Kapitel 6 |
Ich brauchte ungefähr zwei Stunden, um mich zu beruhigen. Erst mußte ich auf dem Pfad der Selbsterkenntnis so weit kommen, mir einzugestehen, daß ich mir selbst diese Enttäuschung eingebrockt hatte. Nicht nur hatte ich gehofft, Mallory würde sich als geeignet für die Aufnahme in den Zirkel der Magids erweisen, sondern ich hatte mir auf der Basis ihrer Persönlichkeitsaura das Bild eines tapferen kleinen Mädchens gemacht, von Schicksalsschlägen gebeutelt. Eltern geschieden, vom Herzallerliebsten verstoßen, sie hatte kein Geld und mußte bei einer gehässigen Tante wohnen, und zu allem Überfluß siechte ihr Vater (Adoptivvater, vermutete ich) an Krebs dahin. Ich war gewillt gewesen, das arme Kind nach allen Regeln der Kunst zu bedauern, doch all meine noblen Gefühle verpufften, als ich diese groteske, sackförmige Gestalt am Straßenrand herumhampeln sah. Und nach der Art, wie sie mich erst ignoriert und dann gemustert hatte, wäre ich am liebsten zu diesem ihrem Ex-Freund gegangen, um ihm die Hand zu schütteln und ihn zu beglückwünschen: ihm sei viel erspart geblieben. Er war sie los, ich war sie los - mit 100 £ war das nicht zu teuer bezahlt.
»Jetzt bereit, mit mir zu sprechen?« fragte Stan.
»Ja.«
»Was du tun solltest«, sagte er, »ist, all deine Kandidaten an einem Ort zu versammeln und sie auf ihre Eignung zu testen. Habe ich recht?«
Ich hatte brütend dagesessen, das Kinn auf der Brust, jetzt richtete ich mich auf. »Aber wie?«
»Die extreme Methode«, man hörte den belehrend erhobenen Zeigefinger aus seiner körperlosen Stimme heraus. »Manipulation der Schicksalsbahnen. Bring sie zu dir.«
»Ist das erlaubt?« Ich hatte angenommen, von dieser Methode dürfte man nur in Notfällen Gebrauch machen. Jede Maßnahme, die jemandes persönliches Leben berührte, ohne dessen Erlaubnis, durfte nur bei Vorliegen besonderer Umstände als letztmögliches Mittel in Erwägung gezogen werden.
»Allerdings, im Zusammenhang mit der Wahl eines neuen Magids ist es erlaubt. Das ist der springende Punkt. Im Grunde genommen tut man es ohnehin, zwangsläufig, wenn man jemanden anwirbt.«
»Also gut, aber nicht heute nacht«, sagte ich.
Was Stan vorschlug, war eine ziemlich mühselige Prozedur. Meiner Meinung nach ist es gut, daß die Methode so viel Arbeit erfordert, oder Magids - und andere Menschen - könnten sich versucht fühlen, aus trivialen Gründen zu diesem Mittel zu greifen. Leichtfertiger Mißbrauch könnte mehr als eine Welt ins Chaos stürzen - oder auch den Magid ins Verderben, wenn er nicht größte Sorgfalt walten läßt und die nötigen Vorsichtsmaßnahmen trifft. Wenn man nicht aufpaßt, kann es passieren, daß man unversehens die eigenen Schicksalsbahnen mit denen der Leute, die man beeinflussen will, verwoben findet. Ein Magid soll unabhängig sein. Zu der Initiation als Magid gehört unter anderem, daß die persönlichen Lebenslinien von denen des restlichen Universums isoliert werden. Ein ziemlich einsames Dasein, um die Wahrheit zu sagen.
Wie auch immer, ich wußte, es würde Tage dauern, und ich wollte nicht gestört werden. Am nächsten Tag erledigte ich all meine normalen Verpflichtungen (leicht verspätet - Mallorys Schuld) und trennte anschließend meine Telefone von den Leitungen dieser Welt und aller anderen. Ich schaltete alle Computer ab, inklusive des für Magid-Belange reservierten, und hängte das Äquivalent eines >Bitte nicht stören<-Schildes an letzteren.
Wenig erfreut stellte ich fest, daß während der Nacht mehrere Faxe von General Dakros eingegangen waren. Das erste verkündete triumphierend, seine Experten hätten die genetischen Codes in den zwei Listen entschlüsselt; somit wäre man in der Lage, die Erben, sobald sie gefunden waren, zweifelsfrei zu identifizieren. Das zweite sagte: noch immer kein Hinweis auf Knarros, das dritte, daß Jeffros glaubte, Knarros wäre durch Magie vor Entdeckung geschützt. Das vierte schließlich forderte mich kurz und bündig auf, zu kommen und Knarros für sie aufzuspüren.
Ich antwortete - ebenfalls kurz und bündig -, ich sähe nicht ein, weshalb sie mit der Geheimniskrämerei ihres Imperators seligen Angedenkens weitermachen wollten und riet ihnen, mit Hilfe der Medien nach Knarros zu suchen. Dann zog ich den Stecker heraus.
»Siehst du?« sagte ich zu Stan. »Kein bißchen sentimental.«
Dann suchte ich mir einen Globus, Stecknadeln und Baumwollfäden und machte mich ans Werk. Die erste Aufgabe bestand darin, in diesem Land einen Punkt zu finden, der für eine Zusammenführung meiner vier Kandidaten geeignet war. Weil es sich hier um Arbeit mit Schicksalsbahnen handelte, mußte der Ort ein Nodus der Macht sein (auf den Britischen Inseln existieren solche Nodi in erstaunlich großer Zahl), und die Entfernungen zwischen diesem Ort und jedem der vier Kandidaten mußte mathematischen Gesetzen genügen. Außerdem mußte es ein Ort sein, der für alle vier eine gewisse logische Anziehungskraft besaß. Obwohl sie durch eine Reihe bewirkter Zufälle an den betreffenden Ort geführt werden würden, durfte ich die Gesetze der Wahrscheinlichkeit nicht überstrapazieren, damit die drei, die ich am Ende nicht auswählte, keinen Verdacht schöpften.
Aus diesem Grund schloß ich alle exponierten Nodi aus, wie Stonehenge und die meisten Burgen oder dieses versteckte Tal in Derbyshire, und richtete mein Augenmerk auf Städte und Landhotels mit Konferenzräumen.
Bald saß ich zwischen Stapeln von Reiseführern und Informationsbroschüren und pendelte zwischen diesem und jenem Globus und den auf dem Boden ausgebreiteten Bezirkslandkarten hin und her. Ich brauchte einen mundanen, alltäglich scheinenden Nodus. Stan war mir bei der Suche eine große Hilfe. Sein Beruf als Jockey hatte ihn kreuz und quer durch das ganze Land geführt, zu Rennbahnen in den entlegensten Winkeln, und er kannte Hotels und Nodi, von denen ich nie gehört hatte.
Ich persönlich hatte gehofft, sie alle in London zusammenzuführen, aber das vertrug sich nicht mit den numerologischen Bedingungen. Ärgerlicherweise hätte es gepaßt, wäre Mallory noch dabei gewesen. Mallory - bei dem Gedanken an sie kam mir die Galle hoch. Wie hatte sie es wagen können, mich derart an der Nase herumzuführen! Wie konnte sie es wagen, sich immer noch als störendes Element in meine Pläne zu mischen, obwohl ich sie von der Liste gestrichen hatte!
Stan holte mich von der Palme herunter, indem er vorschlug, wir sollten einige Nodi in den Midlands prüfen. Ich dachte an Nottingham, aber wieder sprachen die Zahlen dagegen.
»Schade«, meinte auch Stan. »Nottingham ist ein Ort, wo früher oder später jeder einmal landet. Aus den verschiedensten Gründen, und genau das brauchen wir - einen Ort, der für jeden etwas bietet. Konzerte, Konferenzen, eine Rennbahn ... «
»Es gibt auch Gründe, Birmingham zu besuchen«, sagte ich, »aber der Nodus dort ist nur so groß wie ein Stecknadelkopf Was ist mit Stratford-on-Avon?«
»Zu viele Touristen. Und Wigan?«
Wigan war numerologisch ungünstig. Nach stundenlangem Diskutieren und Messen und Stöbern in Broschüren einigten wir uns auf ein mittelgroßes Städtchen namens Wantchester. Wir kannten es beide. Stan sagte, wegen der Rennbahn gäbe es dort mindestens zwei gute Hotels. Laut Stadtführer hatte Wantchester außerdem Räumlichkeiten für Tagungen zu bieten und eine Fabrik für Handfeuerwaffen, beides neu seit Stan oder auch ich dort gewesen waren. Stan erinnerte sich an Wantchester als ein hübsches, verschlafenes Städtchen. Meine Erinnerungen stammten aus Kindertagen, als die ganze Familie dort den Sommerurlaub verbrachte, und am unvergeßlichsten war mir der Fluß geblieben. Man hatte einen Angelwettbewerb für Kinder ausgerichtet, und da ich zu der Zeit ein begeisterter Angler war - ich muß ungefähr neun Jahre alt gewesen sein -, meldete ich mich sofort an. Ich angelte den ganzen Tag, ohne etwas zu fangen. Als ich gerade zum xten Mal die Schnur aus dem Geäst einer Weide herausfingerte, tauchte mein Bruder Will auf, der ebenfalls sein Glück versuchen wollte. Es ging ihm gegen den Strich, auf irgendeinem Gebiet von seinen jüngeren Brüdern übertrumpft zu werden.
Der Aufseher muß ausgesprochen guter Laune gewesen sein, er gab Will ein paar Instruktionen und ging seiner Wege. Will, auch hier erfolgreich, wie fast immer und überall, hatte fast sofort einen kapitalen Fisch an der Angel - meiner Angel - und brachte ihn mit perfektem Schwung ans Ufer. Dann wurde es dramatisch, denn Will konnte sich nicht überwinden, ihn zu töten, und ich ebensowenig. Der Fisch zappelte wie verrückt im Gras herum. Wir riefen nach dem Aufseher, aber der war außer Hörweite, und wir mußten allein irgendwie mit der Situation fertig werden. Mit vereinten Kräften gelang es uns, den Fisch vom Haken zu lösen, dann warfen wir ihn in den Fluß zurück, wo er auf der Seite liegend, mit schwach zuckenden Flossen an der Oberfläche trieb. Man sah, daß er sterben würde. Will, obgleich schon fast dreizehn, brach in Tränen aus. Auch ich fühlte mich gräßlich. Ich bemühte mich, den Fisch wieder aus dem Wasser zu holen, konnte ihn aber nicht erwischen. So standen die Dinge, als unser Bruder Simon vorbeigeschlendert kam. Simon verabscheut es, Lebewesen zu töten, deshalb war er der Veranstaltung ferngeblieben. Als er uns sah, Will tränenüberströmt und mich kreidebleich und bibbernd, watete er schnurstracks in den Fluß hinaus, griff sich den Fisch und schlug ihn mit dem Kopf gegen einen Stein. »Da«, sagte er und ging weiter. Meine Begeisterung für den Angelsport war nach diesem Vorfall erloschen. Will versuchte es nie wieder.
Als ich später zurückdachte, erschienen mir diese Erinnerungen an Wantchester einigermaßen unheilverkündend. Vielleicht war mir schon nicht ganz wohl, als wir die Wahl trafen, aber ich achtete nicht darauf, weil ich die Sucherei satt hatte. Wantchester erfüllte unsere Kriterien. Stan und ich kannten den Ort. Das genügte.
»Wantchester also«, sagten wir.
Der nächste Schritt war natürlich, hinzufahren und den Ort abzuchecken. »Ich wünschte, du könntest mitkommen«, sagte ich zu Stan.
»Du brauchst doch wohl keine Hilfe bei einer Stadtbesichtigung«, antwortete er. Seine Stimme klang indigniert. Ich merkte allmählich, daß Stan jedesmal einschnappte, wenn ich irgendwo ohne ihn hinging, also ließ ich die Sache auf sich beruhen.
Am nächsten Tag fuhr ich nach Wantchester und stellte fest, daß es dort immer noch recht nett war, trotz eines Systems von Einbahnstraßen und dem kalten Februarwind. Ich machte sogar einen Spaziergang am Fluß entlang, um der alten Zeiten willen. Da standen die Weiden, winterlich kahl, und braunes Wasser strudelte unter der Brücke hindurch, genau wie damals, aber der Uferweg aus meinen Jugenderinnerungen endete heute an der neuerbauten Fabrik. Also kehrte ich in den Ort zurück und lenkte meine Schritte zu dem großen Hotel, das ich an der anderen Seite des Marktplatzes gesehen hatte. An das Hotel konnte ich mich vage erinnern, obwohl wir in einer Pension gewohnt hatten, aber viel deutlicher hatte sich mir der Marktplatz eingeprägt, mehr eine sehr breite Straße, der tatsächlich seinem Namen entsprechend genutzt wurde. Zu meinem Entzücken war auch an diesem Tag der Platz - die Straße - voller Buden, und auf dem ganzen Weg zum Hotel schaute ich links und rechts auf Keramik, Obst und Kleidung, fast genauso wie als kleiner Junge.
Das Hotel hieß, zu meiner Bestürzung, Hotel Babylon.
Es gibt keine Zufälle, dachte ich und trat durch das Glasportal ins Foyer. Es war groß und in jeder Hinsicht gedämpft und das Interieur eine seltsame Mischung aus Moderne und Kleinstadttradition. Überall begegneten einem Spiegel, und die Dame hinter der Rezeption war Ausländerin, aber im Restaurant mit gutbürgerlicher Speisekarte saß die Landbevölkerung, die wegen des Pferdemarkts gekommen war, und die Bedienung sprach mit dem Akzent der Gegend. Während ich zwischen den Spiegeln Hühnchen und Champignonpastete aß, merkte ich, daß das Gebäude exakt auf dem Nodus stand. Immer besser. Nach dem Essen erkundigte ich mich, ob es möglich sei, für die Ostertage ein Zimmer zu reservieren. Stan und ich hatten uns auf Ostern geeignet, weil das ein magisch bedeutungsvoller Zeitnodus ist.
Von der Empfangsdame war keine vernünftige Auskunft zu bekommen, deshalb verlangte ich den Direktor zu sprechen. Der Mann hieß Alfred Douglas, aber das war nicht seine Schuld. Osterwochenende? fragte er. Es täte ihm sehr leid, doch für diesen Zeitraum wären sämtliche Zimmer für die Teilnehmer eines Kongresses reserviert.
Fast wäre ich gegangen. Vielleicht hätte ich es tun sollen - auf jeden Fall wäre alles ganz anders gekommen. Ich war kurz davor, Wantchester abzuschreiben und mein Glück mit einem anderen Ort zu versuchen, als mir einfiel zu fragen, was für ein Kongreß - in der Erwartung zu hören, es handle sich um Freimaurer, Sozialarbeiter oder eine Art Schulung von Firmenangehörigen.
Ein Konvent von Bücherfreunden, erklärte Mr. Alfred Douglas. Science Fiction und Fantasy - oder vielleicht lautete die korrekte Bezeichnung spekulative Fiktion. Diese Art Literatur jedenfalls, Sir.
Zufälle gibt es nicht, dachte ich staunend. Mervin Thurless war Science-Fiction-Autor. Den Informationen meiner amerikanischen Gewährsleute zufolge hatte Fisk einmal ein Seminar über das Schreiben von SF abgehalten. Ich wußte nicht, wie Punt und Gabrelisovic zu dem Genre standen, aber wenigstens die Hälfte meiner Kandidaten paßte ins Bild. Für zwei von ihnen war es die natürlichste Sache der Welt, diesen Kongreß in Wantchester zu besuchen.
»Aber das ist genau, wonach ich gesucht habe!« sagte ich.
Bei genauerem Nachfragen erfuhr ich, daß der Veranstalter dem Hotel volle Belegung für fünf Tage garantierte und die Buchung für die Teilnehmer erledigte. Mr. Alfred Douglas war gern bereit, mir Namen und Adresse und Telefonnummer des Mannes zu geben, an den man sich wenden mußte. Er hieß Rick Corrie. Ich rief ihn vom Hotel aus an. Er war sehr liebenswürdig. Mir gefiel schon seine Stimme, als er sich mit »PhantasmaCon, Hotelreservierung« meldete. Es entspann sich eine sehr angenehme Unterhaltung, in deren Verlauf sich herausstellte, daß Corrie wie ich in einem Büro zu Hause mit Computern arbeitete. Selbstverständlich könne ich an dem Kongreß teilnehmen, sagte er und nannte eine bescheidene Gebühr, für die er sich im nächsten Atemzug entschuldigte: Es schien, daß die Summe sich nach Weihnachten erhöht hatte. Er werde, sagte er, mir das Informationsmaterial und die Anmeldeformulare schicken und legte mir ans Herz, mich mit der Rücksendung zu beeilen, weil das Hotel schon weitgehend ausgebucht sei.
Ich gab ihm meine Adresse. »Und was, wenn alle Zimmer vergeben sind, bis Sie meinen Antrag haben?« fragte ich.
»Oh, wir versuchen, jeden unterzubringen«, antwortete er wohlgemut. »Viele Fans schlafen auf dem Boden - verraten Sie Alfred Douglas nichts davon -, aber ich habe das Station Hotel in der Hinterhand, zur Sicherheit, falls es doch einen Überhang gibt. Aber man sollte natürlich im Babylon wohnen, wenn irgend möglich. Dort spielt sich das ganze Geschehen ab.«
Ich versprach ihm, meine Anmeldung mit nächster Post zurückzuschicken und legte auf. Vor der Abreise nahm ich noch einige Feinabstimmungen vor, um sicherzustellen, daß meine vier Kandidaten ebenfalls im Babylon logieren würden. Dabei überkam mich aus heiterem Himmel - vielleicht eine Assoziation, ausgelöst durch den Gedanken an einen postwendend zurückgesandten Brief - wieder der Zorn auf Mallory, weshalb ich anschließend noch einige Justierungen durchführte, um ganz sicher zu sein, daß sie sich in keiner wie auch immer gearteten Weise in meine Pläne einschleichen konnte. Dann fuhr ich nach Hause, durchaus zufrieden mit meinem Tagewerk.
Es folgte eine Zeit intensiver Kleinarbeit, um die Schicksalsbahnen in genau die gewünschte Richtung zu lenken. Die Außenwelt drang nur einmal bis zu mir vor, in der Form eines wohlgefüllten DIN-A4-Umschlags von Rick Corrie.
Als ich ihn öffnete, wünschte ich mir, Fisk oder Punt oder Thurless hätten ähnlich prompt geantwortet (um die Wahrheit zu sagen, von keinem der drei erhielt ich je eine Antwort: entweder gingen meine Briefe unterwegs verloren, oder sie weckten kein sonderliches Interesse), und empfand wieder diesen unvernünftigen Zorn auf Mallory. So stark war das Gefühl, daß meine Hände regelrecht zitterten, als ich mir die von Corrie geschickten Schriftstücke näher anschaute.
Die versprochenen Anmeldeformulare, natürlich. Das für den Hotelaufenthalt war nicht weiter bemerkenswert - außer, daß ich gebeten wurde anzugeben, ob oder ob nicht ich zum Frühstück Pilze a la Farmer Maggot haben wollte -, aber das Formular für den eigentlichen Kongreß steckte voller Merkwürdigkeiten. Ich las: »Fans, die am Kostümwettbewerb teilnehmen wollen, vorher angeben, ob in dem Bereich Tier, Humanoid oder Sonstige. Wir haben dieses Jahr drei Gruppen.« Und weiter unten: »Beiträge für Phantasma Cuisine müssen bei der Ankunft genehmigt werden; die Hoteldirektion bittet, die Herstellung von grünem Schleim in den Zimmern zu unterlassen.« Und ganz unten: »Wir bedauern, Feuerwerk u.a. verbieten zu müssen, aber nach den Vorfällen im letzten Jahr sind die Prämien für die Versicherung zu sehr gestiegen.«
Während ich mich fragte, was im letzten Jahr passiert sein mochte, nahm ich mir das Faltblatt Fortschrittsbericht HI und starrte darauf. Offenbar sprach mein Gesicht Bände, denn Stan wollte wissen, was los sei.
>»Hobbits melden sich wie gewöhnlich bei Gandalf im Ops Room<«, las ich ihm vor. »>Esoterica mit dem Master Mage findet in einem noch zu bestimmenden Universum statt ... Filking1 wird dieses Jahr in Home Universe abgehalten... Der von Wendy Willow organisierte Autoren-Workshop entwickelt sich vielversprechend, doch es gibt Gerüchte, daß noch ein weiterer geplant ist. Wir halten euch auf dem laufenden ... Bumpkin hat sich bereit erklärt, die Abt. Games & Games Workshop zu leiten ... Keine Beschwerden über Betrügerei im Tarot-Seminar, bitte. Unsere neue Kartomantin ist eine echte Sensitive ... Noch Plätze frei im Basar; melden bei Eisenstein ... Für die Sicherheit verantwortlich zeichnen Hitler-Enterprises, und alle Schwerter sind bis Sonntag bei ihnen zu hinterlegen .. .< Stan, was sind das für Leute?«
»Ganz gewöhnliche Menschen, die Spaß haben wollen, denke ich«, antwortete er. »Niemand ist hundertprozentig normal, wenn man genau hinsieht. Aber eins steht fest - das künstlerische Potential bei ihnen ist gleich Null.« Er hatte recht. Die Broschüre zierten undeutliche Abbildungen von Magiern, Hexen und mit wenig mehr als dem Familiengeschmeide bekleideten jungen Damen. Alle waren ausgesprochen stümperhaft gezeichnet.
»Nun ja«, meinte ich und schickte Mr. Corrie einen Scheck.
Eine Woche später erhielt ich meine Quittung und die Bestätigung, daß ich nun offiziell Teilnehmer des Phan- tasmaCons sei, mit einem auf meinen Namen reservierten Zimmer im Hotel Babylon als Beweis.
Von diesem kleinen Intermezzo abgesehen war ich, wie schon gesagt, konzentriert bei der Arbeit, sowohl im Haus als auch in dem Schuppen hinten im Hof. Der Schuppen ist einer der Gründe, weshalb ich das Haus gekauft habe. Er ist groß und hell, und einer der Vorbesitzer hatte bereits einen schönen glatten Dielenboden gelegt. Ich stattete ihn mit Heizung aus. Dieser Fußboden ist wunderbar geeignet, um Symbole und Figuren zu zeichnen. Für die Arbeit mit Schicksalsbahnen braucht man unter anderem eine doppelte Ewigkeitsspirale, die verteufelt schwierig zu zeichnen ist. Nicht lange nachdem Corries Umschlag gekommen war, rutschte ich in meinen ältesten Kleidern auf dem Boden des Schuppens herum und hantierte mit Kreide und Wischlappen, zeichnete, löschte aus, verbesserte, hob einmal zufällig den Kopf und sah Andrew in der Tür stehen.
Er gab mit keiner Miene zu erkennen, ob er sich über meine seltsame Beschäftigung wunderte, sondern meinte in seiner geistesabwesenden Art: »Ich wollte nur fragen, wann du einmal Zeit hast, mich zu fahren.«
Ich hatte vergessen, daß sein Wagen in Reparatur war. Ergeben stand ich auf, klopfte mir den Staub von den Knien und verbrachte den Rest des Tages damit, ihn durch die Gegend zu chauffieren. Irgendwann unterwegs - entweder auf der Fahrt nach Cambridge oder Huntingdon oder zurück - äußerte ich beiläufig: »Ich zeichne mir beim Programmieren gern ein Schema auf.
Es ist hilfreich, einmal die Zusammenhänge bildlich vor Augen zu haben.«
Er darauf: »Mir kommen die besten Ideen, wenn ich spazierengehe.«
Noch einmal gutgegangen. Doch als ich am nächsten Tag meine Arbeit wieder aufnahm, umgab ich zur Vorsicht den Schuppen, das Haus, den Hof und auch den kleinen Vorgarten mit massiven magischen Barrieren. In der Überzeugung, nun nicht mehr gestört zu werden, fuhr ich fort mit meinen Kreidegraffiti.
Gegen Abend war ich soweit, die Spirale zu beschreiten. Dazu bedarf es ungeheurer Konzentration, zumal ich die Schicksalsbahnen von vier Menschen mit mir zog - nicht zu reden von meiner eigenen -, und man kann großen Schaden anrichten im Leben dieser vier Menschen und aufgrund der Komplexität des Gewebes auch dem Rest der Welt, wenn man einen Fehler macht. Ich bewegte mich einen Fuß vor den anderen setzend die Kreidelinien entlang, mit ausgestreckten Armen, um die Welt im Gleichgewicht zu halten, als ich einmal kurz aufschaute und eine Gestalt auf dem Bogen am anderen Ende stehen sah.
Ich konnte meinen Besucher nicht erkennen, er stand als Silhouette, gesichtslos in der Flut aus orangefarbenen Sonnenlicht, das durch das obere Fenster strömte. Kreidestaub und Staub aus der Scheune fingen das Licht ein und hüllten ihn in eine unwirkliche Aura. Er wirkte gewaltig.
Sie kennen das Gefühl, wenn der Magen plötzlich mit einem Ruck in den Keller fällt und man sich hohl und schutzlos fühlt. So ging es mir. Aber ich konnte nicht stehenbleiben, das wäre erst recht gefährlich gewesen. Mein erster Gedanke war: Zum Glück ist es nicht Mallory! Zugetraut hätte ich’s ihr. Dann dachte ich, es könnte Stan sein, sichtbar gemacht von den Staubschwaden. Aber die Gestalt war zu groß. Es dauerte einige Minuten, bis ich eine Stelle erreichte, wo das Sonnenlicht ihn aus meinem
Blickwinkel gesehen von der Seite traf. Da erkannte ich Andrew. Er stand einfach da und schaute, anscheinend völlig geistesabwesend, aber ich konnte seinen Blick auf mir spüren.
»Du dürftest nicht hier sein«, sagte ich, sobald ich mir ein Nachlassen der Konzentration erlauben konnte.
Er lächelte, und wie immer ließ dieses Lächeln ihn schlagartig hellwach und bewußt erscheinen - zu meiner größten Beunruhigung. Doch offenbar befand er sich trotzdem in einer Art Trancezustand, ich spürte es, als ich näherkam. Da er auf meinen Kreidelinien stand, mußte ich ihn bei den Oberarmen nehmen und beiseite schieben. Er bewegte sich wie ein Zombie und blieb genau auf dem Fleck stehen, wo ich ihn hingestellt hatte. Ich wanderte die Windungen am oberen Bogen ab und hoffte das Beste, doch als ich mich schließlich umdrehte und zu meinem Ausgangspunkt blickte, stellte ich fest, daß Andrew, während ich nicht auf ihn geachtet hatte, ebenfalls gewandert war und jetzt auf dem Bogen am unteren Ende stand. Dort schien ihm die Sonne golden in das leere, ernste Gesicht.
Verdammt! Ich mußte die Tatsache akzeptieren, daß Andrew sich irgendwie in den Schicksalsbahnen verheddert hatte, die ich manipulierte. Er selbst ahnte natürlich nichts davon. Wahrscheinlich hatte er sich eine Tasse Zucker borgen wollen oder was weiß ich, und war im falschen Moment gekommen. Als ich die Beschwörung beendet hatte, führte ich ihn in der Abenddämmerung über den Hof und schob ihn durch das Tor.
Er kam zu sich, sobald er meine Barrieren passiert hatte. »Danke«, sagte er, als hätte ich ihm den Zucker gegeben. »Bis zum nächstenmal.« Und ging an der Hecke entlang zu seinem eigenen Haus.
»Sieh’s von der positiven Seite«, meinte Stan, als ich ihm davon berichtete. »Es war nicht Mallory.«
»Verschone mich! Aber was glaubst du, habe ich ihm angetan?«
»Wer weiß. Ich habe nie von einem ähnlichen Vorfall gehört, aber vielleicht wurde nur nicht darüber gesprochen. Es kann nicht allzu schlimm sein. Hoffe ich. Wahrscheinlich läuft es darauf hinaus, daß unser Andrew den dringenden Wunsch verspürt, sich bei Gandalf im Ops Room als Hobbit zu melden.«
»Dein Wort in Gottes Ohr!« sagte ich.