Kapitel 14

Blair war am nächsten Morgen um fünf Uhr dreißig fertig angezogen und abholbereit. Sie saß auf dem Bettrand und überlegte, was sie bis um sechs Uhr anfangen könnte. Und sollte sie im Erdgeschoß auf ihn warten, oder würde er wieder durch ihr Mansardenfenster ins Haus kommen?

Als die Uhr in der Halle sechs Uhr schlug, öffnete sie ihre Zimmertür, weil sie die Haustürglocke zu hören glaubte. Sie flog förmlich die Treppe hinunter und erreichte die Halle in dem Moment, als eine verschlafene Susan Leander die Haustüre öffnete.

»Guten Morgen«, sagte er lächelnd. »Fertig zur Abfahrt?«

Sie nickte zustimmend.

»So können Sie nicht gehen, Miss Blair-Houston. Sie haben noch nichts gegessen, und die Köchin ist noch nicht mit dem Frühstück fertig. Sie müssen warten, bis sie sich angezogen hat.«

»Hast du etwas gegessen?« fragte sie Lee.

»Mir kommt es so vor, als hätte ich seit Tagen nichts mehr gegessen«, antwortete er. Und als er sie dabei anlächelte, fiel ihr wieder auf, wie gut er aussah mit diesen grünen Augen.

Und aus irgendeinem Grund fühlte sie sich im selben Moment an die Nacht erinnert, die sie gemeinsam verbracht hatten. Es war seltsam, daß sie jetzt an etwas denken mußte was sie schon vor Tagen vergessen zu haben glaubte. Vielleicht lag es daran, daß er nun nicht mehr versuchte, sie in Rage zu bringen.

»Komm in die Küche, und ich mache dir ein Frühstück. Eier und Speck werde ich ja noch braten können. Die Mahlzeiten in diesem Haus richten sich nach Mr. Gates. Er ist ein Spätaufsteher, und so lange können wir nicht warten.«

Eine halbe Stunde später lehnte sich Lee am großen eichenen Küchentisch zurück und wischte sich den Mund ab. »Blair, ich hatte keine Ahnung, daß du kochen kannst. Welcher Mann darf denn auch von einer Frau erhoffen, daß sie ihm alles zugleich ist: Köchin, Freundin, Kollegin und« — er senkte Augen und Stimme — »Geliebte? Nein, das wäre des Guten zu viel.« Mit einem Seufzer sah er wieder zu ihr hoch. »Ich habe mir geschworen, daß ich kein schlechter Verlierer sein und dich mit Anstand freigeben werde.« Er lächelte so treuherzig wie ein kleiner Junge. »Du mußt mir verzeihen, wenn ich das manchmal vergesse.«

»Ja, natürlich«, sagte sie nervös, weil sie wieder an die Nacht denken mußte, die sie gemeinsam verbracht hatten. An die Nacht, in der sie meinte, ihm in der Rolle ihrer Schwester eine Geliebte sein zu müssen, als seine Hände . . .

»Sind sie nicht sauber?«

»Wie bitte?« sagte sie, in die Gegenwart zurückkehrend.

»Du hast meine Hände angestarrt, und deshalb fragte ich mich, ob etwas nicht mit ihnen stimmt.«

»Ich . . . können wir jetzt aufbrechen?«

»Sobald du willst«, sagte er, stand auf und zog ihren Stuhl zurück.

Blair lächelte ihm zu, weil sie nun an die schlechten Manieren des Mannes denken mußte, den Houston zu heiraten beabsichtigte. Absolut indiskutabel, wenn sie ihn mit Lee verglich.

Auf dem Weg zum Hospital fragte er sie nach Alan, und sie sagte, daß sie sich mit ihm vor dem Krankenhaus treffen wollte. Tatsächlich erwartete er sie dort mit schlafverklebten Augen und mürrischem Gesicht, als er Blair mit Leander in dessen Kutsche eintreffen sah.

Es wurde ein langer und anstrengender Tag für sie. Es schien, als wäre Lee für alle Patienten im Haus allein verantwortlich, und die drei mußten für zwölf arbeiten. Um ein Uhr nachmittags wurden vier schwerverletzte Männer eingeliefert, die man nach einem Stolleneinbruch in der Zeche Inexpressible freigeschaufelt hatte. Zwei von ihnen starben, ehe man sie untersuchen konnte, einer hatte ein gebrochenes Bein und der vierte schwebte zwischen Leben und Tod.

»Der ist nicht zu retten«, sagte Alan. »Reine Zeitverschwendung.«

Blair betrachtete den Mann, der mit geschlossenen Augen vor ihr lag, sah am Flattern der Lider, wie er sich an sein Leben klammerte. Sie wußte nicht zu sagen, wie schwer seine inneren Verletzungen waren; aber sie dachte, vielleicht hat er doch eine Überlebenschance. Eigentlich hätte er schon tot sein müssen, so schlimm sah er aus. Doch er schien einen unbeugsamen Lebenswillen zu haben.

Blair blickte zu Lee hinauf, und einen Moment lang fühlte er sich an die Augen des jungen Gewerkschaftsführers erinnert.

»Ich denke, er hat eine Chance. Sollen wir ihn nicht aufschneiden und sehen, was wir tun können? Ich glaube, er will überleben.«

»Blair«, sagte Alan gereizt, »selbst ein Laie sieht doch, daß er nur noch ein paar Minuten zu leben hat. Alle seine inneren Organe müssen zerquetscht sein. Laß ihn bei seiner Familie sterben.«

Blair achtete nicht auf ihn. Ihre Augen blieben auf Lee gerichtet. »Bitte«, flüsterte sie, »bitte.«

»Wir wollen ihn in den Operationssaal bringen!« rief Lee. »Nein, er darf nicht bewegt werden! Laßt ihn auf diesem Tisch liegen, und wir werden ihn tragen!«

Blair hatte recht; aber Alan ebenfalls. Die Milz war zerquetscht und blutete stark; aber sie konnten sie entfernen und auch noch andere Verletzungen an inneren Organen behandeln.

Der inneren Blutungen wegen mußten sie rasch arbeiten, und ehe sie sich dessen bewußt wurden, hatten sie Alan vom Operationstisch verdrängt. Leander und Blair, die so gut zusammenarbeiteten und große chirurgische Erfahrungen besaßen, nähten die Wunden so rasch zu, wie Mrs. Krebs die Nadeln einfädeln konnte. Mrs. Krebs war Leanders tüchtigste Operationsschwester und arbeitete mit ihm zusammen, seit er nach Chandler zurückgekehrt war. Als Alan erkannte, daß er das Tempo nicht mithalten konnte, in dem Blair und Leander operierten, trat er vom Operationstisch zurück und überließ den dreien die Arbeit, den Verletzten wieder zusammenzuflicken.

Als sie seine Bauchdecke zugenäht hatten, verließen sie den Operationssaal.

»Von jetzt ab ist der Herrgott für den Patienten zuständig; aber ich glaube, wir haben alles getan, was in unserer Macht steht, um dem Mann zu helfen.« Er grinste Blair an. »Du warst verdammt gut. War sie das nicht, Mrs. Krebs?«

Die kräftige, grauhaarige Schwester brummelte: »Das werden wir sehen, wenn der Patient am Leben bleibt«, und verließ den Saal.

»Sie macht wohl nicht gern Komplimente«, sagte Blair, während sie sich das Blut von den Händen wusch.

»Nur, wenn du sie verdienst. Ich warte immer noch auf meines. Aber ich arbeite ja erst seit zwei Jahren in diesem Krankenhaus.«

Sie lachten beide, und Blair merkte gar nicht, daß Alan neben dem Fenster an der Wand lehnte und sie beobachtete.

Anschließend begaben sie sich wieder in die Krankenstation und behandelten am späten Nachmittag ein Kind, das mit schweren Verbrennungen eingeliefert wurde. Blair und Leander schienen unermüdlich zu sein, während Alan hinter ihnen hertrottete und sich immer überflüssiger vorkam. Zweimal versuchte er mit Blair zu reden, daß sie endlich nach Hause sollte; doch sie wollte nichts davon hören. Sie wich nicht eine Sekunde von Lees Seite. Um zehn Uhr abends war Alan vollkommen erschöpft.

»Kommt mal mit in mein Büro«, sagte Lee um elf Uhr abends. »Ich habe dort Bier und belegte Brote bereitstellen lassen, und ich möchte euch noch etwas zeigen.«

Alan saß in einem Sessel und verschlang hungrig ein Sandwich, während Lee Blaupausen entrollte und sie auf einem Tisch ausbreitete. »Das sind meine Pläne für eine Frauenklinik — eine Stätte, wo Frauen sich mit all ihren Beschwerden und Krankheiten untersuchen und behandeln lassen können.« Er blickte Blair an und lächelte. »Aber nicht mit Pferdedung und Krebspflaster.«

Sie gab sein Lächeln zurück und merkte plötzlich, daß sein Gesicht nur wenige Zentimeter von dem ihren entfernt war — mit einem Ausdruck, den sie nur einmal an ihm gesehen hatte. In jener Nacht. Ehe sie wußte, was sie tat, beugte sie sich ihm auf eine Weise entgegen, die ihr ganz natürlich erschien. Und es schien absolut normal zu sein, daß er ihr jetzt einen Kuß geben sollte.

Doch nur einen Hauch von ihrem Mund entfernt zuckte er plötzlich zurück und begann, die Blaupausen wieder zusammenzurollen.

»Es ist schon spät, und ich sollte jetzt lieber nach Hause gehen. Offenbar haben wir Alan ein bißchen zu viel zugemutet, und außerdem ist es sinnlos für mich, wenn ich dir die Pläne zeige. Du wirst ja gar nicht mehr hier sein, wenn ich sie einrichte. Du arbeitest dann an einer etablierten Klinik in einer Großstadt und brauchst dich nicht mit den Widrigkeiten herumzuschlagen, die zu jedem Neubeginn gehören. Du brauchst dir nicht erst zu überlegen, welche Geräte du anschaffen und wie du die Räume aufteilen mußt — welches Personal du benötigst, wie viele Patienten du aufnehmen kannst und in welchen Fachbereichen du sie behandeln könntest.«

Er hielt inne und seufzte. »Nein, in deinem Großstadtkrankenhaus ist alles längst geplant und organisiert. Dort wird es nicht so hektisch zugehen wie in einer neueröffneten Klinik.«

»Aber das hört sich doch gar nicht so übel an. Ich meine, es könnte doch Spaß machen, mit dir zu überlegen, wie du die Klinik einrichten möchtest. Ich würde zum Beispiel eine besondere Abteilung für Brandwunden einrichten, eine Isolierstation oder . . .«

Er schnitt ihr das Wort ab. »Ein guter Vorschlag; aber in einer Großstadtklinik pflegen die Patienten auch ihre Rechnungen zu bezahlen.«

»Wenn eine Großstadtklinik so viele Vorteile hat, warum bist du dann nicht in deiner geblieben? Weshalb bist du hierhergezogen?« fragte sie ungehalten.

Mit übertriebener, fast ehrfürchtiger Sorgfalt legte er seine Pläne in den Wandsafe zurück. »Wahrscheinlich, weil ich das Gefühl, gebraucht zu werden, der Sicherheit vorziehe«, sagte er, sich wieder zu ihr umdrehend. »Im Osten gibt es mehr als genug Ärzte; doch hier mußt du dich anstrengen, wenn du dein Pensum schaffen willst. Hier herrscht ein Mangel an ärztlicher Versorgung. Hier habe ich das Gefühl, daß ich etwas Gutes für die Leute tue, die auf mich angewiesen sind. Aber an der Ostküste hatte ich dieses Empfinden nicht.«

»Glaubst du, daß ich nur der Sicherheit wegen nach Pennsylvania zurückkehren will? Denkst du etwa, ich wäre der Arbeitslast hier nicht gewachsen?«

»Blair, bitte, ich wollte dich nicht beleidigen. Du hast mich gefragt, warum ich nicht einen sicheren und bequemen Arbeitsplatz an einer großen und reibungslos funktionierenden Klinik an der Ostküste haben wollte, und ich habe dir meine Gründe dafür genannt. Das ist alles. Wir sind Kollegen. Es würde mir niemals einfallen, dir zu sagen, was du tun oder lassen solltest. Im Gegenteil, wenn ich mich recht entsinne, räume ich dir sogar alle Hindernisse aus dem Weg, damit du dir deine Wünsche erfüllen kannst. Ich habe meine Absicht aufgegeben, dich zu heiraten, damit du in den Osten zurückkehren, Alan heiraten und in deinem Krankenhaus arbeiten kannst, wie du es wolltest. Was könnte ich denn noch tun, um dich zu unterstützen?«

Darauf wußte sie ihm nichts zu antworten, fühlte sich aber verunsichert. In diesem Moment kam sie sich egoistisch vor, wenn sie im St.-Joseph-Hospital arbeiten wollte, als suche sie dort nur Ruhm zu gewinnen, statt den Menschen zu helfen, wie es ihre Berufsethik verlangte.

»Und was Alan anlangt, sollten wir ihn lieber nach Hause bringen«, sagte Lee in ihre Gedanken hinein.

Blair hatte Alan total vergessen, und als sie sich nun zu ihm umdrehte, sah sie ihn mit nach vorne gesacktem Oberkörper im Sessel sitzen. »Ja, das sollten wir wohl«, sagte sie zerstreut. Sie dachte noch immer über Lees Worte nach. Vielleicht war ein großes Krankenhaus »sicher«, aber die Leute wurden dort genauso krank wie hier im Westen. Allerdings standen ihnen im Osten viel mehr Ärzte zur Verfügung, und hier gab es nicht einmal ein ordentliches Krankenhaus für Frauen. In Philadelphia waren mindestens vier Spezialkliniken für Frauen und Kinder eingerichtet worden, und selbstverständlich wurden sie dort auch von weiblichen Ärzten versorgt, weil jeder wußte, daß Frauen manchmal lieber jahrelang Schmerzen ertrugen, als sich von einem Mann untersuchen zu lassen.

»Können wir aufbrechen?« fragte Lee, nachdem er Alan geweckt hatte.

Blair dachte auf dem Weg nach Hause über alles nach, was Lee zu ihr gesagt hatte, und das beschäftigte sie auch noch eine Weile, als sie bereits im Bett lag. Zweifellos brauchte diese Stadt eine Ärztin, und sie konnte ihm bei dem Aufbau seiner neuen Klinik helfen und gleichzeitig ihre praktische Ausbildung bei ihm zu Ende bringen.

»Nein, nein, nein!« sagte sie laut, während sie mit der Faust in die Kissen schlug. »Ich werde nicht in Chandler bleiben! Ich werde Alan heiraten, als Assistenzärztin an der St.-Joseph-Klinik arbeiten und anschließend eine Praxis in Philadelphia eröffnen!«

Doch als sie mit diesem Entschluß einschlafen wollte, mußte sie wieder an die vielen Frauen in Chandler denken, die von keiner Ärztin betreut wurden. Es wurde eine unruhige Nacht für sie.

Am Mittwochmorgen kam Lee in die Villa Chandler, um sie zu besuchen, und Blair merkte, daß sie sich freute, ihn wiederzusehen.

»Ich muß heute erst am späten Nachmittag meinen Dienst in der Klinik antreten, und da dachte ich mir, vielleicht sollte ich dich fragen, ob du mit mir ausreiten möchtest. Ich bin zuerst zum Hotel geritten, um Alan zu bitten, uns zu begleiten; aber er sagte, er sei zu müde dazu, und das Reiten sei sowieso nichts für ihn. Vermutlich wirst du mir deshalb einen Korb geben, nicht wahr?«

Ehe Blair ein Wort sagen konnte, fuhr er rasch fort: »Natürlich wirst du mir einen Korb geben.« Er blickte auf seinen Hut hinunter, den er mit beiden Händen festhielt. »Du kannst nicht mit mir allein ausreiten, weil du ja mit einem anderen Mann verlobt bist. Doch da die ganze Stadt glaubt, daß ich dich in fünf Tagen heiraten werde, würde keine andere junge Dame meine Einladung annehmen.« Er wollte wieder zur Tür zurückgehen. »Entschuldigung. Ich hatte nicht vor, dich mit meinen Problemen zu belästigen. Meine Einsamkeit ist nicht deine . . .«

»Lee«, sagte sie rasch, ihn am Arm fassend. »Ich . . . ich hätte so gern mit dir über den Fall von Blutvergiftung gesprochen, den du in der Klinik behandelst. Vielleicht . . .«

Leander gab ihr nicht Gelegenheit, den Satz zu beenden. »Du bist großartig, Blair - ein echter Freund«, sagte er, während er sie anstrahlte, daß ihr die Knie weich wurden. Und im nächsten Moment spürte sie schon seine Hand im Kreuz, die sie durch die Tür auf die Veranda hinausschob und dann auf den Hof, wo zwei gesattelte Pferde auf sie warteten.

»Aber ich kann doch nicht in diesem Kleid ausreiten«, protestierte sie und blickte auf ihren langen Rock hinunter.

»Aber das Kleid steht dir«, sagte er, »und was macht es schon, wenn du mir deine nackten Knöchel zeigst? Außer mir sieht sie ja keiner, und ich habe schon mehr gesehen als das.«

Und ehe sie noch etwas sagen konnte, hatte er sie schon aufs Pferd hinaufgehoben, wo sie sich bemühte, ihre Röcke so zu ordnen, daß der Anstand einigermaßen gewahrt blieb. Sie hoffte nur, daß Houston jetzt nicht aus dem Fenster sah. Houston mochte ihr vielleicht eines Tages verzeihen, daß sie ihr den Mann gestohlen hatte, den sie heiraten wollte; doch sie würde ihr nie — niemals — einen Verstoß gegen die Kleidersitte vergeben.

Leander grinste sie an, und in diesem Moment war ihre Schwester vergessen und alle ihre Bedenken, daß sie mit einem Mann zusammen war, mit dem sie nicht zusammen sein sollte.

Er führte sie weit weg von der Stadt. Sie ritten eine Weile nebeneinander, und Blair brachte ihn dazu, daß er ihr noch mehr erzählte von seinen Plänen mit der Frauenklinik. Und sie erzählte ihm ihre Vorstellungen davon. Einmal meinte er sehr nachdenklich, daß er sich wünschte, einen Kollegen an seiner Seite zu haben. Behutsam erkundigte sich Blair, ob er sich auch eine Kollegin vorstellen könne. Wenn Blair diese Kollegin wäre, antwortete er, könne er sich das sehr gut vorstellen, und dann redete er eine halbe Stunde lang nur davon, wie sie in der neuen Klinik Zusammenarbeiten würden, wenn sie in Chandler bliebe. Es dauerte nicht lange, und sie wurde von seinen Phantastereien angesteckt. Sie sprach von den Wundertaten, die sie gemeinsam verrichten würden, bis sie alle Krankheiten im Staate Colorado ausgemerzt hätten.

»Und dann könnten wir drei nach Kalifornien umziehen und diesen Staat von seinen Krankheiten kurieren«, meinte Leander lachend.

»Wir drei?« meinte Blair verständnislos.

Lee warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Alan. Hast du den Mann vergessen, den du liebst? Den Mann, den du heiraten wirst? Er gehört doch auch dazu. Wir müssen ihn ebenfalls als Kollegen in die neue Klinik aufnehmen. Und er wird uns helfen, wie er uns gestern geholfen hat.«

Seltsam — aber Blair konnte sich kaum noch daran erinnern, daß Alan gestern mit ihnen im Krankenhaus gewesen war. Sie wußte zwar noch, daß er dem Mann mit den Unterleibsquetschungen keine Überlebenschance einräumen wollte; aber war er anschließend auch mit ihnen im Operationssaal gewesen?

»Hier sind wir schon«, sagte Lee, als sie ihm auf einen von mächtigen Felsen umfriedeten Platz folgte. Er schwang sich vom Pferd und sattelte es ab. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich den Anblick dieser Stätte ertragen könnte nach allem, was hier passiert ist.«

Blair trat einen Schritt zurück, während er ihrem Pferd den Sattel abnahm. »Was ist denn hier passiert?«

Er verhielt einen Moment, den Sattel auf dem Arm. »Der schlimmste Tag meines Lebens. Ich brachte Houston hierher nach der Nacht, in der du und ich uns geliebt hatten, und mußte feststellen, daß die Frau, der ich die herrlichste Nacht meines Lebens verdankte, nicht die Frau war, mit der ich verlobt gewesen bin.«

»Oh«, sagte Blair kleinlaut und wünschte, sie hätte ihn nicht gefragt. Sie trat zurück, während Leander eine Decke aus seiner Satteltasche nahm und sie auf dem Boden ausbreitete. Dann tränkte er die Pferde an einer Quelle in der Nähe und packte einen Picknickkorb aus.

»Setz dich«, sagte er.

Vielleicht hätte ich doch nicht allein mit ihm ausreiten sollen, dachte sie. Man konnte ihm leicht widerstehen, wenn er sich aufsässig benahm und Alan in den See warf; aber das letzte Mal, als er so nett zu ihr gewesen war, hatte die Sache damit geendet, daß sie sich nackt in den Armen lagen und sich liebten. Blair blickte zu Leander hoch, der über ihr stand, und die Sonne legte einen Strahlenkranz um sein Haupt. Unter keinen Umständen durfte sie zulassen, daß er sie anfaßte, dachte Blair. Und sie mußte verhindern, daß sie auf die Dinge zu sprechen kamen, die in jener Nacht geschehen waren. Wir dürfen nur über medizinische Angelegenheiten reden.

Sie aßen von den Speisen, die Lee mitgebracht hatte, und Blair erzählte ihm von den schlimmsten Fällen ihrer medizinischen Praxis. Sie mußte sich die blutigsten Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrufen, weil Lee seine Jacke ausgezogen und sich nur wenige Zentimeter von ihr entfernt auf dem Boden ausgestreckt hatte. Seine Augen waren geschlossen, und er gab ihr nur hin und wieder mit murmelnder Stimme zu verstehen, daß er zuhörte, so daß sie schließlich befürchten mußte, daß er jeden Moment einschlief. Sie konnte nicht umhin, ihn zu betrachten, während sie einen besonders schlimmen Fall schilderte — seine langen Beine und seine breite, kräftige Brust, deren Pectoralis fast das dünne Baumwollgewebe seines Hemdes sprengte. Sie erinnerte sich wieder daran, wie seine Brusthaare ihren nackten Busen berührt hatten.

Und je mehr sie sich an diese Dinge erinnerte, um so schneller redete sie, bis die Worte sich miteinander verhedderten und ihr in der Kehle stecken blieben. Mit einem frustrierten Seufzen stellte sie ihr Reden ein und blickte auf die Hände in ihrem Schoß hinunter.

Leander sagte lange nichts, und sie dachte schon, er sei vielleicht eingeschlafen.

»Ich bin noch keiner Frau begegnet«, sagte er so leise, daß sie sich vorbeugen mußte, um ihn zu verstehen, »die so gut wie du verstehen konnte, warum ich Arzt geworden bin. Alle Frauen, die ich bisher gekannt habe, haben mich nur ausgeschimpft, wenn ich sie zu spät zu einer Party abholte, weil ich erst noch einen Verletzten zusammenflicken mußte. Und ich habe auch noch keine Frau getroffen, die sich für meinen Beruf interessiert hätte. Du bist die großzügigste und liebenswerteste Person, die mir in meinem Leben begegnet ist.«

Blair fand diesmal in ihrer Verblüffung keine Worte. Zuweilen glaubte sie, sie habe sich nur in Alan verliebt, weil er der erste junge Mann war, der nichts gegen ihren Beruf und ihr Verhalten einzuwenden hatte. Oft hatte Blair versucht, so zu sein wie ihre Schwester: still und vornehm. Und Zurückhaltung zu üben, wenn ein Mann etwas Dummes sagte; statt ihm seine Dummheit vorzuhalten. Aber offenbar vermochte sie nicht über ihren Schatten zu springen. Und so hatte sie ihrer Kritik, ihres Lachens und ihrer Offenheit wegen nie viele Verehrer gehabt. In Pennsylvania hatten die Männer bemerkt, wie hübsch sie war, und sich für sie interessiert; aber als sie erfuhren, daß sie Ärztin werden wollte, hatte sich ihr Interesse rasch abgekühlt. Falls sie sich dennoch nicht von ihrem zukünftigen Beruf abschrecken ließen, fanden sie bald heraus, daß sie sehr klug war, und diese Eigenschaft war für jede Frau tödlich. Sie brauchte einen Mann nur beim Schachspiel zu besiegen oder eine Rechenaufgabe schneller im Kopf zu lösen als er, und sofort wandte sich der Betreffende wieder von ihr ab. Alan war der erste Mann, der sich von ihren Fähigkeiten nicht hatte abschrecken lassen — und daher war Blair nach drei Wochen ihrer Bekanntschaft überzeugt gewesen, daß sie ihn liebte.

Und nun gestand Leander ihr, daß er sie mochte. Und wenn sie daran dachte, was sie ihm in den letzten Tagen alles angetan hatte — ihm seine Kutsche und sein Pferd weggenommen, so daß er zu Fuß in die Stadt zurückkehren mußte —, konnte sie nur staunen, daß er sie überhaupt noch ertragen konnte. Er war entweder ein bemerkenswerter Mann oder ein Masochist.

»Ich weiß, daß du die Stadt in ein paar Tagen verlassen wirst und ich dich vielleicht nie Wiedersehen werde, und deshalb möchte ich dir sagen, was die Nacht, die wir gemeinsam verbrachten, mir bedeutet hat«, sagte er mit einer Stimme, die kaum lauter war als ein Wispern.

»Es war, als könntest du mir nicht widerstehen, wenn ich dich berührte. Das hat meiner Eitelkeit sehr geschmeichelt. Du hast mir meine Eitelkeit vorgehalten; aber ich bin nur eitel, wenn ich mit dir zusammen bin, weil ich mich bei dir so wohl fühle. Und weil ich glaubte, die Frau fürs Leben gefunden zu haben . . . Freundin, Kollegin und eine unvergleichliche Liebhaberin. Und nun habe ich das alles wieder verloren.«

Blair kam ihm bei diesen Worten fast unmerklich immer näher.

Lee drehte das Gesicht von ihr weg. »Ich möchte fair bleiben. Ich möchte dir geben, was du verlangst und was dich glücklich machen wird; aber ich hoffe, du erwartest nicht von mir, daß ich am Bahnhof bin, wenn du mit Alan die Stadt wieder verläßt. Ich werde mich vermutlich am Tag deiner Abreise schrecklich betrinken und meine Probleme einem rothaarigen Barmädchen erzählen.«

Blair setzte sich kerzengerade. »Ist es das, was du magst?« sagte sie steif.

Er blickte überrascht auf sie zurück. »Was soll das sein, was ich mag?«

»Rothaarige Barmädchen?«

»Nun hör mal zu, du kleines, dummes. . .« Sogleich wurde sein Gesicht rot vor Zorn, während er aufstand, ihr die Decke unter dem Podex wegzog und Teller und Bestecke in den Korb zurückwarf. »Nein, ich mag keine rothaarigen Barmädchen. Ich wünschte, es wäre so. Ich war dumm genug, mich in die eigensinnigste, blindeste und hirnvernageltste Frau der Welt zu verlieben. Ich hatte in meinem Leben noch nie Schwierigkeiten mit Frauen gehabt, und seit ich dich kenne, habe ich nur noch Schwierigkeiten.«

Er warf den Pferden die Sättel auf den Rücken. »Es gibt Augenblicke, in denen ich wünschte, ich hätte dich niemals kennengelernt.«

Er drehte sich ihr zu. »Du kannst den Sattelgurt selbst festziehen. Und du wirst auch allein in die Stadt zurückfinden. Das heißt, wenn du nicht so blind bist, daß du den Pfad nicht mehr siehst. Denn offenbar bist du, was Menschen betrifft, total mit Blindheit geschlagen.«

Er stellte den Fuß in den Steigbügel, und dann drehte er sich, von einem Impuls getrieben, noch einmal zu ihr um, nahm sie in die Arme und küßte sie.

Blair hatte vollkommen vergessen, wie es war, wenn sie von Lee geküßt wurde. Sie hätte nicht sagen können, wer sie war; denn sobald dieser Mann sie berührte, war ihr ganzes Bewußtsein von ihm ausgefüllt.

»Du«, sagte er wütend, als er sich von ihr löste und sie ein wenig schütteln mußte, damit sie die Augen wieder öffnete, »ich habe blinde Patienten gehabt, die mehr sahen als du.«

Er ging von ihr weg, wollte sich auf sein Pferd schwingen, murmelte dann: »Oh, zum Teufel«, kam wieder zurück und zog ihren Sattelgurt fest. Er hob sie auf ihr Pferd hinauf und jagte vor ihr her nach Chandler zurück. Als er sein Pferd vor ihrer Haustüre zügelte, sagte er: »Ich erwarte dich morgen früh um acht im Hospital.«

Sie hatte kaum Zeit, zu nicken, als er schon wieder davongaloppierte.