Kapitel 23

Rupert Venables, Fortsetzung

Wir weckten Nick und Maree kurz vor vierzehn Uhr. Maree schien nach einem Blick auf Nicks noch fest geschlossene Augen zu befürchten, daß wir zu lange gewartet hatten. »Niemals ist er bis drei Uhr lebendig - und ich muß gehen und mich umziehen; diese Klamotten sind entsetzlich«, sagte sie.

Zinka reagierte schnell und bot an, Maree frische Sachen zu bringen. Wir wollten vorläufig vermeiden, daß sie in ihr Zimmer ging. Ich hatte den Rest des Vormittags versucht, ihren Computer zu entlausen und auch den von Nick. Mit dem Laptop war ich schnell fertig gewesen - es brauchte nur ein Tyrannisprogramm entfernt zu werden -, Marees Rechner aber war durch und durch verseucht mit dornigen, sterilen Trieben dieser Göttin der Tristesse. Das einfachste wäre gewesen, ihn en bloc zu entsorgen und Maree einen von meinen Computern als Ersatz anzubieten, doch spontan fiel mir nicht ein, wie ich das hinkriegen sollte, ohne daß sie erfuhr, daß ich mir ihre Dateien angesehen hatte. In den aktuellsten stand eine ganze Menge über mich, nichts davon schmeichelhaft.

Nick bereitete Maree eine Überraschung, indem er beide Augen aufschlug und den Imbiß verspeiste, den wir ihm gebracht hatten. Dann wollte auch er sich umziehen. Ich betrachtete ihn zum erstenmal genau und sah, daß seine Kleidung ebenso zerlumpt war wie Marees, überall zu kurz und zu eng, wie ausgewachsen, und aus seinen Schuhen lugten die Zehen hervor. Auch das hing offenbar mit Babylon zusammen, doch weder Nick noch Maree schienen geneigt, sich dazu zu äußern. Im Gegenteil, beide benahmen sich, als wäre ihnen verboten, über ihre Erlebnisse in der Schattenlandschaft zu sprechen. Als ich herauszubekommen versuchte, weshalb Maree so weit hinter Nick zurückgeblieben war, tauschten beide einen Blick geheimen Einverständnisses und schwiegen sich aus.

Will, Zinka und ich schauten uns gegenseitig an und verzichteten auf weitere Fragen.

Bevor wir losgingen, um Ted Mallorys Rede zu hören, fragte Maree, ob sie mein Telefon benutzen dürfe, um sich nach dem Befinden von Derek Mallory zu erkundigen. Sie nannte ihn ihren >kleinen dicken Paps< und der ganze Ton, in dem sie von ihm sprach, weckte in mir Zweifel, ob sie überhaupt wußte, daß er nicht ihr Vater war, geschweige denn, daß sie etwas von ihrer wirklichen Herkunft ahnte und in welcher Gefahr sie sich deswegen befunden hatte. Glückstrahlend ließ sie den Hörer sinken und schaute Nick bedeutungsvoll an.

»Er hat sich schon fast ganz zurückgebildet!« verkündete sie.

Nick sah keinen Grund, deswegen in einen Freudentaumel zu geraten. Er hatte sich etwas vom Herzen gerissen, und was immer es gewesen war, die Wunde schmerzte noch. Mir tat es leid für ihn. Fast wünschte ich, er wäre egoistisch genug gewesen, seinen Wunsch zu äußern - unter Garantie etwas, das sich nicht mit Dakros’ Plänen vereinbaren ließ. So aber lag es bei mir, etwas zu unternehmen. Während der Arbeit an den Computern war ich zu dem Schluß gekommen, daß Wills Vorschlag, Nick ein geis aufzuerlegen, vermutlich die einzige Möglichkeit darstellte, Dakros aufzuhalten. Doch nur in der allergrößten Not, dachte ich. Es mußte noch einen anderen Weg geben.

Kurz vor drei waren wir alle dem Anlaß entsprechend aufgebrezelt, ausgenommen Will, der sich nur in seinen ältesten Kleidern wohl fühlt. Ich war endlich dazu gekommen, mich zu rasieren. Zinka hatte, als sie Marees Sachen holte, die Gelegenheit genutzt, in ein fließendes grünes Samtgewand zu schlüpfen und war das bei weitern atemberaubendste Mitglied der Gruppe. Wir verließen geschlossen mein Zimmer. Rückblickend betrachtet, war das der letzte Moment, in dem ich die Ereignisse noch in irgendeiner Weise unter Kontrolle hatte.

Im Flur vor meinem Zimmer hatte sich eine große Menge Leute versammelt, allesamt beunruhigt und aufgeregt; im Mittelpunkt standen Mr. Alfred Douglas, der Hotelmanager, und Rick Corrie. Bei den anderen schien es sich um die übrigen Mitglieder des Kongreßkomitees zu handeln, mit der Ausnahme von Maxim Hough. Als wir aus meinem Zimmer traten, zeigte Mr. Douglas gerade zur Decke, auf eine große braune Stelle, wo Gram Whites Querschläger den Verputz abgesprengt hatte. Eins der Komiteemitglieder sagte grämlich: »Ja, selbstverständlich werden wir dafür aufkommen, vorausgesetzt, Sie können beweisen, daß der Schaden von einem Conteilnehmer verursacht wurde. Offen gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, wie ...«

»Aha!« Ihr Tonfall verriet, daß Zinka sich - bildlich gesprochen - die Ärmel hochkrempelte. »Überlaßt das mir. Ihr geht vor, ich komme nach.« Sie schob sich zu Rick Corrie vor, und im Vorbeigehen hörten wir sie sagen: »Sie sollten die Rechnung dafür an Gram White schicken. Er hat mit einem Revolver herumgefuchtelt, ich habe es gesehen. Soll ich für Sie mit dem Hotelmanager sprechen?«

»Um Himmels willen!« Corrie dämpfte erschrocken die Stimme. »Sagen Sie ihm bloß nichts davon! Er wird uns nie wieder einen Con hier abhalten lassen!«

»Vertrauen Sie mir.« Zinka ging zielstrebig auf Mr. Douglas zu. Weiß der Teufel, was sie ihm für eine Moritat aufzutischen gedachte, doch wie ich sie kannte, würde es etwas Überzeugendes sein. Wir gingen weiter zum Lift.

Zinka war noch nicht wieder zu uns gestoßen, als wir in den Konferenzsaal traten. Der große Raum war schon fast gefüllt. In den Reihen auf der gegenüberliegenden

Seite des Mittelgangs saßen die Menschen dicht an dicht. Ich erspähte Wendy und noch ein oder zwei Gesichter, die mir bekannt vorkamen, doch überraschend viele von den Leuten da drüben waren entweder in graue Kapuzenumhänge gehüllt oder trugen Rüstungen. Kettenhemden und gehörnte Helme beherrschten das Bild, aber auch Plattenpanzer waren vertreten - ein Potpourri aus allen Kulturen und Zeitaltern. Ich hörte, wie Nick Will darüber aufklärte - beide beäugten sehnsüchtig die Kostüme -, daß ziemlich viele Fans extra für das Turnier am Sonntag anreisten. Veteranen der erste Stunde und Neuankömmlinge, alle hatten ihren Spaß. Die meisten von ihnen waren mit Humpen oder Flaschen ausgerüstet, und von Zeit zu Zeit lief eine scheppernde La ola durch die Reihen, unter lautem Gebrüll und vehementem Schwenken einer langen weißen Fahne mit der Aufschrift SWORD & SORCERY.

Meine Seite war ebenfalls fast vollbesetzt, hauptsächlich mit Leuten, die mir während der Tage schon über den Weg gelaufen waren. Ich sah die Dame mit dem OOOKAY auf der Brust, meine amerikanischen Freunde vom Gemeinsame-Welt-Projekt, die Sängerinnen, die mein Gespräch mit Thurless unterbrochen hatten, und die drei wandelbaren Leute mit dem Baby, diesmal ganz normal in Jeans. Fast die einzigen freien Sitze befanden sich in der ersten Reihe. Komisch, daß niemand gern ganz vorne sitzen möchte. Nur Tina Gianetti und ihr Begleiter hatten dort Platz genommen, dicht am Mittelgang. Wie es schien, hielt Gianetti sich an ihren Schwur, niemals mehr die Gastgeberin für Ted Mallory zu spielen.

Kornelius Punt erhob sich von seinem Platz irgendwo in der Mitte und schaute starr zu uns her, als wir uns in die erste Reihe fädelten, aber das war ganz seine Art, deshalb dachte ich mir nichts dabei. Ich spürte auch, daß von der Gruppe der Gewappneten eine gewisse bedrohliche Macht ausging, aber das ist bei einer erregten Menge normal. Immer noch ahnte ich nichts Böses, ich überprüfte nur, ob wir die üblichen Schutzvorkehrungen getroffen hatten. Zu neunundneunzig Prozent war meine Aufmerksamkeit von dem launigen Wortgefecht mit Maree in Anspruch genommen. Beide genossen wir das Gefühl, daß hinter dem Geplänkel so viel mehr zwischen uns im Gange war.

Wir setzten uns hin, und die Männer mit den gehörnten Helmen begannen mit einem leisen, rhythmischen Singsang. Einer der drei Damen-und-Herren mit dem Baby bemerkte: »Das machen sie dauernd, wahrscheinlich trägt es zu ihrem seelischen Gleichgewicht bei.«

Ich grinste ihn oder sie an und sagte zu Maree: »Aber ich habe einen großen Hinterhof, da können sie nach Herzenslust herumlaufen.«

»Sie brauchen Wasser«, gab Maree zu bedenken. »Für Wasservögel ist es schlecht, wenn sie keine Gelegenheit haben zu schwimmen.«

»Kein Problem. Andrew, mein Nachbar die Straße hinunter, hat im Garten einen Teich. Ich bin sicher, daß er ihn den Enten zur Verfügung stellen wird.«

»Sie würden ihn wahrscheinlich okkupieren, ohne lange zu fragen. Ist er sauber?«

»Hm. Angesichts der Tatsache, daß Andrew Erfinder ist und zerstreuter als jeder Professor, wahrscheinlich nicht. Ich werde ihm sagen, er soll ihn reinigen lassen. Oder vielleicht sollten wir die Häuser tauschen.«

»Ich finde immer noch, du solltest dir in der Küche einen Teich anlegen. Wenn man Haustiere hält, muß man Opfer bringen.«

»Würde es nicht genügen, wenn ich einfach hinginge und mich in Andrews Teich stellte? Tag und Nacht, selbstverständlich.«

»O ja.« Sie nickte begeistert. »In deinem vornehmen Anzug und mit Wills Gummistiefeln.«

Wir lachten über dieses Bild, als plötzlich Janine vor uns stand, in einem neuen Pullover, der aussah, als befände sie sich in der Gewalt eines dämonischen Kopfsalats. Kleine grüne Perlen wibbelten wie Raupen auf ihrer linken Schulter. »Wie bist du hierhergekommen?« fragte sie Maree.

Maree schaute zu ihr auf und schob mit dem gestreckten Zeigefinger die Brille hoch. Ihre Miene wurde ausdruckslos. »Ich bin«, antwortete sie in ruhigem, sachlichem Ton, »nach Babylon gegangen. Und glaub nicht, du könntest so etwas noch einmal mit mir versuchen.«

»Pah«, sagte Janine, »es gibt andere Mittel und Wege. Und glaub nicht, du könntest Nick schaden! Das werde ich nicht dulden.«

»Ich hatte nie die Absicht, ihm zu schaden. Ich will nur dafür sorgen, daß du es nicht tust.«

Während Will und ich die beiden Frauen anstarrten, bestürzt über die unverhohlene Feindseligkeit, wandte Janine sich von Maree an ihren Sohn. »Komm mit, Schatz. Mutter möchte dich wenigstens einmal neben sich sitzen haben. Und wir wollen doch deinem Vater bei seinem großen Auftritt Ehre machen, nicht wahr?«

»Gleich«, sagte Nick gelassen, »ich will nur erst Mr. Venables wegen meiner Computerspiele fragen.«

Janines Augen glitten über mich hin wie eine Sense. »Bleib nicht zu lange, Schatz«, sagte sie und schritt in königlicher Haltung zu der ersten Reihe auf der anderen Seite des Mittelgangs; die Perlen auf ihrer Schulter verursachten ein Geräusch wie leises Zähneklappern.

Nick beugte sich an Maree vorbei zu mir hin. »Sie haben sich die Spiele angesehen, oder?« Ich nickte. Sie waren die Nummer eins in den Dateien gewesen, die ich am Vormittag gesäubert hatte. »Und was halten Sie davon?«

»Nun, um ehrlich zu sein, sie haben Möglichkeiten. Was mir an dem Bristolia-Spiel gefallen hat...«

In diesem Moment stieg Maxim Hough auf das Podium, gefolgt von Ted Mallory. Der Skaldengesang, der mir allmählich auf die Nerven ging, verstummte, und alle klatschten. Nick lehnte sich zufrieden zurück. Es war ihm gelungen, seine Mutter auszutricksen, und er wußte, ich hätte seine Spiele nicht gelobt, wenn ich es nicht ernst meinte. Ich sah, wie er und Ted Mallory einen Blick tauschten und sich gegenseitig angrinsten.

Ted Mallory machte einen leutseligen und gelassenen Eindruck. Ich hätte nicht geglaubt, daß er so nervös war, wie Maree behauptete, dann aber merkte ich, wie seine Augen suchend über die Gesichter im Publikum wanderten. Maree beugte sich vor, bis er sie entdeckte, und nickte ihm zu. Mallory schien erleichtert aufzuseufzen. Er lächelte und raschelte zufrieden mit den Blättern seiner Rede. Alles war jetzt bestens.

Und war auch noch bestens, als Maxim Hough seine blonde, ägyptische Pagenfrisur hinter die Ohren strich, sich ins Mikrofon räusperte und den Ehrengast vorstellte: » ... der als der beste lebende Autor von ernsthafter komischer Horrorliteratur eigentlich keiner Vorstellung bedarf...«

Alles schien in Ordnung zu sein, aber ich spürte ein Anwachsen feindseliger Magie. Sie brandete in kalten Wellen gegen mich, stieg höher und höher, drückte mein Herz zusammen und meine Lungen und verwandelte meine Nieren zu Eis. Anfangs fragte ich mich, ob es an einem übersteigerten Ego lag, wenn ich glaubte, diese Attacken wären hauptsächlich gegen mich gerichtet. Es wurde so schlimm, daß ich Mühe hatte zu atmen. Ich schaute zu Will und ertappte ihn dabei, daß er mir einen besorgten Blick zuwarf. Nein, es lag nicht an meinem Ego: Ich war das ausersehene Ziel.

Ich stemmte mich gegen die Flut und wünschte, Zinka würde sich beeilen und herkommen. Dies waren keine zufälligen Emanationen.

Der Böse Wille, oder was es war, ging von der Fraktion in Kapuzenumhängen aus. Als ich sie mir jetzt genauer anschaute, konnte ich sehen, wie sie sich im Rhythmus der Wellen sacht hin- und herwiegten. Aber sie gebrauchten Macht, die unwissentlich von den gewappneten Typen aufgebaut worden war - wenigstens hoffte ich, es war unwissentlich. Verflucht noch mal! Die ganze Aktion wurde dirigiert! Ich schaute mich suchend um. Gram White lehnte selbstzufrieden an der zweiten Tür, hinter den vermummten Gestalten. Er spürte meinen Blick. Als Ted Mallory sich erhob, um seine Ansprache zu beginnen, breitete White demonstrativ beide Hände aus - seht her, ich bin unschuldig. Er hatte einfach an die hundert Leute rekrutiert, um seine schmutzige Arbeit zu tun.

Ich fürchte, ich bekam kaum etwas von dem mit, was Ted Mallory sagte. Ich kämpfte gegen eine immer stärkere, eisige Brandung und bemühte mich, logisch zu denken. White konnte nicht der Organisator sein! Den Bedingungen des geis entsprechend, müßte er tot umfallen, wenn er eine solche Aktion auch nur in Gang setzte. Was geht hier vor? Vage hörte ich Mallory seine Lieblingsphrase anbringen, ein Buch zu schreiben sei ein Job wie jeder andere, was Maree mit einem ärgerlichen Zungenschnalzen quittierte, und einige seiner einleitenden Bemerkungen mußten lustig gewesen sein, weil in den Reihen hinter mir gelacht und geklatscht wurde. Doch in der anderen Hälfte lachte niemand, nicht einmal die Gewappneten. Die Vermummten wiegten sich wie in Trance - auch unsere Freundin Wendy, zu meinem Kummer -, und Wogen lähmenden, erstickenden Übelwollens spülten über mich hinweg. Ich bekam Unterstützung von Will, was mir etwas Luft verschaffte, so daß ich überlegen konnte, was ich tun sollte.

White delegierte, anders konnte es nicht sein. Er hatte irgend jemandem Lügen über mich erzählt und die Person dazu gebracht, dieses Ritual für ihn zu inszenieren. Also schleunigst herausfinden, wer diese Person war. Ich versuchte, eine massive Stasis in die angenommene Richtung zu lenken.

Es war erschreckend. Die Stasis wurde aufgesogen wie nichts. Sie hatte nicht die geringste Wirkung. Schlimmer noch, je mehr ich sie verstärkte, desto schneller verschwand sie und mit ihr meine Kraft. Wie Wasser durch den Abfluß. Das machte mir angst, Stasis ist eine meiner stärksten magischen Fähigkeiten. Von Panik ergriffen und kein Stan in der Nähe, um Besonnenheit zu predigen, fühlte ich mich von einer Strömung ergriffen und mitgezogen. Will legte mir die Hand auf den Arm, und die Berührung half, mich so weit zu beruhigen, daß mir der Einfall kam, den Sog als Wegweiser zu benutzen, um herauszufinden, wer...

Es war Tansy-Ann Fisk. Oder vielmehr, es war der graue seelische Smog, unter dem zu leben sie jedermann beschuldigte. Nun entpuppte er sich als eine große Wolke negativer Energie, die munter alles schlucken würde, womit ich sie fütterte. Weil ich sie jetzt im Visier hatte, konnte ich sogar erkennen, was Fisk zu tun glaubte. Jemand hatte ihr eingeredet, ich wolle mir heimlich die Welt Untertan machen. Auch Maree hatte mich zu Beginn unserer Bekanntschaft dessen verdächtigt, und wirklich kann leicht der Eindruck entstehen, wir Magids hätten derartige Ambitionen, solange man nicht genug weiß, um es besser zu wissen.

»Hilf mir, eine Mauer zu bauen«, sagte ich ächzend zu Will.

Darin lag Wills besonderes Talent, aber die anderen waren so zahlreich und so stark, daß wir Schwerarbeit leisten mußten. Wir kamen beide ins Schwitzen, aber die feindseligen Wellen zogen sich ein wenig zurück.

Zu einer Atempause reichte es nicht, denn zu unserem größten Verdruß sprang Kornelius Punt in den Mittelgang und betätigte sich vor den Reihen der Vermummten heftig gestikulierend als Einpeitscher. Ted Mallory schaute von ihm zu ihnen und runzelte die Stirn, während er in seiner Rede fortfuhr. Kornelius drehte sich schwungvoll herum und spornte wie ein Dirigent nun Will und mich zu größeren Anstrengungen an.

»Ich drehe dem Kerl den Hals um!« knirschte Will. »Das ist doch kein Spiel!«

Doch für Kornelius Punt war das ganze Leben ein Spiel. Ich verwarf den Gedanken, er könnte Whites Handlanger sein, und forschte zwischen den grauen Umhängen nach dem wirklichen Hintermann. Er mußte sich dort verstecken.

Mittlerweile waren Maree und Nick aufmerksam geworden und hatten gemerkt, daß sich etwas zusammenbraute. »Können wir irgendwie helfen?« fragte Maree leise, ohne den Blick von ihrem Onkel abzuwenden.

»Nimm meine Hand und die von Nick und denkt beide Kraft«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Sofort schloß ihre kleine feste Hand sich um die meine. Ich hörte sie flüstern: »Komm schon, Nick!« und spürte dankbar das Ergebnis als einen Zustrom von Energie und, von Maree, Freude darüber, etwas tun zu können. Nicks Anteil war regelrecht aufgeladen mit Erregung. Er wußte, er befand sich in einem echten magischen Zwist, und auf seine ruhigere Art war er davon fast ebenso berauscht wie unser holländischer Animateur.

Eben dieser merkte, daß wir Helfer verpflichtet hatten, und munterte wieder die andere Partei auf. Gram White lachte, er amüsierte sich prächtig. Sein Leutnant fand es weniger lustig. Mit dem Beistand von Nick und Maree waren wir stark genug, um eine der felsenfesten schützenden Kuppeln zu errichten, die Wills Spezialität sind. Der Leutnant sah sich gezwungen aufzustehen, er gab in scharfem Ton ein Kommando. Die Gewappneten fingen an, sich auf ihren Stühlen zu wiegen, und ein tiefes, an- und abschwellendes Summen stieg aus ihren Kehlen, düster untermalt vom dumpfen Klappern und Knarren der Rüstungen.

Verdammt! dachte ich. Das ist eine Anrufung von Macht.

Ted Mallory unterbrach sich und hustete in sein Mikrofon. »Darf ich vielleicht um Ruhe bitten?«

Danach eskalierte die Situation. Während Ted Mallory seine Fantasie um Orion weiterspann - Will und ich wünschten beide, er würde es bleibenlassen; seine Spekulationen tangierten ein Großes Geheimnis der Magids und lenkten uns ab -, schleuderte der Leutnant uns alles entgegen, was ihm zu Gebote stand. Durch das Summen und Klappern steigerte sich der Druck des Antagonismus derart, daß ich nichts weiter tun konnte, als meinen Teil der schützenden Kuppel aufrechtzuerhalten und aus dieser Deckung kurze Schläge gegen die von Kopf bis Fuß verhüllte Gestalt des Leutnants zu führen, um herauszufinden, wer er war una wo seine Schwächen lagen. Seine Vasallen, größtenteils Amateure, hatten Schwierigkeiten, die gestiegene Machtintensität zu beherrschen, Energie wurde frei und manifestierte sich auf physischer Ebene. Erst waren es faulige Gerüche, dann leuchtender giftgrüner Rauch. Als endlich halbtransparente Erscheinungen wie chinesische Drachen über unseren Köpfen schwebten, fing hinter mir das Baby an zu schreien und mußte hinausgetragen werden. Weitere Leute aus dem Publikum, ziemlich viele, wählten diesen Zeitpunkt, um den Saal zu verlassen, und wer wollte es ihnen verübeln. Bald tanzten blaue Funken knisternd über die Metallteile der Rüstungen. Behelmte Gestalten sprangen von ihren Sitzen auf und schlugen sich auf Brust und Schenkel. Der Aufbau der Macht wurde unterbrochen, Gelegenheit für mich, den Leutnant hart zu treffen. Seine Kapuze fiel zurück. Es war Thurless.

Eigentlich hätte ich es mir denken können.

Kornelius Punt war entzückt über die Manifestationen. Er geriet schier aus dem Häuschen, sprang auf und ab und feuerte beide Parteien an. Sein Gehampel war für Ted Mallory der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Die Gerüche und die Erscheinungen ließen sich zur Not ignorieren, nicht aber eine hopsende menschliche Gestalt. »Setzen Sie sich hin, verdammt!« schnauzte er.

Punt, nicht sonderlich eingeschüchtert, ging zu seinem Platz zurück, wo er aber keineswegs ruhig sitzenblieb, sondern übermütig auf seinem Stuhl herumkasperte.

Inzwischen war mir klargeworden, daß unser Heil in der Flucht lag. Thurless besaß magische Kräfte, die denen eines Magids gleichkamen, und war offensichtlich von White ausgebildet worden. Für Fisk galt das gleiche. Wir hätten es mit ihnen aufnehmen können, aber nicht, solange sie von einer mehr als hundertköpfigen Hilfstruppe unterstützt wurden, und nicht, solange Fisk einfach jede Stasis aufsaugte, die wir zu bewirken versuchten. Ich setzte flüsternd die anderen von dem bevorstehenden geordneten Rückzug in Kenntnis. Nick und Will waren sofort einverstanden, aber Maree sagte: »Armer Onkel Ted! Ich habe ihm versprochen, seine Rede bis zum Ende anzuhören!«

Unmöglich konnte ich weggehen und sie allein hier lassen, White und Janine ausgeliefert. Ich zuckte ratlos die Schultern. Vielleicht konnten wir durchhalten.

»Herrgott, sei kein Idiot, Rupert!« sagte Will. »Schnapp sie dir und trag sie nach draußen. Oder ich tu’s!« Schon war er aufgesprungen, hatte ihr die Arme unter Rücken und Knie geschoben und schwenkte sie von ihrem Stuhl in die Höhe. Sie quietschte überrascht.

Ted Mallorys verärgertes Gesicht wandte sich in Wills Richtung, dann flog sein Blick zur anderen Seite, wo seine Frau sich von ihrem Platz in der ersten Reihe erhoben hatte. Janine war nicht gesonnen, Maree davonkommen zu lassen. Sie warf den Kopf in den Nacken und stieß einen langen, heulenden Ruf aus:

»Aglaia- Ualaia!«

Ich erkannte den Namen ihrer dornenreichen Göttin. Thurless ebenfalls. Er fuhr herum, nickte Janine zu und wandte sich wieder an seine Helfer, um ihnen ein Zeichen zu geben. Einstimmig stießen sie das gleiche

Geheul aus: »Aglaia-Ualaia!« Wie Hofhunde bei Vollmond. Ein starker Ozongeruch hing plötzlich in der Luft, Indiz dafür, daß der Pegel der Macht um eine weitere Stufe angehoben worden war.

»Aber Janine, was soll das!« sagte Ted Mallory tadelnd, mit erhobener Stimme, um sich über den Lärm hinweg verständlich zu machen.

»Halt den Mund, Ted!« antwortete Janine kalt. »Begreifst du nicht, daß es hier um Wichtigeres geht als deine alberne Rede?«

Sie kam an der Plattform vorbei auf uns zu, mit langsamen Schritten und siegesgewiß. Sie kam, und mit ihr ein sprießendes, aufrankendes, sich rapide ausbreitendes Gewirr aus grauen, dornigen Zweigen. Wir befanden uns ebenfalls in dem freien Raum vor dem Podium und wichen zurück, aber auch hinter uns wuchs die Dornenhecke in die Höhe und wucherte durch die Stühle, von denen wir eben aufgesprungen waren. Will und ich konnten nichts anderes tun, als die Stellung zu halten und alle Energie darauf zu verwenden, die Stärke unserer Schutzhülle zu verdoppeln. Der beschwörende Gesang von Whites Vasallen hatte diesen Aspekt der Göttin in die Wirklichkeit herübergeholt. Das Gezweig breitete sich raschelnd und knisternd aus, schob sich den Gang entlang - wo Tina Gianetti in panischer Angst die Flucht ergriff und ihren ungläubig dreinschauenden Freund am Kragen seines Anzugs hinter sich her zerrte - und hatte in Blitzesschnelle den Rednertisch überzogen, als Janine daran vorbeiging. Maxim, der nach dem Mikrofon griff, um den Versuch zu machen, die Ordnung wiederherzustellen, mußte erleben, daß die Zweige sich an seiner Hand festkrallten und Wurzeltriebe sich in sein Fleisch bohrten. Er riß die Hand zurück und schlug nach den daran haftenden, dornenstarrenden Ranken. Auf seinem Gesicht mit dem weit offenen, stummen Mund malten sich Grauen und Schmerz. Ted Mallory war zur Seite gewichen und entfernte sich jetzt rückwärtsgehend

Schritt für Schritt; er konnte den Blick nicht von Hough losreißen, und sein Gesicht war käsebleich.

Grauen und Schmerz waren die Gaben der Göttin an ihre Anhänger, Janine hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie Maxim. Sie war selbst fast vollständig ein Dornenstrauch geworden, als sie unsere geschützte Enklave erreichte.

Maree sagte: »Den Alle-Guten-Geister-Tanz, Nick, schnell!« und wand sich aus Wills Armen. »Ihr zwei macht auch mit, los!« Sie schnippte mit den Fingern, stellte sich in Positur und begann mit dem lächerlichen Tanz, der mich zweimal zuvor so gewaltig auf die Palme gebracht hatte. Nick, obwohl käsebleich wie Ted Mallory und am ganzen Leib zitternd, folgte sofort ihrem Beispiel.

Und es wirkte. Bei dem ersten idiotischen schnipp, schnipp, schnipp hörte das Gestrüpp auf zu wachsen. Wir standen auf einer kleinen, kreisrunden Lichtung, gerade groß genug für uns vier, und graue, blattlose Dornenranken wanden sich über die unsichtbare Mauer. Will und ich beeilten uns, Marees Anordnung zu befolgen. »Glück, Glück, Glück!« skandierten wir. Schnipp, schnipp, schnipp. Albern wie es war, es machte auch Spaß.

Beim zweiten Durchgang jedoch konnte ich durch den Dornenverhau hindurch die gewappneten Männer von ihren Plätzen aufstehen sehen und wie sie ihre Schwerter zogen, allen voran Gabrelisovic, zähnefletschend und angetan mit einer Rüstung, die mindestens eine Nummer zu klein für ihn war. Er übernahm die Führung, und die anderen folgten ihm. Sie taten es verwirrt und zögernd, aber sie taten es, zückten ihre Waffen und marschierten auf uns zu. Thurless hatte sie als Unterstützung für Janine auf uns losgelassen. Ich sah meine Hoffnungslosigkeit in Wills Augen widergespiegelt, als unsere Blicke sich trafen. Diese ganze Aktion zielte darauf ab, mich und Maree zu eliminieren. Ohne uns hatte Dakros nichts gegen Janine oder White in der Hand und würde höchstwahrscheinlich aus reiner Verzweiflung Janine als Kaiserin akzeptieren.

Wir tanzten weiter, standhaft, wenn auch ohne Hoffnung. Unmöglich konnten Will und ich allein die Dornengöttin und ihre Anhänger und auch noch das Schock Männer mit Schwertern zurückschlagen. Vorläufig waren letztere noch keine unmittelbare Bedrohung, doch jedesmal, wenn sie nach einer Drehung und dem schnipp, schnipp, schnipp wieder in mein Blickfeld kamen, waren sie nähergerückt und entsprachen mehr dem Bild einer wilden Horde mit ihren Rüstungen, Helmen und Schwertern - klobige, schwere, unangenehm brauchbare Schwerter. An der Spitze schritt Gabrelisovic, ein hünenhafter Recke. Jedesmal, wenn ich ihn sah, schwang er seinen Flamberg mit größerer Wildheit und steigerte sich mehr und mehr in eine berserkerhafte Wut hinein. Der Ausdruck auf seinem Gesicht jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Und jedesmal, wenn ich nach einer Drehung den Teil der Dornenhecke vor mir sah, der Janine war, hatte sie sich weiter verwandelt. Die riesenhaften Umrisse einer sardonischen alten Frau manifestierten sich um und über der menschlichen Gestalt inmitten der Dornenhecke. Sie schmiegte sich an unsere Schutzhülle und wartete geduldig, bis sie real genug war, um ihre Schößlinge hindurchzubohren und uns den Garaus zu machen.

Und ihr Plan ging auf. Graue Zweigspitzen schnellten durch die Hülle und reckten sich nach uns, als das ganze Dickicht in einer prasselnden Feuerwalze aufloderte und verging. Flammen brandeten über unsere schützende Kuppel hinweg und ein Hitzeschwall. Wir hörten auf zu tanzen und mußten husten.

Als ich wieder Augen und Ohren für meine Umgebung hatte, war von dem Dornengestrüpp nur noch eine breite schwarze Bahn zu sehen, die sich über das weiße Tuch des Rednertisches zog, den Mittelgang hinunter und an der vordersten Stuhlreihe entlang. Janines Leichnam lag genau in der Mitte der schwarzen Fläche. Sie hatte kein Haar mehr, und in ihrem verkohlten Gesicht klafften tiefe rote Schrunden.

Komisch! dachte ich. Sie sieht aus wie jemand, der von einem koryfonischen Strahlengewehr getötet wurde.