es war der feindseligste Blick, den ich je auf mir gefühlt habe, und traf mich aus fahlen Augen, die gelb waren, wo sie hätten weiß sein sollen, dazu teilten sich in einem braungrau melierten Bart wulstige Lippen zu einem Zähnefletschen.

Der Mann war mir vollkommen fremd. Auf seiner Plakette stand GRAM WHITE, und ich glaubte, mich zu erinnern, daß Mrs. Janine Mallory beim Frühstück diesen Namen erwähnt hatte, mehr wußte ich nicht. Doch es konnte keinen Zweifel daran geben, daß er über ein starkes magisches Potential verfügte, dem von Thurless etwa gleichwertig. Und er haßte mich. Und er signalisierte mir, fernzubleiben. Ich ging einfach weiter, als hätte ich nichts bemerkt. In einem der zahllosen Spiegel des Hotels konnte ich sehen, wie ich, beide Hände voll, mit der Schulter die Tür aufdrückte, und niemand hätte mir angemerkt, daß irgend etwas Ungewöhnliches geschehen war. Ich gratulierte mir im stillen zu meiner Geistesgegenwart und Selbstbeherrschung. Erst draußen, als ich darüber nachgrübelte, was den Unsympathen bewogen haben mochte, mich so grimmig anzustarren, fiel mir ein, daß über seiner Stuhllehne ein grauer Kapuzenumhang gehangen hatte. Aha! Er war der Anführer dieser Prozession mönchischer Gestalten gewesen, denen man tags zuvor im Foyer betont aus dem Weg gegangen war.

Da ich eben die Signatur seiner Magie gespürt hatte, glaubte ich, auch den Grund für seine Animosität zu kennen: Er war einer von den beiden verantwortungslosen Nutzern des Nodus gewesen, und er mußte in mir denjenigen erkannt haben, der hinter ihnen sozusagen aufgeräumt hatte.

Ich ging stracks zum Basar. »Gram White?« fragte ich Zinka.

Sie saß inmitten ihrer Spiegel, Schatullen und geflügelten Figuren und aß ein großes Hot dog. »Schlechte Medizin«, gab sie mit vollen Backen Auskunft. »Ein Hiesiger, Inhaber der Waffenfabrik in Wantchester. Nimmt regelmäßig an diesem Con teil und leitet regelmäßig Esoterica in Universe Three. Am besten nicht einmal mit der Beißzange anfassen!«

»Danke«, sagte ich und überließ sie ihrem Imbiß.

Der nächste Weg führte mich zu meinem Auto. Durch den Küchenausgang trat ich in einen überraschend schneidend kalten Tag hinaus, durchstöbert von silbernem Schneegeflitter. Ich verstaute meine Tüten im Kofferraum, bevor ich in den Wagen stieg.

Scarlattis silbernes Tongeflitter wurde zu einem leisen Zirpen gedämpft. »Zeit wird’s!« sagte Stan. »Dein Telefon hat dauernd Laut gegeben, aber wie es scheint, habe ich darüber keine Gewalt, nicht wie über die Kassetten. Ich mußte es läuten lassen.«

»Tut mir leid, ich war beschäftigt. Stan, woher genau hast du diese Liste potentieller Magids bekommen?«

»Von der Großmeisterin. Wurde von Oben an sie wei- tergegeben, etwa zu der Zeit, als ich wußte, daß ich sterben würde. Warum?«

»Obere Kammer oder noch höher?«

»Nun, auf ihren Tisch kam es auf dem Dienstweg, wie das meiste andere auch. Aber die Angaben waren so ungenau, daß ich den Eindruck hatte, sie könnte von Ganz Weit Oben gekommen sein. Hat mich eine Menge Arbeit gekostet, dir daraus eine brauchbare Liste mit Namen und Adressen zu erstellen, kann ich dir sagen.«

»Dachte ich mir. Wir werden manipuliert, Stan, von Da Oben. Und es gefällt mir nicht. Ich kann nicht erkennen, was dahintersteckt. Kein einziger von diesen Kandidaten ist brauchbar. Punt ist noch der vielversprechendste, und er würde alles tun für einen Lacher. Der Kroate hat nicht alle Tassen im Schrank. Thurless macht Szenen wie eine Primadonna, und ich vermute, er ist der Schwarzen Magie zugeneigt. Fisk ist gräßlich, und du weißt, was ich von Mallory halte. Ich denke, wir zerreißen diese Liste und fangen noch einmal ganz von vorne an.«

»Sachte, sachte«, mahnte Stan. »Ich muß sie aus einem bestimmten Grund bekommen haben. Hast du mit jedem von ihnen ausführlich gesprochen?«

»Nicht mit Fisk oder Thurless«, mußte ich zugeben. »Und mit Gabrelisovic habe ich noch kein Wort gewechselt.«

»Dann muß einer von ihnen über verborgene Werte verfügen. Urteile nicht, bevor du ...«

Hier meldete sich mein Telefon. Am anderen Ende war Dakros, seine triumphierende Stimme durchdrang das Rauschen und Knistern der schlechten Verbindung. »Endlich erreiche ich Euch, Magid. Entschuldigt die Interferenzen. Ich bin in einem Landcruiser auf dem Weg zum Thalangia-Weltentor. Wir haben Knarros gefunden. Prinzessin Alexandra hat ihn ausfindig gemacht.«

»Wirklich?« Mehr als nur ein hübsches Lärvchen, rief ich mir in Erinnerung. »Wie ist ihr das gelungen?«

»Erinnert Ihr Euch, daß ich sie nach Thalangia geschickt hatte? Auf das Gut, das mein Onkel für mich bewirtschaftet? Nun, sie hat sich mit meinem Onkel und einigen Leuten dort unterhalten, und mein Onkel erwähnte zufällig, es gäbe eine religiöse Kolonie auf einem Berg in der Nähe, und jemand anderer fügte hinzu, sie wären Anbeter der Göttin im Dornbusch, wie seine Kaiserliche Majestät gewesen ist. Also stellte Alexandra behutsame Nachforschungen an. Offenbar leben dort oben Kinder oder wenigstens Jugendliche, doch man warnte sie, das Oberhaupt der Sekte ließe niemanden in die Nähe der Kolonie, außer man kommt als Händler, und auch diese dürfen nicht mit den Kindern sprechen. Also forschte sie weiter. Und heute hat ihr jemand berichtet, das erwähnte Oberhaupt sei ein despotischer Kentaur namens Knarros. Sie hat sich sofort mit mir in Verbindung gesetzt.«

»Knarros ist ein Kentaur!« rief ich. Also hatte es in den Animationen einen Hinweis gegeben.

Dakros lachte zufrieden. »Ja, kein Wunder, daß alle Menschen Hochstapler waren. Wie gesagt, ich bin in einem Cruiser auf dem Weg nach Thalangia, mit so vielen Männern, wie ich entbehren kann. Morgen abend werden wir vor Ort sein. Könnt Ihr am Fuß dieses Berges zu uns stoßen, Magid?«

»Eigentlich habe ich hier dringende ...«, begann ich, doch: »Wenn er ein Kentaur ist, muß ein Magid dabei sein«, flüsterte Stan mir ins andere Ohr. »Sag zu, und leg die Angelegenheit hier für eine Stunde oder so auf Eis.«

Ich seufzte. »Also gut. Gebt mir Noduspunkte und Koordinaten für den Berg. Welche Zeit?«

Wir einigten uns auf sechs Uhr abends, und ich legte auf. »Was heißt das, >wenn er ein Kentaur ist, braucht man einen Magid<?« fragte ich Stan.

»Wenn man sich mit Kentauren auskennt«, erklärte er, »ist es offensichtlich. Dieser Knarros genoß offenbar in hohem Maß das Vertrauen des Kaisers und hat sich nach dessen Tod nicht gemeldet. Daraus folgt, er hat sein Wort gegeben, das Geheimnis zu wahren oder nur unter bestimmten Bedingungen aus der Deckung hervorzukommen. Kentauren wie dieser können ausgesprochen pedantisch sein. Du wirst ihn überzeugen müssen, daß die Bedingungen erfüllt sind. Auf Magids pflegen sie zu hören, wenn auf niemanden sonst. Und er könnte selbst ein Kundiger sein. Das würde erklären, wie ...«

»Schon gut, du hast mich überzeugt. Ich bin kein Kentaur. Morgen gehe ich und verhandle mit Knarros, aber bis dahin habe ich hier noch einiges zu regeln.«

Ich stieg aus dem Auto, eilte im Laufschritt durch das Schneegestöber zum Hotel und begab mich noch einmal zum Basar. Auf keinen Fall würde ich so nachlässig sein wie Gram White und eine komplexe Gramarye auf einem starken Nodus wie Wantchester unbeaufsichtigt lassen.

Ich hatte die Schicksalsbahnen von vier Leuten im Hotel Babylon zusammengeführt, sieben, genaugenommen, wenn man meine hinzurechnete und Andrews und, wie ich annehmen mußte, Maree Mallorys ebenfalls - und unter keinen Umständen konnte ich das alles vor Samstagabend abschließen. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, mir die ganze folgende Woche dafür Zeit zu nehmen.

Zinka hatte mittlerweile ihr Hot dog aufgegessen und trank Tee. Zum Glück waren außer uns beiden kaum Leute im Raum. Ich trug ihr atemlos flüsternd mein Anliegen vor.

»Nein«, sagte sie. Sehr liebenswürdig eigentlich, doch es war, als würde man einen Eisberg rammen. »Laß das Imperium sausen, Rupert. Ohnehin ist Bestimmt, daß es untergeht. Ich bin in Urlaub, erinnerst du dich?«

»Aber du hast gesagt, in einem Notfall...«

»Dies«, Zinka hob den Zeigefinger, »ist kein Notfall. Dies bist nur du, der versucht, einem seit Wochen toten Leichnam Leben einzuhauchen. Ich wiederhole: Nein.«

»Ich kann unmöglich eine mehrfältige Gramarye unbeaufsichtigt lassen!« appellierte ich in flehendem Ton an ihr kollegiales Verantwortungsgefühl.

»Dann laß es. Oder wende dich an jemand anderen. Wie wär’s mit Stan?«

»Stan ist tot. Er ist tot und spukt momentan als Geist zu Cembaloklängen in meinem Auto.«

»Oh, dann will ich nichts gesagt haben. Tut mir leid, das wußte ich nicht.« Die Zeichen standen auf Tauwetter, doch ausgerechnet in diesem Moment fiel im wahrsten Sinne des Wortes der Schatten meines kroatischen Kandidaten über uns. Bevor ich etwas sagen konnte, beugte er sich nieder und schob sein hohlwangiges, fanatisches Gesicht zwischen uns. Zinka und ich zuckten beide instinktiv zurück.

»Ihr zwei habt den falschen Geruch«, sagte Gabreliso- vic. Seine große bläulich-rote Hand, höckerig und übersät von weißen Narben, erschien vor unseren Augen und zeichnete eins der virulenteren Symbole gegen Hexerei in die Luft. »Solche wie euch«, zischte er, »habe ich getötet mit meinen bloßen Händen und geworfen in ein Massengrab, viele Male in den Bergen meiner Heimat.« Er richtete sich auf und trat zurück. »Ich bei der Jagd folge der Witterung. Hütet euch. Ihr seid zuwider.« Damit wandte er sich ab und entfernte sich.

»Oha!« Zinka holte tief Atem. »Lange her, seit meiner letzten Begegnung mit einem echten Hexenspürer. Er muß ihrem Krieg eine faszinierende neue Dimension gegeben haben! Abgesehen davon ist er total verrückt, stimmt’s?«

Zinka ist eine ausgezeichnete Heilerin, deshalb fragte ich: »Besteht die Möglichkeit, daß du ihn wieder auf die Reihe bringst?«

»Nein«, sie starrte hinter Gabrelisovic her, der den Raum verließ. »Kein Chance. Nicht, nachdem er Menschen mit den bloßen Händen ermordet hat. Außerdem würde er auf mich losgehen, wenn ich es versuchte.« Und als ich den Mund aufmachte, um sie wieder wegen meiner Gramarye anzuflehen, fügte sie hinzu: »Es bleibt bei meinem Nein, Rupert. Ich pflege zu wissen, wann ich gebraucht werde, und jetzt werde ich nicht gebraucht. Hebe dich hinfort!«

Ich ging also und versuchte, mir eine andere Lösung einfallen zu lassen. Als naheliegend bot sich an, meine Arbeit hier soweit wie möglich zu beenden - wenigstens konnte ich mir das Gespräch mit Gabrelisovic sparen -, und dann Will zu bitten, den nächsten anderweltlichen Magid, mich zu vertreten, während ich mit Knarros verhandelte. Will war leichter zu erreichen als jeder andere Magid derzeit auf der Erde. Wie ich es mir ausdachte, schien es ganz einfach zu sein. Ich machte mich ans Werk.