Kapitel 21

Blair war davon überzeugt, daß sie noch nie in ihrem Leben so niedergeschlagen gewesen war wie in diesem Moment. Vielleicht war es eine Kombination von Hunger, Durst, Angst und überspannten Nerven; doch ihr schien es plötzlich so, als hätte es in ihrem Leben kaum einen Menschen gegeben, der sie wirklich gemocht hatte. Ihr Stiefvater konnte sie nicht leiden; ihr Studienfreund — der einzige Mann, der sich für sie interessierte — hatte sie am Ende sitzenlassen, und ihr Ehemann liebte nun eine andere Frau.

Vielmehr liebte er diese schon immer. Sie glaubte nicht ernsthaft daran, daß sie ihn zurückgewinnen konnte.

Zurückgewinnen? Sie hatte ihn ja nie besessen.

»Ich muß mal ins Häuschen auf den Hof«, murmelte sie zu Françoise gewandt, als die Frau mit hereinbrechender Dämmerung in die Blockhütte zurückkam. Blair hatte so lange damit gewartet, wie es irgend ging, weil ihr Françoise beim letzten Mal einen ihrer Banditen als Wache mitgegeben hatte. Und dann hatte sie diesen dabei ertappt, wie er sie durch ein Astloch beobachtete.

»Ich werde dich diesmal begleiten«, sagte die Französin und löste die Knoten an Blairs Handgelenken.

Als Blair vom Stuhl aufstand, wurde es ihr schwarz vor den Augen. Die mangelhafte Blutzirkulation hatte ihre Beine absterben lassen, und sie fror entsetzlich.

»Komm«, sagte die Frau und riß Blair am Arm. »Du hast nicht so müde ausgesehen, als du die Schluchtwand hinaufgeklettert bist.«

»Vielleicht kommt meine Müdigkeit davon«, sagte Blair, als die Frau sie mehr aus der Hütte zerrte als führte.

Das Häuschen befand sich in der Nähe des Zugangs zur Schlucht, als wollte jemand diesen übelriechenden Ort zugleich als Wachhaus benützen. Blair ging hinein, während Françoise, ein Gewehr über der Schulter, vor der Tür Wache stand.

Kaum hatte Blair die Tür hinter sich zugezogen, als sie einen leisen, erstickten Schrei hörte. Neugierig, aber auch mit dem bangen Gefühl, daß etwas Schreckliches passiert sein mußte, beugte sie sich vor und legte das Auge an das nun willkommene Astloch. Im nächsten Moment wurde außen an der Tür gerüttelt, und da sie von innen verriegelt war, schlug eine mächtige Faust dagegen, der das morsche Holz nicht gewachsen war. Ehe Blair sich aufrichten und nach einer Waffe umsehen konnte, hörte sie draußen Schüsse fallen.

Die Hand, die durch die zerschmetterte Tür langte, fummelte am Riegel. Blair spannte alle Muskeln an, um den Mann anzuspringen, der in das Häuschen eindringen wollte.

Als die Tür aufschwang, machte sie einen Satz und prallte gegen die breite, harte Brust ihres Schwagers Kane Taggert.

»Laß das!« befahl er, als sie begann, mit Fäusten auf ihn einzutrommeln. »Komm — wir müssen hier weg, ehe die anderen merken, daß du nicht in der Blockhütte bist.«

Blair beruhigte sich und blickte auf Françoise hinunter, die Taggert unter seinen linken Arm geklemmt hatte wie einen Sack Mehl. »Ist sie verletzt?«

»Nur eine Beule am Kinn. Sie wird nach einer Weile schon wieder zu sich kommen. Komm — lauf jetzt!«

Blair rannte durch den schmalen Durchgang in der Felswand, sich unter den Kugeln duckend, die von allen Seiten zu kommen schienen. Hinter ihr die mächtige Gestalt von Kane, und sie fragte sich, wer denn oben auf der Steilwand lag und in die Schlucht hinunterschoß. Sie hoffte nur, daß es nicht Houston war.

Kane warf die bewußtlose Françoise über den Sattel seines Pferdes. »Mit der hatte ich nicht gerechnet. Nun du«, sagte er, faßte Blair um die Taille und setzte sie hinter dem schlaffen Körper der ohnmächtigen Französin in den Sattel. »Sag Westfield, daß ich noch eine Weile hierbleibe und die Leute in der Schlucht beschäftige. Ihr drei reitet weiter zu meiner Berghütte. Wir treffen uns dort.« Damit gab er dem Pferd einen Schlag auf die Hinterbacke, daß es mit Blair und der bewußtlosen Französin den Hügel hinauftrabte.

Blair war erst einige Meter weit geritten, als Lee hinter einem Baum hervorsprang und nach den Zügeln faßte. Mit einem Grinsen, das von einem Ohr zum anderen lief, sagte er: »Wie ich sehe, bist du wohlauf.« Dabei legte er eine Hand auf ihr Bein und streichelte es.

»Sie ebenfalls«, sagte Blair so hochmütig, wie es ihr unter den gegebenen Umständen gelingen wollte, und übermittelte ihm dann Kanes Botschaft. »Ich bin sicher, du hast Taggert aufgetragen, daß er sie für dich retten soll.«

Leander stöhnte nur und blickte dann auf die Frau hinunter, als sähe er sie zum erstenmal. »Ich hasse es, dich danach zu fragen — aber ist das die Französin, die diese Bande von Kidnappern anführt?«

»Ich bin sicher, du weißt so gut wie jeder andere, wer sie ist. Sag mal — hast du mich von dieser Bande entführen lassen?«

Leander schwang sich auf seinen Hengst. »Nein; aber es könnte gut sein, daß ich einen tödlichen Unfall für meinen Vater organisiere. Wir wollen jetzt keine Zeit verschwenden. Taggert sagt, dort oben auf dem Berg gäbe es eine versteckt liegende Hütte, wo wir uns aufhalten sollen, bis er mit dem Sheriff und einer Wache wiederkommt. Hör auf, mich mit diesen Blicken zu durchbohren, und folge mir!«

Blair bemühte sich, das mächtige Pferd bergan zu treiben; aber das war gar nicht so einfach. Françoise kam bei der Bewegung des Pferdes wieder zu sich und fing an zu stöhnen. Das machte wiederum den Wallach scheu, und Lee hielt seinen Hengst an und blickte auf die beiden Frauen zurück. Als er Blairs Gesicht sah, blickte er kopfschüttelnd zur Seite. Dann hob er die Französin auf sein Pferd und warnte sie, sich ruhig zu verhalten, wenn sie wüßte, was gut für sie sei.

Blair streckte die Nase in die Luft und hielt Abstand zu den beiden.

Kane, der eine Abkürzung über einen Felsen nahm, der für Pferde nicht begehbar war, stieß auf halber Höhe des Hanges wieder zu ihnen.

Leander stieg ab, blieb aber in der Nähe seines Pferdes —    und dieser Françoise. »Was ist los?« fragte er.

»Sie verfolgen uns«, sagte Kane und nahm einen Schluck Kaffee aus seiner Feldflasche. »Ich vermute, sie werden nicht eher abziehen, bis sie die wiederhaben.« Er deutete mit dem Kopf auf Françoise. »Ohne sie sind sie nicht viel wert, glaube ich.« Kane betrachtete die Frau, die nun sehr gerade auf Lees Pferd saß. »Paß gut auf sie auf. Sie ist ziemlich gerissen.«

»Ich werde sie nicht aus den Augen lassen«, sagte Lee. »Ich glaube, die Kerle vermuten uns auf dem Weg nach Süden - zurück nach Chandler. Also sind wir hier relativ sicher. Aber du wirst es schwer haben, durchzukommen. Warum, zum Henker, hast du sie mitgenommen? Sie wird uns nur Scherereien machen.«

Kane schraubte seine Feldflasche zu und zuckte mit seinen breiten Schultern. »Ich stand hinter ihr, und zuerst glaubte ich, sie sei ebenfalls von den Banditen entführt worden. Doch dann drehte sie sich um, und ich sah das Gewehr auf ihrer Schulter. Da habe ich ihr einen Kinnhaken gegeben. Ich dachte, sie könnte uns von Nutzen sein.«

»Das klingt vernünftig; aber es schmeckt mir gar nicht, daß ich jetzt auf sie aufpassen muß, bis du zurückkommst. Ich hätte nichts dagegen, ein Dutzend Männer zu bewachen —    aber zwei Frauen?«

Kane legte Lee die Hand auf die Schulter. »Ich weiß - du bist nicht zu beneiden. Wir sehen uns in ein paar Stunden wieder, Westfield. Bis dahin — viel Glück.« Er hob Blair von seinem Wallach herunter, schwang sich in den Sattel, ritt bergab und war schon nach wenigen Sekunden ihren Blicken entschwunden.

»Warum reiten wir nicht mit ihm?« fragte Blair.

»Wir wußten nicht, in welcher Verfassung du bist, und deshalb beschlossen wir, dich hier in der Nähe in einer Berghütte unterzubringen, während Taggert den Sheriff alarmieren und mit einer Wache hierherbringen sollte.« Lees Augen leuchteten auf, während er einen Schritt auf sie zukam. »Ich dachte, vielleicht hätten wir dort ein bißchen Zeit für uns.«

Sie schienen beide die Gegenwart von Françoise vergessen zu haben, obwohl Lee noch den Zügel seines Pferdes, auf dem sie saß, fest in der Hand hielt. Das Gelände, auf dem sie sich befanden, war zu steil und zu zerklüftet für einen Fluchtversuch.

Die Französin glitt vom Pferd und schob sich zwischen Blair und Leander, die sich aufeinander zubewegten, als würden sie von einem Magneten angezogen.

»Oh, Leander, chéri, mein Liebling«, sagte sie, schlug Lee die Arme um den Hals und drückte ihren Körper gegen den seinen. »Du mußt ihr die Wahrheit sagen. Wir können das, was wir füreinander empfinden, nicht länger vor ihr geheimhalten. Sag ihr, daß du nur mich begehrst. Sag ihr, daß die Entführung dein Plan war!«

Blair machte auf den Absätzen kehrt und lief den Berg hinunter.

Leander sah sich nun mit dem doppelten Problem konfrontiert, die dunkelhaarige Frau abzuschütteln, die ihn mit ihren Armen umklammerte, und seine eifersüchtige Frau daran zu hindern, den Banditen in die Arme zu laufen, die nach ihnen suchten. Da er die Französin nicht freilassen durfte, hielt er sie am Handgelenk fest, und mit der Rechten sein Pferd hinter sich herziehend, machte er sich daran, seine Frau zu verfolgen.

»Liebling«, rief die Französin, während Lee sie mit sich bergab schleppte, »du tust mir weh. Laß sie laufen. Du weißt, daß sie dir nie etwas bedeutet hat. Sie kennt die Wahrheit.«

Bei jedem ihrer Worte wurden Blairs Schritte schneller, mit denen sie den steilen Abhang hinunterrannte.

Lee hielt einen Moment an, fuhr zu der Französin herum und fauchte: »Ich habe noch nie eine Frau geschlagen. Aber die Versuchung dazu ist groß. Blair«, rief er dann mit lauter Stimme, »du kannst nicht in dieser Richtung weiterlaufen! Dort unten warten die Männer mit Gewehren auf dich!«

Françoise setzte sich auf einen Felsblock am Hang, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. »Wie kannst du nur so häßliche Dinge zu mir sagen? Wie kannst du unsere gemeinsamen Nächte in Paris vergessen? Und in Venedig! Und in Florenz! Denke an die Vollmondnächte in Florenz!«

»Ich bin nie in Florenz gewesen«, sagte Lee, während er sie am Arm packte und vom Felsblock herunterzog. Und als sie sich nicht von der Stelle bewegen wollte, warf er sie einfach über die Schulter und rutschte den Hang hinunter, bis er Blair hinten am Rock zu fassen bekam. Dank der ausgezeichneten Arbeit von J. Cantrell und Söhne hielten die Nähte stand. Er zog in die eine Richtung, Blair in die andere, und schließlich saß er auf dem Felsboden und zog Blair auf seinen Schoß.

Er war sich durchaus bewußt, was für einen seltsamen Anblick er bieten mußte mit einer Frau über der Schulter und der anderen auf seine ausgestreckten Beinen. Als Françoise zu zappeln anfing, gab er ihr einen kräftigen Schlag auf die Kehrseite. »Du hältst dich da raus!«

»Wenn du mich an dieser Stelle berührst, muß ich gehorchen«, sagte Françoise mit schnurrender Stimme.

Blair versuchte aufzustehen; aber Lee hinderte sie daran.

»Blair«, begann er; aber sie wollte ihn nicht ansehen. »Ich habe diese Frau noch nie gesehen. Ich meine, ich kenne sie erst seit einer Viertelstunde. Ich habe sie nicht in Paris kennengelernt. Ich habe vor dir noch nie eine Frau geliebt, und ich habe dich geheiratet, weil ich mich in dich verliebte.«

»Liebe?« sagte Blair und drehte sich zu ihm um. »Dieses Wort höre ich jetzt von dir zum erstenmal.«

»Ich habe es schon öfter gesagt; aber du hast nie zugehört. Du warst viel zu sehr damit beschäftigt, mir zu erklären, daß ich in Houston verliebt sei. Ich habe sie nie geliebt, und ganz bestimmt nicht diese . . . diese . . .« Er blickte auf die üppige Kehrseite seiner zappelnden Last, die seine Schulter arg strapazierte. Er schüttelte sie ab ; ließ aber das Handgelenk der Französin nicht los.

Blair begann, sich gegen Lees Brust zu lehnen. Vielleicht sagte er die Wahrheit. Jedenfalls wollte sie ihm glauben.

»Du kannst sehr gut lügen, Leander«, sagte Françoise. »Ich entdecke einen ganz neuen Zug an dir. Aber wir kennen uns ja nur in einer Beziehung, und da um so besser.« Sie lehnte sich gegen ihn. »Wie gut wir uns da kennen — oh, lala!«

Blair versuchte, sich wieder von Lees Schoß zu erheben; aber er hielt sie mit beiden Händen fest. Doch dann, als er einen Blick auf Blairs Gesicht warf, seufzte er schwer, packte beide Frauen beim Handgelenk und trottete mit ihnen wieder bergauf.

Blair folgte ihm; aber nur widerstrebend. Es war eine lange und harte Kletterpartie. Sie mußten über umgestürzte Bäume steigen und manchmal darunter hinwegkriechen. Die Luft wurde immer dünner, je höher sie kamen, und sie kämpften mehr um den nötigen Sauerstoff als mit den Schwierigkeiten des Geländes.

Die ganze Zeit über ließ Lee kein einziges mal Françoises Handgelenk los, und wenn er Blair helfen wollte, schlug sie seine Hand weg.

Die Blockhütte war zwischen zwei steilen Bergsätteln errichtet worden und so gut versteckt, daß sie zweimal an ihr vorbeiliefen, ehe sie sie entdeckten. Und dann stand sie plötzlich vor ihnen, als wäre sie soeben vom Himmel gefallen.

Das Plateau, auf dem sie sich befand, war nicht groß, und schon nach wenigen Schritten stand man am Rand einer Steilwand. Doch die Aussicht von hier oben war atemberaubend. Das knöcheltiefe Gras war mit in drei Farben blühenden Gänseblümchen gesprenkelt, und hinter der Hütte verströmten Heckenrosen ihren Duft.

Der Boden des Bergwaldes, der jahrhundertelang aus verwitternden Pflanzen eine Humusschicht bilden konnte, federte weich, so daß er das Geräusch ihrer Schritte verschluckt hatte. Lee sagte kein Wort; gab nur Blair ein Zeichen, daß sie auf Françoise aufpassen sollte, während er nachsah, ob die Hütte leer war. Als er sich vergewissert hatte, daß ihnen hier keine Gefahr drohte, winkte er den beiden Frauen, in die Hütte zu gehen.

Es war eine ganz gewöhnliche Blockhütte: zwei Räume mit einem kleinen Speicher über der Tür, schmutzig vom jahrelangen Gebrauch durch achtlose Menschen und Tiere, die hier bei einem Unwetter Zuflucht gesucht hatten; aber immerhin ein Platz, an dem sie nicht gesucht wurden.

Blair sah teilnahmslos zu, wie Lee Françoise an einen der Stützbalken in der Hütte festband, sie aber nicht knebelte und ihr auch nicht die Beine fesselte, damit sie sich bewegen konnte.

Er hielt zwar ein Tuch in der Hand, mit der er ihr den Mund zubinden wollte, brachte das aber offenbar nicht fertig.

»Ich glaube nicht, daß Ihre Männer hier nach Ihnen suchen werden. Ich gehe mal vor die Hütte; und wenn ich Geräusche in der Nähe höre, muß ich Ihnen damit den Mund stopfen.«

»Chéri, du wirst doch diese Komödie nicht auf die Spitze treiben wollen, oder? Sie weiß über uns Bescheid. Sie hat es mir selbst erzählt.«

»Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Lee, während er ihre Hände an den Pfosten fesselte. »Sie hat Ihnen genug erzählt, daß Sie Ihre Lüge ausspinnen können. Was versprechen Sie sich eigentlich davon?«

Françoise blickte ihn nur an.

Als Blair sich zu den beiden umdrehte, sah sie, wie sie sich tief in die Augen blickten.

Lee drehte sich von Françoise weg und wollte etwas zu Blair sagen; aber als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte, nahm er nur sein Gewehr hoch und murmelte: »Ich bin draußen, wenn du mich brauchst. In den Satteltaschen ist Proviant.« Damit ließ er die beiden Frauen allein.

Langsam begann Blair die Satteltaschen auszupacken, die Lee auf den wackeligen Tisch in der Nähe des Pfeilers geworfen hatte, an dem Françoise festgebunden war. Es gab auch eine Feuerstelle in der Hütte, aber nur der Himmel wußte, wann der Kamin zuletzt gesäubert worden war. Zudem konnten sie keinen Rauch gebrauchen, den man viele Meilen weit sehen konnte.

Während Blair ein paar Brote mit Schinken und Käse belegte und zu essen begann, hörte Françoise nicht auf, ihr zu erzählen, wieviel sie und Leander sich bedeuteten.

»Er wird immer wieder zu mir zurückkehren«, sagte Françoise. »Er hat schon öfter versucht, von mir loszukommen; aber gelungen ist ihm das nie. Er wird mir alles verzeihen, was ich getan habe, mit mir fortreiten, mich nachts in seinen Armen halten und mich . . .«

Blair nahm ihre belegten Brote und eine Feldflasche und verließ die Hütte.