Kapitel 28
Blair und Leander waren erst ein paar Wochen miteinander verheiratet, als die Westfield-Klinik offiziell eröffnet wurde. Natürlich hatte Blair noch nicht ihre praktische Ausbildung als Assistenzärztin abgeschlossen; doch für Lee war das nur eine Formsache. Blair hatte als Ärztin mehr klinische Erfahrung als viele ihrer seit Jahren praktizierenden männlichen Kollegen.
Am Morgen des Eröffnungstages war Blair so nervös, daß sie sich den Kaffee über den Rock goß und ihr das Brötchen vom Teller auf den Teppich sprang. Schuldbewußt bückte sie sich, um es wieder aufzuheben, und blickte dabei zur Küche hinüber.
Lee legte beruhigend seine Hand auf die ihre. »Sie wird dich schon nicht beißen, Darling.«
»Vielleicht nicht dich; aber was mich betrifft, bin ich mir da gar nicht so sicher.« Vor ein paar Tagen hatte die Haushälterin-Köchin, die Houston ihnen besorgt hatte, ihren Dienst bei den Westfields angetreten, und Blair fand sie geradezu furchterregend: zwar klein von Statur, aber mit stahlgrauem Haar, harten schwarzen Augen und einem schmalen Schlitz als Mund. Mrs. Shainess reichte Blair zwar nur knapp bis zu den Schultern; aber jedesmal, wenn sie ins Zimmer kam, wurde Blair ganz steif. Sie fühlte sich in der Gegenwart dieser kleinen Person unsicher und unbeholfen. Diese war kaum eine Stunde im Haus gewesen, als sie bereits über Blairs magere Garderobe herfiel und Blair mit dürren Worten erklärte, sie suche nach Kleidungsstücken, die repariert oder gereinigt werden müßten. Schließlich hatte sie seufzend alles, was sie in Blairs Kleiderschrank fand, zu einem kleinen Bündel zusammengelegt, und danach hatte es stundenlang im ganzen Haus nach Chemikalien gerochen, als die Frau die Sachen in der Küche reinigte.
Abends, als Blair und Lee vom Krankenhaus zurückkamen, hatte Mrs. Shainess Lee beiseite genommen und unter vier Augen mit ihm geredet. Später hatte Lee Blair dann mit einem Lächeln mitgeteilt, Mrs. Shainess meinte, ihre Garderobe könne man keineswegs als eine einer Lady angemessene Ausstattung bezeichnen, und sie müsse sich gleich morgen bei Houstons Schneiderin vorstellen.
Blair hatte versucht, ihm das auszureden; aber Leander hatte nicht auf sie hören wollen. Sie machte sich schon Sorgen genug wegen der Schulden, die Lee zweifellos wegen ihres neuen Krankenhauses hatte, und wollte ihm nicht noch mehr Kosten aufbürden. Und daher war sie entschlossen, sehr, sehr wenig zu bestellen. Als sie sich am nächsten Tag bei der Schneiderin einfand, mußte sie jedoch feststellen, daß Lee bereits bei der Schneiderin angerufen und doppelt so viele Kleider für sie geordert hatte, als Blair ihrer Ansicht nach jemals brauchen würde. Aber als sie die hübschen Sachen anprobierte, war sie doch so davon angetan, daß sie rasch mit ihrer neuen Kutsche wieder nach Hause fuhr, um sich bei Lee dafür auf eine Weise zu bedanken, die ihm, wie sie wußte, am meisten Freude machen würde.
Nur traf sie ihn dann, als er sie ins Wohnzimmer hereinkommen hörte, mit einem Brief an, den er rasch zerknüllte, auf den Kaminrost warf und dort mit einem Streichholz anzündete.
Blair fragte ihn nicht, was in diesem Brief gestanden hatte, da sie nicht wieder von ihm hören wollte, sie dürfe das nicht wissen oder würde es nicht verstehen. Doch ihre ganze Begeisterung über ihre neuen Kleider war in diesem Moment verflogen, und sie versuchte den ganzen Abend über eine logische Erklärung für Lees Handlungsweise zu finden. Er half einem anderen Menschen; er brauchte dringend Geld; er war ein Krimineller; er war ein Pinkerton-Agent. Nachts liebten sie sich dann sacht und zärtlich, und Blair klammerte sich an ihn. Sie näherte sich rasch dem Punkt, wo es ihr gleichgültig wurde, was Lee trieb, wenn er nicht seinem Beruf nachging. Ihretwegen hätte er der Besitzer aller Spielhöllen in der River Street sein können, und sie war sich fast sicher, daß sie das nicht stören würde.
An dem Tag, wo die Westfield-Klinik offiziell eröffnet wurde, mußte Lee gleich nach dem Frühstück in die >Windlass<-Zeche fahren, wo ein Stollen eingestürzt war. Blair wollte ihn dorthin begleiten; aber er schickte sie in die Klinik, um die Patienten zu versorgen, die sich dort zur Behandlung einstellten.
Als sie um acht Uhr morgens in die Klinik kam, warteten dort bereits Lees Operationsschwester, Mrs. Krebbs, und drei Patientinnen. Mrs. Krebbs, kühl wie immer, nickte ihr kurz zu, und Blair ging in die Chirurgie, um die Instrumente und die Vorräte an Verbandszeug und Arzneimitteln zu überprüfen.
»Hier entlang«, sagte Blair und geleitete ihre erste Patientin in das Untersuchungszimmer.
»Wo bleibt denn der Doktor?« fragte die Frau und drückte ihre Handtasche gegen den Busen, als fürchtete sie, Blair würde sie ihr jeden Moment entreißen.
»Ich bin auch ein Doktor. Nehmen Sie doch Platz und sagen Sie mir, was für Beschwerden Sie haben. Ich werde dann . . .«
»Ich will mit einem echten Arzt sprechen«, sagte die Frau und wich wieder zur Tür zurück.
»Ich versichere Ihnen, daß ich ein echter Arzt bin. Wenn Sie mir nun Ihre Beschwerden . . .«
»Ich bleibe nicht hier. Ich dachte, das wäre eine richtige Klinik mit richtigen Ärzten!«
Ehe Blair weitersprechen konnte, war die Frau schon aus der Tür und hastete hinaus auf die Straße. Blair würgte ihren Zorn hinunter und bat die nächste Patientin ins Untersuchungszimmer.
Die zweite Frau behauptete steif und fest, daß Blair unmöglich sagen könne, was ihr fehle, weil ihr Leiden keine Schwangerschaft sei. Blair begriff zuerst den Zusammenhang gar nicht, bis ihr klar wurde, daß die Frau sie für eine Hebamme hielt.
Die dritte Patientin verließ das Krankenhaus, nachdem sie festgestellt hatte, daß der gutaussehende Dr. Westfield, der ihr im letzten Jahr in Denver vorgestellt worden war, sie nicht untersuchen würde.
Danach ließ sich viele Stunden lang niemand mehr blicken, und Blair hatte Zwangsvorstellungen von Telefonapparaten, die in der Stadt heißliefen, da sie mit Gerüchten über das neue Hospital überschwemmt wurden. Um vier Uhr nachmittags meldete sich ein Vertreter mit einer rosafarbenen Mixtur, die bei allen »Frauenleiden« helfen würde. Blair empfing ihn höflich, komplimentierte ihn aber schon nach fünf Minuten zur Tür hinaus. Dann zog sie Handtücher gerade, die keinerlei Knitterfalten hatten.
»Sie wollen einen männlichen Arzt«, sagte Mrs. Krebbs.
»Sie verlangen nach einem vollwertigen Arzt wie Dr. Leander.«
»Ich bin eine vollwertige Ärztin«, sagte Blair mit zusammengepreßten Zähnen.
Mrs. Krebbs sog die Luft geräuschvoll durch die Nase und ging in ein anderes Zimmer.
Um sechs Uhr sperrte Blair die Tür ab und ging nach Hause.
Daheim erzählte sie Lee nichts von dem mangelnden Zuspruch, den die Klinik gefunden hatte. Er hatte weder Mühe noch Kosten gescheut, um das Hospital ins Leben zu rufen, so daß sie ihm diese Enttäuschung ersparen wollte. Er hatte schon Sorgen genug.
Sie ließ ihm ein Bad ein und wollte aus dem Zimmer gehen, als er sich auszuziehen begann.
»Bleib doch hier und rede mit mir.«
Sie wurde ein wenig verlegen, als er sich vor ihr auszog und in die Badewanne stieg. Für sie war das ein intimerer Vorgang als der Liebesakt.
Lee lehnte sich in der Wanne zurück und erzählte ihr mit einem Blick, der ins Leere gerichtet war, was er an diesem Tag alles durchgemacht hatte. Er erzählte ihr, wie er zwei Tote aus dem Stollen herausgezogen und einem Bergarbeiter an Ort und Stelle einen Fuß amputiert hatte. Sie unterbrach ihn mit keinem Wort, und er schilderte ihr, wie bedrückend das alles für ihn gewesen war: Der Mangel an Frischluft; die totale Dunkelheit; die Last der Wände, die ihn einschlossen; der knappe Raum, der ihm kaum Bewegungsfreiheit ließ.
»Mir ist es unbegreiflich, wie sie es aushalten können, Tag für Tag in so eine Grube einzufahren. Jeden Moment kann die Decke über ihnen einstürzen. Jeden Tag haben sie den Tod vor Augen, der ihnen auf vielfache Weise droht.«
Sie hatte einen seiner Füße aus der Wanne gehoben und seifte ihn ein. »Houston meint, die einzige Möglichkeit für diese Männer, ihr Los zu verbessern, bestünde darin, daß sie sich einer Gewerkschaft anschließen.«
»Und woher will Houston das wissen?« fragte er barsch.
»Sie lebt hier«, erwiderte Blair, ihn erstaunt ansehend. »Deshalb erfährt sie so manches. Sie erzählte mir, daß jemand Gewerkschaftsvertreter in die Mine einschleusen und es deshalb bald einen Arbeiteraufstand geben würde. Und daß . . .«
Leander riß ihr den Waschlappen aus der Hand. »Ich hoffe doch, daß du solche Gerüchte nicht ernst nehmen wirst. Niemand - weder die Bergarbeiter noch die Bergwerksbesitzer — wünscht sich einen Krieg. Ich bin sicher, sie werden sich friedlich einigen.«
»Das hoffe ich auch. Ich wußte ja gar nicht, daß dir das Los der Minenarbeiter so sehr am Herzen liegt.«
»Wenn du gesehen hättest, was ich heute erlebt habe, würdest du genauso denken wie ich.«
»Ich wollte doch mit dir in die Mine fahren. Vielleicht klappt es das nächstemal . . .«
Lee beugte sich vor und küßte sie auf die Stirn. »Ich möchte mich nicht ereifern; aber es wäre mir nicht recht, wenn du mich zu einer Mine begleiten würdest. Vergiß nicht, daß du dich um deine zahlreichen Patienten in der Klinik kümmern mußt. Ich frage mich, was unsere hübsche kleine Haushälterin wohl Gutes gekocht haben mag.«
Blair lächelte ihn an. »Ich hoffe, du fragst mich jetzt nicht, ob ich den Mut besessen habe, mich bei ihr nach dem Abendessen zu erkundigen. Ich fahre mit dir in die tiefste Grube — auch wenn mir dort die Decke auf den Kopf zu fallen droht —; aber verschone mich mit Mrs. Shainess und ihren Kochkünsten.«
»Apropos einstürzende Decke: Wie kommst du mit Mrs. Krebbs zurecht?«
Blair stöhnte, und während Lee sich wieder ankleidete, erging sie sich in einem Monolog über Mrs. Krebbs: »Sie mag ja in einem Operationssaal ein Engel sein; aber sonst ist sie wohl eher eine Hexe.«
Als Lee sich zum Dinner angezogen hatte und mit ihr nach unten ging, lächelte er wieder und versuchte sie mit sanfter Stimme zu überzeugen, daß die guten Eigenschaften von Mrs. Krebbs deren schlechte überwogen.
In dieser Nacht schliefen sie, eng aneinandergekuschelt, gleichzeitig ein.
Der zweite Tag in der neueröffneten Klinik war noch schlimmer als der erste: Es kam überhaupt niemand. Und als Blair nach Hause kam, erhielt Lee wieder einen seiner geheimnisvollen Telefonanrufe, brach sofort auf und kam erst um Mitternacht wieder heim. Er kroch schmutzig und erschöpft zu ihr ins Bett, und zum erstenmal erlebte sie einen schnarchenden Ehemann. Sie rüttelte ihn ein paarmal sanft an der Schulter; doch als das keine Wirkung zeigte, drehte sie ihn mit einem kräftigen Schubs auf den Bauch, und das hatte einen beruhigenden Einfluß auf seine Atemwege.
Am dritten Tag, als sich Blair an ihren zu sauberen Schreibtisch in der Klinik setzte, hörte sie draußen die Türglocke. Und als sie in das Wartezimmer trat, traf sie dort ihre Jugendfreundin, Tia Mankin, an. Tia litt an einem hartnäckigen trockenen Husten.
Blair hörte sich ihre Beschwerden an, verschrieb einen milden Hustensirup und lächelte breit, als der nächste Patient kam, ebenfalls eine Freundin aus ihrer Kinderzeit. Und schließlich, als eine Freundin der anderen die Klinke in die Hand gab und jede ihr irgendwelche vagen Symptome schilderte, wußte sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie war froh darüber, daß diese jungen Frauen sie immer noch zum Kreis ihrer Freundinnen zählten; aber andrerseits war sie wieder frustriert, weil sie keine echten Patientinnen waren.
Am späten Nachmittag fuhr Houston in ihrem hübschen kleinen Einspänner vor und sagte zu Blair, daß sie offenbar guter Hoffnung sei, und ob Blair ihr das bestätigen könne. Houston war nicht schwanger, und nach der Untersuchung zeigte Blair ihr die Klinik. Mrs. Krebbs war bereits nach Hause gegangen, und die Zwillinge konnten sich ungestört miteinander unterhalten.
»Blair, ich habe dich schon immer bewundert. Du bist so tapfer.«
»Ich und tapfer? Das bin ich keineswegs.«
»Aber ich brauche mich doch nur hier umzusehen! Das ist nur entstanden, weil du wußtest, was du wolltest, und deinen Willen in die Tat umgesetzt hast. Du hattest dir vorgenommen, Ärztin zu werden und dich von diesem Ziel durch nichts abbringen zu lassen. Ich hatte auch einmal Träume; aber ich war zu feige, sie zu verwirklichen.«
»Was für Träume? Ich meine, wenn ich von Leander einmal absehe.«
Houston winkte ab. »Ich glaube, ich habe mich damals nur für Lee entschieden, weil er zu den Träumen gehörte, die von Mutter und Mr. Gates lebhaft unterstützt wurden. Damit habe ich mir ihr Wohlwollen erkauft.« Sie hielt inne und lächelte. »Ein anderer Teil von mir hat die Streiche genossen, die du Lee gespielt hast.«
»Du hast davon gewußt?«
»Von fast allen. Nach einer Weile fieberte ich geradezu dem nächsten Streich entgegen. Ich war es, die Lees Verdacht auf John Lechner lenkte.«
»John war schon immer ein Angeber gewesen. Ich bin sicher, er hat die Keile verdient, die er von Lee bezog. Houston, ich hatte ja keine Ahnung, daß du dich für einen Feigling gehalten hast! Ich habe mir immer gewünscht, daß ich so vollkommen sein könnte wie du.«
»Vollkommen! Nein, ich hatte nur Angst, ich könnte Mutter enttäuschen, Mr. Gates in Rage bringen und nicht halten, was sich die Stadt von einer Chandler verspricht.«
»Während ich fast bei jedem aneckte, obwohl ich mich mit keinem anlegen wollte. Du hast so viele Freunde — so viele Menschen, die dich lieben.«
»Natürlich mögen sie mich«, gab Houston mit leicht gereizter Stimme zurück. »Dich würden sie ebenfalls mögen, wenn du so viel für sie tun würdest, wie ich für sie getan habe. Erst heißt es: >Wir wollen eine Gesellschaft geben<, und dann sagte jemand: >Wir holen uns dafür Blair-Houston — die nimmt uns die ganze Arbeit ab<. Und ich war zu feige, auch nur einmal nein zu sagen. Ich habe Parties organisiert, zu denen ich gar nicht eingeladen war. Wie oft habe ich mir gewünscht, ich hätte die Courage zu einer Absage. Ich träumte davon, eine Tasche zu packen, den Baum vor deinem Fenster hinunterzuklettern und davonzulaufen. Aber ich war zu feige dazu. Du sagtest immer, mein Leben sei sinnlos. Wie recht du damit hattest.«
»Ich war nur eifersüchtig«, flüsterte Blair.
»Eifersüchtig? Worauf? Doch nicht auf mich!«
»Ich habe das nicht gewußt, bis Lee mir die Augen öffnete. Ich habe Preise gewonnen, stets die besten Noten gehabt, bin dafür ausgezeichnet worden und dennoch immer einsam gewesen. Es tat weh, wenn Mr. Gates sagte, er wollte mich nicht im Haus haben, doch dich um so mehr. Es tat weh, wenn du mir schriebst, wie viele Männer dich Abend für Abend zum Tanzen eingeladen hatten. Wenn ich über einem Buch saß, um zu lernen, wie man sachgerecht ein Bein amputiert, mußte ich es weglegen, um deinen Brief noch einmal durchzulesen. Die Männer haben mich nie umschwärmt wie dich, und manchmal habe ich daran gedacht, die Medizin aufzugeben, wenn ich dafür eine normale Frau sein könnte, die nach Parfüm duftete und nicht nach Karbol.«
»Und wie oft habe ich mir gewünscht, ich könnte etwas Wichtigeres tun als Stoffe auszusuchen für mein nächstes Kleid«, sagte Houston seufzend. »Die Männer mochten mich nur, weil sie mich für >fügsam< hielten, wie Lee es ausdrückte. Ihnen gefiel der Gedanke, eine Frau zu haben, die ihnen untertänig war. Für die meisten Männer war ich ein abgerichteter Hund in menschlicher Gestalt — jemand, der ihnen die Pantoffel apportierte. Sie wollten mich heiraten, weil sie wußten, was sie bekämen: keine Überraschungen von Houston Chandler.«
»Glaubst du, daß Lee dich aus diesem Grund heiraten wollte?«
»Manchmal bin ich mir gar nicht sicher, daß er mich überhaupt gebeten hat, ihn zu heiraten. Wir haben uns ein paarmal gesehen, nachdem er nach Chandler zurückgekommen war, und ich war vermutlich so sehr darauf fixiert, ihn zu heiraten, daß ich einfach ja sagte, sobald dieses Wort zwischen uns zur Sprache kam. Am nächsten Morgen fragte mich Mr. Gates, ob es schon so weit wäre, daß er unsere Verlobung in der Zeitung bekanntmachen könne. Ich nickte, und am Tag darauf war das Haus voller Leute, die mir ein lebenslanges Glück wünschten.«
»Ich kenne die Bürger von Chandler und ihre ausgeprägte Neugier. Aber du hast doch Lee die ganzen Jahre über geliebt.«
»Vermutlich; nur hatten wir uns nie viel zu sagen. Du hast mit Lee in wenigen Tagen mehr geredet als wir beide in einem Jahr.«
Blair schwieg eine Weile still. Seltsam, daß sie so lange auf ihre Schwester eifersüchtig gewesen war, während diese wiederum sie beneidet hatte.
»Houston — du sagtest eben, du hättest Angst davor gehabt, deine Träume in die Tat umzusetzen. Was waren das für Träume?«
»Nichts Bedeutendes. Nichts, was sich mit deinem Wunsch, Ärztin zu werden, vergleichen ließe. Doch ich träumte davon, daß ich vielleicht schreiben könnte — nicht einen Roman oder ein großartiges Stück; aber möglicherweise Artikel für Frauenzeitschriften. Wie man zum Beispiel seidenen Charmeuse reinigen kann oder eine wirklich gute Gesichtsmaske herstellt.«
»Doch Mr. Gates hätte das gar nicht gefallen, wie?«
»Er ist der Meinung, daß Frauen, die schreiben, vermutlich Ehebrecherinnen sind, die von ihren Ehemännern vor die Tür gesetzt wurden und zusehen müssen, wie sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.«
Blairs Augen wurden ganz groß. »Er nimmt kein Blatt vor den Mund, wie?«
»Nein, und ich habe mich jahrelang von ihm kujonieren lassen.«
Blair fuhr mit dem Finger an der Kante einer Vitrine entlang. »Und dein Mann kujoniert dich nicht? Ich weiß, daß du mir sagtest, du würdest ihn lieben; doch nun ist. . . bist du . . . Ich meine, du bist nun mit ihm verheiratet und hast eine Weile mit ihm gelebt.«
Egal, wie oft Houston ihr versichern würde, daß sie diesen Mann liebte: Blair konnte das einfach nicht glauben. Tags zuvor hatte sie Taggert vor der Nationalbank von Chandler gesehen. Der Bankdirektor, der nur halb so groß war wie Taggert, hatte vor ihm gestanden, zu ihm hinaufgeschaut und so rasch geredet, wie er nur konnte. Taggert hatte gelangweilt über den Kopf des Direktors hinweg irgend etwas am Ende der Straße beobachtet, dann seine goldene Taschenuhr aus der Weste gezogen, einen kurzen Blick darauf geworfen und schließlich den Bankdirektor ins Auge gefaßt. »Nein!« hatte Blair ihn sagen hören, ehe er sich umdrehte und die Straße hinunterging. Er hatte sich nicht einmal mehr umgedreht, als der Direktor ihm nachlief und ihn mit Bitten bestürmte, doch noch einmal stehenzubleiben und ihn anzuhören.
Unerbittlich — das war für sie der Begriff, unter dem sie sich ihren Schwager vorstellte. Wie konnte Houston nur so einen Mann wie ihn lieben?
Als Blair zu ihrer Schwester hochsah, gab Houston ihren Blick lächelnd zurück. »Ich liebe ihn von Tag zu Tag mehr. Aber wie steht es mit dir und Lee? Bei der Hochzeit sagtest du, du hättest Zweifel, daß er dich liebt.«
Blair dachte daran, wie sie heute morgen in der Hitze des Gefechtes aus dem Bett gefallen waren und mit welchem Gesicht Mrs. Shainess später das Frühstück auf den Tisch geknallt hatte. Als die Frau ihnen wieder den Rücken zudrehte, hatte Lee so schrecklich die Augen verdreht, daß Blair kichern mußte. »Lee ist in Ordnung«, sagte sie schließlich, worauf Houston laut auflachte.
Dann zog sie sich die Handschuhe wieder an. »Ich bin froh, daß sich alles so entwickelt hat, wie es heute ist. Doch nun sollte ich lieber wieder gehen. Kane und der Rest der Familie werden mich brauchen.« Sie hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Was für ein herrliches Wort. Ich habe zwar keinen akademischen Grad; aber ich werde gebraucht.«
»Ich brauche dich ebenfalls«, sagte Blair. »Warst du es oder Mama, die mir heute meine >Patienten< besorgt haben?«
Houston blickte ihre Schwester groß an. »Ich habe keine Ahnung, was du damit meinst. Ich bin lediglich hierhergekommen, weil ich hoffte, ich sei in anderen Umständen. Ich habe vor, diese Besuche mindestens einmal im Monat zu wiederholen — oder jedesmal, wenn ich mich nicht besonders gut fühle.«
»Ich denke, du solltest öfter deinen Mann besuchen statt mich, wenn du dir ein Baby wünschst.«
»So wie du Lee jede Nacht und jeden Morgen besuchst, daß er nicht mehr fähig ist, ans Telefon zu gehen?«
»Oh?« machte Blair, ehe ihr wieder einfiel, was sie damals zur Vermittlung gesagt hatte, als Lee am Apparat verlangt wurde. Natürlich wußte das inzwischen die ganze Stadt.
»Ach, was ich dich noch fragen wollte — wie macht sich denn Mrs. Shainess als Haushälterin?«
»Furchtbar. Sie kann mich nicht ausstehen.«
»Das ist Unsinn. Sie gibt nämlich vor allen Leuten mit ihrer Doktor-Lady an.« Houston küßte ihre Schwester auf die Wange. »Ich muß jetzt gehen. Morgen rufe ich dich an.«