Kapitel 19
Blair blickte einige Sekunden lang mit offenem Mund zur Treppe. Eben hatte Leander noch dort gestanden, und im nächsten Moment hörte sie schon unten die Tür gehen.
Zunächst war sie darüber empört, lächelte dann aber still in sich hinein. Es mußte sich schon um einen sehr ernsten Fall handeln, wenn Lee sie in seiner Hochzeitsnacht alleinließ — ein Fall auf Leben und Tod. Etwas sehr Gefährliches, dachte sie, und saß plötzlich kerzengerade im Bett. Wenn es nur ein ernster Fall war und nicht auch noch gefährlich — ein Weidekrieg etwa oder Banditen, die mit rauchenden Colts die Leute terrorisierten —, würde Lee sie zweifellos mitgenommen haben.
Blair warf die Decken beiseite und zog in fliegender Eile ihre Arztuniform an. Leander begab sich in Lebensgefahr, um einen Patienten zu versorgen, und brauchte daher ihre Hilfe.
Unten nahm sie den Telefonhörer ab, Mary Catherine hatte um diese Zeit Dienst in der Vermittlung. »Mary, wo ist Lee hingegangen?«
»Ich weiß es nicht. Blair-Houston«, antwortete die junge Frau. »Sein Vater hat ihn angerufen, und im nächsten Augenblick sagte Lee, er wäre schon unterwegs. Ehe ich mich ausklinken konnte natürlich. Schließlich belausche ich ja keine Gespräche, die ich vermittle.«
»Aber wenn du schon zufällig ein paar Worte aufgeschnappt hast, kannst du mir doch ruhig sagen, was! Und vergiß nicht, daß ich damals Jimmy Talbots Mutter nicht verraten habe, wer ihre beste Kristallkaraffe zerschlagen hat!«
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Mary Catherine antwortete: »Mr. Westfield sagte, daß ein Mann, dem ich noch nie in der Stadt begegnet bin, einen Herzanfall habe. Der Bedauernswerte. Mir scheint, jedesmal wenn Mr. Westfield und sein Sohn am Telefon miteinander reden, geht es um diesen Mr. Smith, der schon wieder von einer neuen Krankheit befallen wurde. Im letzten Monat waren es drei, und Caroline — sie hat tagsüber Dienst — hat mir erzählt, daß er bei ihr auch zweimal krank wurde. Ich glaube nicht, daß der Arme es noch lange macht; aber andererseits scheint er sich auch wieder erstaunlich rasch von seinen Leiden zu erholen. Er muß ein schrecklich wichtiger Patient sein, weil dich Leander sonst wohl kaum in der Hochzeitsnacht alleinlassen würde. Du mußt ihn ja —« hier brach Mary Catherine in ein vielsagendes Kichern aus — »sehr vermissen.«
Blair hätte der Frau jetzt am liebsten gesagt, was sie von ihrer Lauscherei hielt; aber sie flüsterte nur: »Vielen Dank«, hängte ein und schwor sich, nie mehr etwas Intimes am Telefon zu sagen.
Lees Kutsche stand nicht mehr im Stall, und das einzige, was dort verfügbar war, war ein großer, tückisch aussehender Hengst, dem sie sich lieber nicht anvertrauen wollte. So blieb nur ein Fußmarsch bis zum Haus ihres Schwiegervaters. Die kühle Gebirgsluft wirkte belebend auf sie, und die letzten Meter rannte sie auf der steilen Straße, die zu Westfields Haus hinaufführte.
Sie mußte gegen die Tür hämmern, bis sich im Haus etwas rührte. Eine verschlafene, mürrische Haushälterin kam an die Tür, hinter deren Schulter sie Reeds Kopf sah.
»Komm mit in die Bibliothek«, sagte Reed mit seltsam fahlem Gesicht. Er war vollständig angezogen, sah aber alt und sehr erschöpft aus. Blair war überzeugt, daß er aufgeblieben war, weil er sich schreckliche Sorgen um Leander machte. Auf was hatte sich ihr Mann da nur eingelassen?
»Wo ist er?« fragte Blair, sobald sie in der hellerleuchteten Bibliothek, die mit dem Rauch zu vieler Pfeifen erfüllt war, ungestört sprechen konnten.
Reed stand schweigend vor ihr, während sein Gesicht sie mehr und mehr an eine Bulldogge erinnerte.
»Er ist in Gefahr, nicht wahr?« sagte Blair. »Ich wußte doch, daß es so sein würde. Wenn es sich um einen gewöhnlichen Fall handelte, hätte er mich mitgenommen. Aber an diesem ist etwas faul.« Reed sagte noch immer kein Wort.
»Die Telefonistin erzählte mir, daß er sich oft um einen Mr. Smith bemühen müsse. Ich möchte denken, es wird mir nicht schwerfallen, seine Adresse zu ermitteln. Ich kann auch von Haus zu Haus gehen und die Leute fragen, ob jemand Leander heute abend gesehen hat. Wie ich ihn kenne, ist er in seinem üblichen Höllentempo durch die Straßen geprescht, und so etwas fällt natürlich auf.« Blairs Gesicht glich sich allmählich dem ihres Schwiegervaters an — zeigte den Ausdruck äußerster Entschlossenheit.
»Mein Mann ist unterwegs zu einem Fall, der ihn selbst in Lebensgefahr bringt — wie damals, als wir im Kugelhagel verfeindeter Rancher einen Bauchschuß operieren mußten. Doch diesmal ist er allein. Ich glaube, daß ich ihm helfen kann. Vielleicht gibt es noch mehr Verletzte, und wenn Lee verwundet wird, muß ihn ja jemand verarzten. Wenn du mir nicht weiterhelfen willst, tut es ein anderer.« Sie wandte sich wieder zum Gehen.
Reed blickte ihr einen Moment verwirrt nach. Sie mochte zwar nicht erfahren, wo Lee sich im Augenblick befand; aber es würde ihr gewiß gelingen, eine Menge Leute hellhörig zu machen, wenn der Fall so wichtig war, daß Lee sogar die Hochzeitsnacht mit seiner Braut versäumte. Und später würden die Leute natürlich von dem Aufstand in der Kohlengrube erfahren, und es genügte, daß einer von ihnen zwei und zwei zusammenzählte und Leander mit diesem Aufstand in Verbindung brachte. Er mußte Blair etwas erzählen, was sie von ihrem Vorhaben abbrachte — etwas so Furchtbares, daß sie auf der Stelle wieder nach Hause fuhr und nicht die ganze Stadt aufweckte auf ihrer Suche nach Leander. Verdammt, warum hatte Lee nicht Houston heiraten können? Sie würde sich niemals nach dem Verbleib ihres Gatten erkundigt haben!
»Es handelt sich um eine andere Frau«, stotterte Reed, ehe ihm klar wurde, was er da sagte. Seine Frau hätte sich nur von etwas abbringen lassen, wenn sie geglaubt hätte, daß er sich einer anderen Frau zugewandt habe. Warum mußten Frauen immer daran zweifeln, daß sie geliebt wurden? Blair hätte das doch eigentlich wissen müssen, nach all den Narreteien, die Lee ihretwegen anstellte.
»Frau?« echote Blair, sich wieder zu ihm umdrehend. »Warum sollte er zu einer anderen Frau gehen? Ist sie krank? Wer ist dieser Mr. Smith? Weshalb hat er ständig irgendwelche Beschwerden? Wo ist mein Mann?«
»Die ... äh . . . Frau versuchte sich umzubringen, weil Lee heute geheiratet hat«, sagte Reed und wußte, daß er damit das Sohn-Vater-Verhältnis zerstört hatte. Lee würde ihm das nicht verzeihen, solange er lebte.
Blair setzte sich — oder fiel vielmehr — auf einen Stuhl »So eine Frau also«, flüsterte sie.
Wenigstens war es ihm gelungen, sie von Mr. Smith abzulenken, dachte Reed und verfluchte zugleich alle Mädchen, die in einer Telefonvermittlung arbeiteten.
»Aber wie konnte das denn mit Houston Zusammengehen? Schließlich war er jahrelang mit ihr verlobt. Wie konnte er da in eine andere verliebt sein?«
»Lee — äh — dachte, die Frau sei längst tot.« Vor ihm auf dem Tisch lag eine Zeitung, auf deren Titelseite von einer Räuberbande berichtet wurde, die eine Weile lang das Gebiet um Denver unsicher gemacht hatte, nun aber nach Süden weiterzog. Die Bande wurde von einer Frau französischer Abstammung geführt. »Er hat sie in Paris kennengelernt, und sie war die große Liebe seines Lebens; doch er glaubte, man habe sie umgebracht. Offensichtlich nicht; denn sie ist nach Chandler gekommen, um ihn hier zu suchen.«
»Wann?«
»Wann was?«
»Wann diese Frau nach Chandler gekommen ist!«
»Oh, das ist schon Monate her«, sagte Reed wegwerfend. »Ich denke, es ist besser, wenn du dir das Ende der Geschichte von Lee erzählen läßt.«
»Aber wenn sie schon vor Monaten hier war, warum hat Lee dann die Verlobung mit meiner Schwester aufrechterhalten?«
Reed schickte einen verzweifelten Blick an die Decke. Aber dann sprang ihm wieder die Zeitung in die Augen. »Sie — diese Frau, die er liebte — war ... in etwas verwickelt, was Lee gar nicht schätzte. Er mußte etwas unternehmen, das ihn von dieser Frau ablenkte.«
»Und diese Ablenkung war erst Houston und später dann ich.« Blair holte tief Luft. »Er liebte also diese Frau, dachte, sie sei umgekommen, kehrte nach Chandler zurück und bat Houston, ihn zu heiraten. Und dann tauchte ich auf, und ich dachte, ein Zwilling ist so gut wie der andere; aber sein Ehrgefühl sagte ihm später, daß er nun eher dazu verpflichtet sei, mich zu heiraten. Das erklärt, warum er eine Frau geheiratet hat, die er gar nicht wirklich liebt. Nicht wahr?«
Reed fuhr mit dem Finger an der Innenseite seines Kragens entlang, der ihn plötzlich zu würgen schien. »Ich schätze, diese Erklärung ist so gut wie jede andere«, sagte er laut, und dann für sich: »Jetzt bin ich aber meinem Sohn eine Erklärung schuldig.«
Blair fühlte sich wie vernichtet, als sie das Haus wieder verließ und sich auf den Heimweg machte. Reed hatte nach seinem Stallburschen schicken lassen, der sie nach Hause fahren sollte; aber Blair hatte abgewinkt. Heute war ihre Hochzeitsnacht, die zu der glücklichsten Zeit ihres Lebens gehören sollte, und wenn sie diese nicht mit ihrem Gatten verbringen konnte, dann gewiß nicht mit einem anderen Mann. Doch nun hatte sich ihr Glück in einen Alptraum verwandelt.
Wie sehr mußte Leander sie im stillen ausgelacht haben, als sie zu ihm sagte, sie hoffte, ihre Ehe zu einem Erfolg zu machen. Es war ihm egal gewesen, wen er heiratete. Houston war hübsch und hätte eine gute Arztfrau abgegeben; also bat er sie um ihre Hand. Doch dann war sie ihm zu kühl gewesen, und als Blair schon am ersten Abend, den sie zusammen verbrachten, in sein Bett gesprungen war, hatte er beschlossen, sie an Stelle ihrer Schwester zu heiraten. Was spielte das schon für eine Rolle, da er sein Herz bereits an eine andere Frau verloren hatte?
»Da ist sie?« zischelte eine Männerstimme hinter ihr.
Es wurde bereits wieder hell, und sie sah einen schmächtigen Mann auf einem Pferd, der mit dem Finger auf sie wies. Einen Augenblick lang war Blair ein bißchen stolz, daß man sie bereits auf der Straße als Ärztin erkannte. Sie blieb stehen und blickte zu dem Reiter hinauf, hinter dem noch drei Männer auf ihren Pferden warteten.
»Ist jemand verletzt?« fragte sie. »Ich habe meine Arzttasche nicht bei mir; aber wenn einer von euch mich aufsitzen läßt, reiten wir schnell zu meinem Haus und besorgen sie.«
Der Cowboy blickte sie einen Moment verdattert an.
»Doch falls Sie lieber meinen Mann konsultieren wollten, kann ich Ihnen leider nicht sagen, wo er ist«, fuhr sie mit einiger Bitterkeit fort. »Ich glaube, Sie werden schon mit mir vorlieb nehmen müssen.«
»Wovon redet die eigentlich, Cal?« fragte einer der drei im Hintergrund.
Cal hob rasch die Hand. »Nein, ich brauche Ihren Mann nicht. Wollen Sie bei mir aufsitzen?«
Blair nahm die Hand, die er ihr hinunterstreckte, und ließ sich von ihm auf das Pferd hinaufziehen. »Mein Haus ist. . .« sagte sie, mit dem Finger weisend; doch er ließ sie nicht zu Ende sprechen.
»Ich weiß, wo ihr Haus ist, hochmächtige Miss Chandler. Oh, Sie sind ja inzwischen eine Mrs. Taggert geworden.«
»Was ist das?« sagte Blair erschrocken. »Ich bin nicht. . .« Doch der Cowboy legte ihr rasch die Hand auf den Mund, daß ihr die Worte im Hals steckenblieben.
Leander legte eine Hand ins Kreuz und versuchte so die heftigsten Stöße der Lehne gegen seinen Rücken abzufangen. Er mußte zugeben, daß er einen schlimmen Anfall von Selbstmitleid hatte. Eigentlich hätte er die letzte Nacht in den Armen seiner neuen Frau verbringen sollen, in einem weichen Bett, in dem sie sich liebten, miteinander lachten und einander näherkamen. Doch statt dessen hatte er einen Berg hinunterklettern und anschließend wieder hinaufklettern müssen — mit einem halb bewußtlosen Mann über der Schulter.
Als er gestern abend zur Mine gekommen war, waren die Tore verschlossen und kein Wächter zu sehen gewesen. Aber er hatte sie laut rufen hören im Lager und ein paar Frauen, die sich wütend beschwerten. Da hatte er sein Pferd und seine Kutsche in der Nähe versteckt, war den Berg hinaufgestiegen und auf der anderen Seite wieder hinunter und hatte sich so durch die »Hintertür« ins Lager geschlichen. Dann war er im Schatten der Hütten von Haus zu Haus gerannt, bis er die Wohnung eines Bergmanns erreichte, von dem er wußte, daß er das Risiko auf sich nehmen würde, einen Gewerkschafter bei sich zu verstecken.
Die Frau des Bergmanns hatte ihn eingelassen und die Hände gerungen, weil die Wächter jedes Haus durchsuchten und der Gewerkschaftsvertreter im Hinterhof zwischen hohen Unkräutern versteckt lag — blutend und stöhnend vor Schmerzen. Niemand wagte, zu ihm zu gehen; denn wenn er entdeckt wurde, bedeutete das den Tod für jeden, den man in seiner Nähe fand. Wenn die Wächter das Lager durchsucht und nichts gefunden hatten — keine Spur von einer Infiltration —, würden sie den Bergarbeitern nichts tun. Aber wenn sie einen Hinweis fanden, daß sich ein Unbefugter eingeschlichen hatte . . . Die Frau schlug die Hände vors Gesicht. Wenn der Gewerkschafter auf dem Hof hinter ihrem Haus gefunden wurde, würde sie mit ihrer Familie aus dem Lager gejagt — ohne Lohn und ohne Aussicht auf einen neuen Job.
Lee drückte ihr sein Mitgefühl aus, verschwendete aber keine Zeit mit vielem Reden. Er ging in den verunkrauteten Hinterhof, lud sich den untersetzten Mann auf die Schulter und unterzog sich der langen, mühsamen Aufgabe, den Mann wieder aus dem Lager zu schmuggeln. Es gab nur einen Weg, wenn dieser Versuch Erfolg haben sollte, und zwar schnurstracks den Berg hinauf.
Leander nahm diesen Weg und hielt ein paar Mal an, um zu lauschen und sich zu verschnaufen. Der Lärm unter ihm schien sich ein wenig zu legen. Es gab eine Menge Kantinen in den Bergwerkslagern, und die Bergmänner gaben zu oft das meiste von ihrem Lohn für Alkohol aus. Nun konnte Lee ein paar betrunkene Männer hören, als sie ihren Hütten zuwankten, vermutlich ohne zu wissen, daß man inzwischen ihre Wohnungen durchsucht hatte — was dem Gesetz nach den Vertretern des Eigentümers jederzeit gestattet war.
Auf dem Scheitel des Berges setzte Leander seine Last ab und versuchte im Mondlicht festzustellen, wo und wie schwer der Mann verletzt war. Er hatte wieder zu bluten angefangen, als Lee ihn bewegt hatte. Lee verband die Wunden des Mannes so gut er konnte, damit die Blutungen aufhörten, lud sich den Verletzten erneut auf die Schulter und begann, den Berg an der Stelle hinunterzusteigen, wo seine Kutsche unter Bäumen versteckt war.
Er konnte den Mann unmöglich in den engen Laderaum unter dem Sitzbrett zwängen; also setzte er ihn neben sich auf den Bock und fuhr so behutsam wie möglich.
Er nahm die Straße nach Norden auf Colorado Springs zu. Mit dem Mann konnte er nicht nach Chandler zurückkehren, weil er dort gewiß von vielen, wenn auch arglosen Leuten gefragt werden würde, wer dieser Mann sei und wo er verwundet worden war. Lee wollte nicht riskieren, daß man ihm auf die Schliche käme. Er würde keinem Bergarbeiter mehr helfen können, wenn auch nur der Verdacht aufkam, daß er die Gewerkschaft bei ihren Bemühungen unterstützte, die Bergarbeiter zu organisieren.
Am Stadtrand von Colorado Springs wohnte ein Freund von ihm — ein Arzt, der nicht dazu neigte, viele Fragen zu stellen. Lee legte den Verwundeten auf den Operationstisch seines Freundes und murmelte, daß er den Mann unterwegs am Straßenrand gefunden habe. Der alte Arzt sah Lee an und sagte: »Ich dachte, du hättest gestern geheiratet. Du hast doch wohl nicht deine Hochzeitsnacht damit verbracht, die Straßenränder nach halbtoten Männern abzusuchen?«
Ehe Leander etwas darauf antworten konnte, sagte der Alte: »Erzähl mir nichts. Ich will es nicht wissen. Schauen wir uns lieber den Patienten an.«
Als Lee nun wieder nach Chandler zurückfuhr, war es zwei Uhr nachmittags. Den toten Punkt hatte er längst wieder überwunden. Er wollte nur etwas essen, sich dann hinlegen und schlafen — zusammen mit Blair. Die letzten Stunden hatte er fast ausschließlich damit verbracht, sich eine Geschichte auszudenken, mit der er sie überzeugen konnte. Er entschied sich schließlich für die Version, daß man ihn zu einer Bande von Bankräubern gerufen habe, die sich untereinander nicht über die Verteilung einer Beute einig geworden und deshalb zum Schießeisen gegriffen hatte — und deshalb hatte er nicht riskieren wollen, sie mitzunehmen, weil er fürchtete, sie könnte verletzt werden. Die Geschichte klang glaubhaft, und er hoffte, sie würde sich damit zufrieden geben. Allerdings betete er zum Himmel, daß sie ihn nicht fragte, warum er denn unbedingt die Verletzten vesorgen mußte, wenn es noch andere Ärzte in Chandler gab, die diese Aufgabe hätten übernehmen können. Auch würde in der Zeitung kein Bericht von dieser angeblichen Schießerei stehen.
Wenn sie ihm zu arg zusetzte, würde er den Beleidigten spielen, weil sie kein Vertrauen zu ihm habe und offensichtlich ihre Ehe mit einem Mißklang beginnen lassen wollte.
Daheim angekommen, war er fast erleichtert, als er Blair dort nicht vorfand. Er war zu müde, um seine großartige Lügengeschichte noch überzeugend vortragen zu können, klemmte eine Scheibe Schinken zwischen zwei dicke Weißbrotschnitten und ging hinauf in das Schlafzimmer. Hier herrschte ein schreckliches Durcheinander: Blairs Kleider lagen auf dem ungemachten Bett verstreut. Er öffnete den Kleiderschrank, sah mit einem Blick, daß ihr Hosenanzug mit dem roten Kreuz auf dem Ärmel fehlte, und war nun sicher, daß sie ins Krankenhaus gegangen war, um sich um seine Patienten zu kümmern. Er würde mit den Männern des Verwaltungsrates reden müssen, damit sie die Arbeitserlaubnis für Blair verlängerten. Beim erstenmal, als sie ihm eine befristete Genehmigung dafür erteilten, mußte er ihnen versprechen, fast jede Schicht zu übernehmen, ehe sie ihm erlaubten, sie in den Operationssaal mitzunehmen. Er hatte geschuftet für drei; aber es hatte sich für ihn gelohnt. So war es ihm schließlich gelungen, Blair doch noch für sich zu gewinnen.
Er aß die Hälfte seines belegten Brotes, kroch unter die Bettdecke, drückte Blairs Nachthemd an seine Brust und schlief ein.
Als er wieder erwachte, war es acht Uhr abends. Er spürte sofort, daß das Haus leer war, und sogleich fragte er sich besorgt, wo Blair sein könnte. Um diese Zeit hätte sie längst von ihrem Dienst im Krankenhaus zurück sein müssen. Er stieg aus dem Bett, begann, die zweite Hälfte des belegten Brotes aufzuessen, die neben ihm auf dem Kopfkissen gelegen hatte — sie schmeckte wie aufgeweichtes Papier —, und entdeckte dann auf dem Boden des Kleiderschrankes Blairs Ärztetasche.
Einen Moment lang setzte sein Herzschlag aus. Sie würde nie — niemals — das Haus ohne ihre Ärztetasche verlassen. Es war schon ein Wunder, daß sie sie gestern nicht unter dem Arm getragen hatte, als sie zum Traualtar gegangen war.
Doch nun lag sie hier im Schrank.
Er warf den Rest des belegten Brotes weg, raste durchs Haus und rief unentwegt ihren Namen. Vielleicht war sie nach Hause gekommen, als er noch schlief, und das Haus schien nur leer zu sein. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er sich davon überzeugt hatte, daß sie wirklich nicht da war — weder drinnen noch draußen.
Er ging ans Telefon und bat die Vermittlung, ihn mit dem Hospital zu verbinden. Niemand hatte dort Blair seit der Hochzeit gesehen. Nachdem er sich ein paar rüde Scherze hatte anhören müssen, daß Blair schon ihren Fehler eingesehen habe und ihm davongelaufen sei, legte Lee wieder auf.
Fast im selben Moment läutete das Telefon.
»Leander« — das war die Stimme von Caroline, die tagsüber die Gespräche vermittelte —, »Mary Catherine hat mir erzählt, daß Blair gestern nacht deinen Vater angerufen hat, und zwar gleich nachdem du das Haus verlassen hast, um deinen armen Mr. Smith zu behandeln. Vielleicht weiß der, wo sie steckt.«
Leander biß sich auf die Zunge, damit er ihr nicht sagte, was er von einer Vermittlung hielt, die alle Gespräche belauschte. Aber vielleicht hatte er diesmal sogar Grund, ihr dafür dankbar zu sein. »Thanks«, murmelte er, hängte ein, eilte in den Stall, um seinen Hengst zu satteln, und war in Rekordzeit beim Haus seines Vaters.
»Du hast ihr was erzählt?« brüllte Leander seinen Vater an.
Reed schien vor dem Zorn seines Sohnes zusammenzuschrumpfen wie ein Blatt, das man über eine Flamme hält. »Ich mußte mir rasch eine Geschichte ausdenken. Und die einzige Möglichkeit, die mir einfallen wollte, um sie daran zu hindern, dir zu folgen, war eine Geschichte von einer anderen Frau. Nach allem, was ich von euren gemeinsamen Eskapaden hörte, sind Feuersbrünste, Krieg oder Arbeiteraufstände für sie doch eher ein Anreiz, sich mitten ins Getümmel zu stürzen.«
»Du hättest ihr aber eine andere Geschichte erzählen können — jede andere Geschichte wäre besser gewesen als diese Lüge von meiner wahren Liebe, die mich in Chandler besuchen wollte! Und daß ich Blair nur geheiratet hätte als Ersatz für eine verlorengegangene Liebe!«
»Schön, wenn du so klug bist, dann sage mir doch, was du ihr an meiner Stelle erzählt hättest!«
Lee öffnete den Mund und schloß ihn wieder: Wenn Reed ihr die Wahrheit erzählt hätte, wäre Blair ihm zweifellos ins Bergwerkslager gefolgt, um ihm zu helfen. Selbst Kanonenkugeln hätten sie nicht davon abgehalten. »Und was soll ich jetzt machen? Ihr erzählen, daß mein Vater ein Lügner ist und es keine andere Frau neben ihr gab oder gibt?«
»Wo bist du denn in deiner Hochzeitsnacht gewesen? Auf einem Berg herumgestiegen? Willst du ihr von dem verwundeten Gewerkschaftsvertreter erzählen, den du zu einem anderen Arzt gebracht hast? Wird das deine kleine Frau davon abhalten, dir das nächstemal zu folgen?«
Lee stöhnte. »Vermutlich wird sie sich im Kutschkasten verstecken und im denkbar ungünstigsten Augenblick herausspringen, um sich vor die Gewehre der Bergwerkswächter zu werfen.«
»Vielleicht sollten wir sie erst einmal finden«, sagte Reed. »Wir werden mit der Suche so diskret wie möglich beginnen. Wir wollen nicht die ganze Stadt darauf aufmerksam machen, daß sie dir davongelaufen ist.«
»Sie ist mir nicht davongelaufen«, fauchte Lee. »Sie ist. . .« Aber er wußte nicht, wo sie war.