18
Brogan wusste, dass ihm Cavanaugh die Schuld an dem Desaster gab. Der Mann hatte sich die Taschenlampe geschnappt und marschierte, ohne darauf zu achten, ob ihm Brogan und die Männer folgen konnten, schweigend durch den dunklen Gang. Das Verhalten seines Bosses rückte ihn vor Ellis und McPhee in kein besonders gutes Licht. Dabei hatte er die Falltür in der untersten Garagenebene bauen lassen, die jetzt ihre Rettung war. Nicht viele Leute wussten, dass es diese Tunnel gab. Er hatte ein paar Scheine an jemanden bei der Baubehörde abgedrückt, seither wusste er Bescheid. Ein Loch in der Garagenwand hatte genügt, um die Halle mit den Tunneln zu verbinden und ihn dastehen zu lassen wie ein Genie … auch wenn er das in den Augen seines Bosses momentan bestimmt nicht war.
Aber er hatte noch ein Ass im Ärmel. Er hatte eine Geisel mitgenommen, die kleine Schwester des Cops.
Sie war klein und klapperdürr, aber sie wand sich wie eine Furie in seinem Griff, und er hatte das Gefühl, als ob sie eine Tonne wog. Er hielt ihr immer noch den Mund zu, aber nach der Prügelei mit dem widerlichen Mex taten ihm sämtliche Muskeln weh, und er spürte einen stechenden Schmerz in seiner Seite. Vielleicht hatte er sich eine Rippe angeknackst. Auf alle Fälle tat es höllisch weh. Aber nahm die kleine Fotze etwa Rücksicht? Nein, natürlich nicht.
Frauen!
»Verdammt, du wirst jetzt endlich laufen«, zischte er ihr ins Ohr. »Wenn ich auch nur ein leises Schniefen höre, schlitze ich dir die Kehle auf und stelle mir deinen Schädel als Aschenbecher auf den Tisch. Hast du mich verstanden?«
Sie wimmerte, setzte sich aber nicht länger gegen ihn zur Wehr.
»Ich habe dich gefragt, ob du verstanden hast«, fauchte er sie an. »Schließlich kann ich keine Gedanken lesen.«
Das Mädchen nickte heftig mit dem Kopf. Die Angst in ihren Augen zeigte, dass sie seine Drohungen tatsächlich glaubte. So blöd konnte man doch gar nicht sein! Natürlich würde er ihr die Kehle aufschlitzen, aber ihr Schädel als Aschenbecher? Unglaublich, wie dämlich diese Ziege war.
Brogan stellte sie auf ihre Füße, schlang eine Strähne ihres Haars um seine Hand und zog sie dicht an seine Seite. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie sich McPhee über ihn lustig machte. Das Arschloch tat, als zöge es an einer unsichtbaren Zigarette und schnipse dem Mädchen die Asche auf den Kopf. Und Ellis grinste noch. Diese Bastarde! Brogan starrte seine Männer böse an, aber sie zuckten einfach mit den Schultern und sahen ihn weiter grinsend an.
»Da oben rechts, Boss. In der Wand da hinten.« Brogan wies mit seiner freien Hand, Cavanaugh drehte sich noch nicht mal zu ihm um. Junge, war der sauer!
»Ich brauche den Code. Ich gehe davon aus, dass Sie ihn haben, oder wird das hier vielleicht die nächste erbärmliche Suche nach dem Heiligen Gral?«
Der Code. Der Boss wollte den Code zum öffnen der Tür. Brogan war sich sicher, dass zumindest dieser Teil der kurzen Rede richtig bei ihm angekommen war. Während der Rest aufgrund des Echos in diesem Loch ein undeutliches Gemurmel war. Cavanaugh hatte etwas von einer Suche nach einem Wal gesagt. Dabei waren sie noch nicht einmal am Meer. Aus diesen gebildeten Leuten wurde er einfach nicht schlau. Meistens hörte er einfach nicht zu, wenn sie etwas sagten. Was auch im Augenblick bestimmt das Beste war. Er nannte Cavanaugh den Code. Aber wenn der Kerl noch irgendetwas suchen wollte, müsste er das wohl alleine tun.
»Haben Sie auch an ein Transportmittel gedacht? Oder müssen wir vielleicht trampen?«, stieß Cavanaugh sarkastisch aus.
»Nein, ich habe einen Wagen. Er ist abgeschlossen, aber der Schlüssel liegt in einem magnetischen Kasten, der am linken hinteren Kotflügel klebt. Er steht in dem anderen Gebäude. Wir kommen durch einen alten Tunnel hin. Gut, nicht?«
»Ich sehe, Sie haben wirklich an alles gedacht. Wie konnte ich je an Ihnen zweifeln?«
Okay, Brogan kannte diesen Ton. Er blieb stehen und schob das Mädchen Ellis zu. »Hören Sie, wir werden …«
»Pst. Ich glaube, ich habe was gehört«, flüsterte in diesem Augenblick McPhee und zeigte hinter sich.
Die Echos in dem dunklen Gang spielten einem manchmal Streiche. Vier Männer und ein Mädchen machten sicher selbst bereits genügend Lärm, aber als sie stehen geblieben waren, hatte McPhee noch etwas anderes gehört. Das konnte ebenfalls ein Echo sein oder ein Verfolger.
Brogan spürte deutlich, dass noch jemand in der Nähe war. Er riss Cavanaugh die Taschenlampe aus der Hand, machte sie eilig aus, riss Ellis das Mädchen wieder aus dem Arm und legte wieder eine Hand auf ihren Mund.
»Kein Ton, bis ich es dir sage, sonst bringe ich erst denjenigen um, der da hinten ist, und dann erledige ich dich«, flüsterte er der Kleinen zu. »Wir werden fischen gehen, Jungs«, wies er seine Männer leise an. »Verteilt euch. Und passt auf, dass ihr euch nicht gegenseitig erschießt. Falls ich eine verirrte Kugel in den Schädel kriege, werde ich echt sauer. Und jetzt haut endlich ab!«
Brogan zog seine Pistole aus dem Gürtel und riss das Mädchen an seine Brust. Verdammt! Was für ein beschissener Tag!
Diego hatte etwas aufgeholt, aber die Geräusche, denen er gefolgt war, hörten plötzlich auf. Hatten sie vielleicht ihr Ziel erreicht? Wo zum Teufel wollten sie überhaupt hin? Dieser Teil der alten Lagerhalle war ein regelrechtes Labyrinth. Sich immer tiefer dort hineinzubegeben ergab nicht den geringsten Sinn.
Er hatte keine Taschenlampe, weil der Strahl verraten könnte, wo er war. Er verließ sich nur auf seine Augen und auf den gedämpften Lärm, dem er hinterhergelaufen war, jetzt aber war es plötzlich totenstill, er wusste nicht mehr weiter. Sollte er sich bewegen und riskieren, dabei ein Geräusch zu machen, oder blieb er besser stehen, bis auch der Trupp vor ihm weiterging?
»Aarghh. Aahhh.« Die Schreie eines Mädchens prallten von den Wänden ab. »Bitte … ummmphh.« Der letzte Teil des Satzes ebbte wie ein Flüstern in einem tiefen Brunnen ab.
Diegos Herz zog sich zusammen. Er presste seinen Rücken an die Wand, zog die Pistole aus dem Hosenbund, ertastete mit seiner freien Hand den Weg und schob sich durch die Dunkelheit in Richtung des Geräuschs. Gleichzeitig versuchte er herauszufinden, in was für einer Situation er war.
Er hätte ein Vermögen für Turnschuhe bezahlt, denn die handgenähten Slipper, die er trug, waren zum Rennen einfach nicht gemacht. Womit ich dir ganz sicher nicht zu nahetreten möchte, Raffaello. Doch er wagte auch nicht, seine Schuhe einfach auszuziehen. Schließlich konnte man nicht wissen, was alles auf dem Boden lag.
Seine Finger ertasteten eine Ecke, er blieb stehen und reckte vorsichtig den Kopf. Bevor er jedoch etwas sehen konnte, nahm er von unten einen schwachen Lichtschein war. Er zog den Kopf zurück und hielt den Atem an. Der Teil der Rampe, auf dem er kauerte, wurde in dämmriges Licht getaucht. Der Strahl wanderte weiter, erst ruckartig, dann ruhiger, und die länglichen Schatten an der Wand sahen wie ebenholzfarbene Marionetten aus. Diego hätte ausgeharrt, die jämmerlichen Schreie aber hatten seinen Beschützerinstinkt geweckt.
Das musste Rebeccas Schwester sein. Und selbst wenn es ein anderes Mädchen war, hatte er keine andere Wahl, als nachzusehen. Vorsichtig schob er sich näher an die Ecke und schob abermals den Kopf ein Stückchen vor.
Danielle blickte genau in seine Richtung und nahm die Bewegung seines Kopfes wahr. Die Lichtquelle – eine Taschenlampe – lag direkt vor ihren Füßen auf dem Zement. Sie rollte hin und her, als hätte die junge Frau ihr einen Tritt versetzt. Ihre Hände waren an ein Stück Rohr gefesselt, während sie selber auf dem Boden lag. Ein Knebel verstopfte ihr den Mund, doch als sie ihn sah, versuchte sie abermals zu schreien, während sie panisch an ihren Fesseln riss. Vielleicht dachte das arme Mädchen, er wäre einer von den Kerlen und wollte ihr was tun.
Diego spähte vorsichtig in die Dunkelheit. Nirgendwo ein Zeichen von Brogan oder Cavanaugh. Doch rechts hinten an der Wand war eine offene Tür.
Verdammt! Sie waren ihm entwischt. Ob Draper etwas von diesem zweiten Ausgang wusste? Er richtete sich wieder auf, packte die Pistole fest mit beiden Händen, und schlich sich leise die Rampe hinab. Den Rücken an der Wand, sah er sich suchend um, während er sich in ihre Richtung schob. An jeder gefährlichen Stelle seines Wegs schwenkte er die Waffe in alle Richtungen und sah sich suchend um. Vielleicht hatten sich Cavanaugh und Brogan ja hinter irgendwelchen alten Kisten oder Ölfässern versteckt. Die Ecken und Spalten in diesem Teil des Tunnels lagen in vollkommener Dunkelheit. Es war, als ob man in einen bodenlosen Bottich voller Rohöl blickte, dachte er. Es war einfach nichts zu sehen.
Im Grunde war es logisch, dass die beiden verschwunden waren. Cavanaugh wollte sich einen gewissen Vorsprung verschaffen, um aus den Staaten irgendwohin zu verschwinden, von wo er nicht ausgeliefert würde. Bei Brogan allerdings wusste man nie.
Je näher er dem Mädchen kam, umso aufgeregter wirkte sie. Die arme Kleine, dachte er. Ihr Anblick brach ihm regelrecht das Herz. Sie hatte so vieles überlebt. Kein Kind sollte auch nur wissen, dass es eine solche Hölle gab, doch sie hatte sie durchgemacht. Ihre Unschuld und vor allem das Gefühl von Sicherheit hatten diese Bastarde ihr ein für alle Mal geraubt.
Als er endlich vor ihr stand, hob er eine Hand, um sie zu beruhigen.
»Pst. Ich bin hier, um dir zu helfen«, wisperte er sanft, kniete sich neben sie, legte seine Waffe auf dem Boden ab und zog eins seiner Messer aus dem Schaft an seinem Bein. »Ich bin ein Freund deiner Schwester Rebecca.«
»Oh, ich würde sogar sagen, dass du und ihre Schwester noch viel mehr als Freunde seid«, ertönte Brogans Stimme hinter ihm. »Eher so etwas wie ein räudiger, heißer Straßenköter und eine läufige Hündin. Denn schließlich fickt ihr beide wie die Weltmeister.«
Diego hielt den Atem an. Verflucht! Ohne sich zu bewegen, blickte er aus den Augenwinkeln dorthin, wo seine Pistole lag. Könnte er sie sich möglicherweise schnappen und sich schnell genug herumdrehen, um den Typen abzuknallen? Dann hörte er mit einem Mal links von sich ein weiteres Geräusch, das alles noch komplizierter werden ließ. Das Knirschen von Schritten. Es war also noch jemand im Raum. Vielleicht Cavanaugh? Zwei Ziele auf einmal ins Visier zu nehmen war in seiner gebückten Haltung ein Ding der Unmöglichkeit. Er schluckte, denn sein Hals war völlig ausgedörrt.
Diego drehte sich nicht um. Er setzte einfach darauf, dass der Kerl ihn nicht von hinten erschießen würde. Der Bastard wollte sein Gesicht sehen, wenn er starb. Typisch Brogan, er war unglaublich berechenbar.
»Kannst du dich noch daran erinnern, was ich vor einer Weile über kluge Männer gesagt habe? Ich habe gesagt, ein kluger Mann weiß, wann er sich geschlagen geben muss, und räumt dann einfach das Feld. Warum bist du also noch hier? In der Halle wimmelt es nur so vor Polizei und FBI. Wahrscheinlich stellen sie bereits die ersten Straßensperren in der Gegend auf. Ich hätte angenommen, Hunter und du wärt schlau genug, um rechtzeitig auf Tauchstation zu gehen.«
»Wir sind klüger, als du denkst. Deshalb zielen wir jetzt ja auch zu dritt auf deinen Kopf«, brüstete Brogan sich.
Sie waren sogar zu dritt? Diego schloss die Augen, atmete tief ein und blickte dann auf Danielle. Sie konnte nicht sprechen, da sie immer noch geknebelt war, ihr Blick aber sagte alles. Seine Chance, sie zu retten, war vertan. Das war ihr bewusst. Wie sollte es jetzt weitergehen?
»Steh auf, ohne dich umzudrehen, und nimm schön brav die Hände über den Kopf«, wies ihn Brogan an.
Diego hörte Geräusche hinter sich. Sie kamen aus anderen Teilen des Raums.
Als er tat, wie ihm geheißen, fügte Brogan noch eine Anweisung hinzu. »Jetzt dreh dich schön langsam zu mir um. Schieb deine Waffe zu einem von meinen Jungs, schön langsam und vorsichtig.«
Diego versteckte das Messer in seiner Hand, drehte sich zu Brogan um, und schob die Pistole mit dem Fuß in Richtung des Kerls, der ihm am nächsten stand.
Cavanaugh stand neben der offenen Tür zu seiner Linken. Wahrscheinlich hatte er sich im Dunkeln hinter der Tür versteckt. Als Diego ihn bemerkte, konnte er sich eine selbstgefällige Bemerkung nicht verkneifen.
»Freut mich, dass Sie uns eine letzte Gelegenheit geben, Ihnen für Ihre Bemühungen zu danken. Das ist wirklich nett.«
Links und rechts von Diego tauchten zwei von Brogans Männern auf, während Brogan selber direkt vor ihm aus einer Nische trat. Da es keine Lichtquelle außer der Taschenlampe auf dem Boden gab, waren die Gesichter von den Typen nicht zu sehen.
Trotzdem wusste Diego, dass jetzt alle auf die Waffe blickten, die er langsam mit dem Fuß über den Boden schob. Es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis sie merkten, dass er etwas in der Hand verborgen hielt.
Diego hätte gern gehabt, dass Brogan weitersprach, doch bei dem geschwätzigen alten Cavanaugh hätte er die beste Chance.
»Lassen Sie das kranke Mädchen hier, Hunter. Sie ist nur eine Belastung für Sie. Nehmen Sie stattdessen mich«, bot er ihm an.
»Weshalb sollte ich das tun?« Cavanaugh trat einen Schritt näher an ihn heran.
»Vielleicht kommen Sie ja wirklich noch hier weg. Obwohl die Zeit läuft und der Vorsprung, den Sie haben, mit jeder Minute kleiner wird. Dieses Mädchen hält Ihnen Rivera sicher nicht vom Hals. Im Gegensatz zu mir.«
Cavanaugh kniff die Augen zusammen und dachte kurz darüber nach. Brogan schnaubte verächtlich auf, denn er hätte das Mädchen sicher gerne noch einmal gequält. Die anderen beiden Männer tauschten unsichere Blicke aus, da sie es für wenig ratsam hielten, eine schwache junge Frau gegen einen Typen einzutauschen, der offenkundig durchaus wehrhaft war. Doch sie hatten nichts zu sagen, sie würden tun, was ihr Boss ihnen befahl.
»Ihre Eloquenz und Ihr logisches Denken haben schon immer großen Eindruck auf mich gemacht.« Cavanaugh kam noch ein Stückchen näher und baute sich am Rand des Lichtkreises auf. »Aber ich habe ein Problem mit Ihrem Vorschlag.«
Diego sah ihn an. »Und das wäre?«
»Offen gestanden wäre es mir lieber zu wissen, dass Sie nicht mehr am Leben sind. Und was Ihren alten Herrn betrifft, den soll der Teufel holen. Ihr von Kugeln durchsiebter Körper wird ihm eine Warnung sein. Hiermit sehe ich unsere geschäftliche Verbindung als beendet an.« Damit wandte er sich zum Gehen. »Mr. Brogan? Feuern Sie, wenn Sie dazu bereit sind, und erlösen Sie das unglückliche Mädchen ebenfalls von seinem Leid. Mr. McPhee? Sie kommen mit mir. Drei Waffen wären ein bisschen übertrieben, finden Sie nicht auch?« Damit trat er durch die offene Tür und bellte über seine Schulter: »Mr. Brogan? Sie und Ellis kommen nach. Trödeln Sie bitte nicht. Sie wissen, wie sehr ich es hasse, wenn ich warten muss.«
Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand er in der Dunkelheit. Dieser Feigling! Diego lenkte seinen Blick wieder auf Matt Brogan, ein anderes Gesicht würde er in seinem Leben nicht mehr sehen.
Er ließ die Arme sinken und kreuzte sie, das Messer in der Hand, vor seiner Brust.
»He, niemand hat gesagt, dass du dich bewegen darfst«, protestierte Brogan.
»Was willst du dagegen tun? Mich vielleicht erschießen?« Diego atmete tief ein. »Selbst du würdest ja wohl einem Mann nicht auch noch den letzten Rest von Würde nehmen, oder?«
»So, wie ich euch zurichten werde, wird Würde das Allerletzte sein, was euch noch bleibt.«
Sein Spießgeselle zuckte mit den Schultern und verzog ungeduldig das Gesicht. »Los. Wir haben keine Zeit für solche Sachen. Wir wissen beide ganz genau, dass der Alte nicht auf uns wartet. Wir müssen los.«
Brogan biss die Zähne aufeinander und bedachte seinen Mann mit einem bösen Blick. »Ellis hat recht«, stellte er an Diego gewandt mir barscher Stimme fest. »Er hat keine Manieren und ist ein Riesenarschloch, aber er hat recht. Wir müssen wirklich los. Glaub mir, ich wünschte, wir hätten etwas mehr Zeit.«
Damit hob er seine Waffe an.
Diego spannte seinen Körper an. Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Er trat vor Danielle, nahm das Messer fester in die Hand, bereit, sich auf den Kerl zu stürzen, wenn …
»Stehen bleiben! Waffen runter.«
Rebecca stand oben auf der Rampe und hielt ihre geladene Pistole schussbereit mit beiden Händen fest. Schöner als in diesem Augenblick war sie noch nie gewesen!
Brogan starrte weiter Diego an und zielte auch mit der Waffe auf sein Herz. »Scheint, als hätten wir eine Pattsituation, Lady. Als weichherziger Mensch lasse ich Ihnen die Wahl. Cavanaugh will die Leiche von dem Mex, ich habe also meinen Befehl. Was Ihre Schwester angeht, überlasse ich es Ihnen, was aus ihr wird.« Er stieß ein leises Lachen aus. »Ich blase dem Mex die Lichter aus, danach gehen wir getrennte Wege, und Sie nehmen Ihre Schwester mit nach Hause. Entweder Sie sind damit einverstanden, oder Ihre kostbare Schwester haucht als Erste ihr Leben aus.« An seinen Handlanger gewandt, fügte er hinzu: »Hast du gehört, Ellis? Der Mex kann das Mädchen nicht vor uns beiden gleichzeitig beschützen. Also nimm die Kleine ins Visier.«
Der Kerl richtete seine Waffe auf Danielle, und die Lage war noch verzwickter als zuvor.
Becca zögerte und blickte Diego an. Mit vor der Brust gekreuzten Armen stand er selbstbewusst mitten im Raum. Danielle hatte sich seltsam ruhig in seinem Rücken gegen die Wand gelehnt. Becca knirschte mit den Zähnen. Damit käme Brogan niemals durch!
Doch als sie Diego wieder ansah, erwiderte er ihren Blick und stellte schulterzuckend fest: »Klingt wie ein Angebot, das du nicht ablehnen solltest, Schatz.«
Danach ging alles furchtbar schnell. Er zog seinen Arm zurück, etwas flog aus seiner Hand, Becca hörte einen lauten, dumpfen Aufprall und sah, dass Brogan noch immer lächelte, als ihn die Klinge traf. Dann aber schrie er gellend auf, starrte auf das Messer, das bis zum Griff in seinem Oberkörper steckte, rang ungläubig nach Luft und stolperte rücklings gegen die Wand.
Danielle schrie gellend auf, bei dem erbärmlichen Geräusch, das dabei durch den Knebel drang, setzte Rebeccas Herzschlag aus.
Der andere Kerl riss entsetzt die Augen auf, starrte Brogan an und zögerte lange genug, dass sie schreien konnte. »Waffe runter … jetzt sofort! Oder Sie sind ein toter Mann!!«
Ellis hielt die Waffe weiter hoch. Sie kannte den verzerrten, aggressiven Blick, mit dem er sie bedachte. Er würde sich ganz sicher nicht verhaften lassen. Er wartete immer noch auf seine Chance.
Sie stürzte auf Ellis zu, um ihn von der Rampe zu stürzen, gleichzeitig jedoch taumelte Brogan, der sich noch immer auf den Beinen hielt, wie eine makabre, blutige Marionette auf sie zu.
Sie hielt sich alle Möglichkeiten offen. Sie stand vielleicht einen Meter neben Ellis, der genau verfolgte, was sie tat. Mit schweißnassen Händen umklammerte sie ihre Waffe und warf einen kurzen Blick auf Brogan und auf Diego, der noch völlig reglos neben ihrer Schwester stand.
Auch Ellis drehte leicht den Kopf, um ja nicht von ihm überrascht zu werden, wandte sie sich ihm umgehend wieder zu.
Warum hatte sich Diego noch nicht bewegt?
Brogan stolperte vorwärts, zog eine Grimasse und riss den Arm mit der Pistole hoch. Diego hatte eine minimale Chance. Vielleicht hätte er sich auf ihn stürzen und ihn erreichen können, bevor er feuerte. Doch er schirmte lieber ihre Schwester, die völlig wehrlos war, mit seinem Körper ab.
Oh mein Gott! Beccas Herz fing an zu rasen, sie atmete keuchend ein und aus. Verdammt! Diego würde sterben. Genau in dem Moment, in dem Ellis seine Schultern sinken ließ und sich zu ihr umdrehen wollte, legte Brogan seine Waffe an. Becca hatte keine Wahl. Sie riss Ellis am Kragen seiner Jacke rückwärts an ihre Brust, benutzte ihn als Schild und nahm Brogan gleichzeitig ins Visier.
Gleich ist alles vorbei. Beweg dich! Brogan bemerkte die plötzliche Bewegung, riss seine Waffe herum und drückte ab. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Und noch einen und noch einen. Ellis bäumte sich vor ihr auf, denn die Kugeln trafen eine nach der anderen seine Brust.
Sein zuckender Körper wurde eine Last, die sich nicht mehr halten ließ. Sie stieß ihn zur Seite, legte die Pistole an und blickte Brogan über den Lauf seiner Waffe hinweg direkt ins Gesicht.
Ich erwische dich! Ich erwische dich, du Schwein!
Ein lautes Knistern drang aus Drapers Funkgerät. »Sir, wir gehen einer Meldung über Schüsse nach. Irgendwo in der unteren Etage. Keine Ahnung, wie oft bisher geschossen worden ist.«
Er erkannte die Stimme von Martinez, dem Leiter seines Geiselbefreiungsteams, und fragte: »Könnten das unsere Leute sein?«
»Wir sind uns noch nicht sicher, wo unsere Männer alle sind. Aber ich schicke ein Team runter, um nachzusehen, was da vor sich geht.«
»Hat irgendwer Diego Galvan oder Detective Rebecca Montgomery gesehen?«, wollte Draper wissen.
»Bisher nicht, Sir. Aber wir haben die Toten noch nicht alle identifiziert. Wir halten Sie weiter auf dem Laufenden. Ende.«
Die Toten? Die Worte schnürten ihm die Kehle zu. Dabei hatte er sich bisher immer eingebildet, Schuldgefühle wären ihm vollkommen fremd.
Er fing den Blick von Lieutenant Santiago auf, der ein paar Meter neben ihm stand. Der Mann hatte die letzte Meldung ebenfalls vernommen und machte ein sorgenvolles Gesicht.
Draper spürte deutlich, wie sich auch sein eigener Magen schmerzlich zusammenzog. Er hatte die Leben zweier Menschen bewusst aufs Spiel gesetzt. Obwohl er Joe Rivera gnadenlos gezwungen hatte, seinen eigenen Sohn als Spitzel bei diesen Schweinen einzuschleusen, hatte Diego ihnen mindestens genauso gut gedient wie jeder ausgebildete Agent. Falls ihm irgendwas passierte, täte ihm das weh, als verlöre er jemanden aus seinem Trupp.
»Verdammt.« Er biss die Zähne aufeinander und sah sich die unzähligen Leute an, die in wildem Durcheinander durch die Halle liefen. Er musterte jedes einzelne Gesicht, Diego tauchte nirgends auf.
Die Hochphase des Einsatzes war inzwischen abgeschlossen, jetzt räumten sie hinter den Verbrechern auf. Die Lichter der Streifen- und der Krankenwagen wanderten über den dunklen Himmel und blendeten die Sterne aus. Die hektischen Stimmen von Ärzten, Sanitätern und Gesetzeshütern nahm Draper nur am Rande wahr, aber wenn er auf einen Anruf reagieren musste, verstand er jedes Wort. Seinen eingebauten Chaos-Beherrschungsfilter nannte er das.
Natürlich lockte dieser Einsatz auch die Medien an, was ebenfalls ein Grund für das Einschalten des Filters war. Ein paar Blocks entfernt hatte er den Kamerateams den Weg versperren lassen, damit er keine Rücksicht auf sie nehmen musste, falls ihnen einer der Kerle entkam. Erst einmal war es von Vorteil, dass er die Meute auf Abstand hielt. Er würde mit den Journalisten reden, wenn er so weit war. Jetzt hatte er anderes zu tun.
Bis vor ein paar Minuten war er davon ausgegangen, dass die Halle rundherum gesichert war. Die Verletzten und die Toten wurden rausgebracht, und die Sanitäter nahmen sich der Verwundeten an. Die neuerliche Schießerei war eine weitere Komplikation, aber damit kämen seine Leute sicherlich zurecht. Bisher hatten alle Toten zu Cavanaugh gehört. Von seinen eigenen Männern waren einige verletzt, allerdings niemand wirklich schwer.
Sämtliche entführten Mädchen hatten sie gerettet. Ein paar der jungen Frauen waren nie in seinen Akten aufgetaucht. Die Mädchen waren unterernährt, dehydriert und brauchten dringend ärztliche Versorgung. Insgesamt konnte man sagen, dass der Einsatz ein Erfolg gewesen war.
Als Draper die Mädchen sah, die einzeln aus der Halle kamen, hätte er am liebsten laut geknurrt. Cavanaugh hatte sogar Kinder in Mexiko entführen und in die Staaten bringen lassen. Wahrscheinlich hatte er sie mit dem Versprechen angelockt, sie bekämen Arbeit, oder sie einfach kidnappen lassen, weil er sicher wusste, dass die Eltern der verschwunden Mädchen nicht über die nötigen Verbindungen verfügten, um der Spur der Töchter über internationale Grenzen hinweg nachzugehen.
Insgesamt hatte sein Team neunzehn Mädchen im Alter zwischen zehn und zweiundzwanzig aus dem Verlies geführt.
Da er selber Vater war, ging ihm die Geschichte wirklich nah. Kein Vater und keine Mutter sollte einen solchen Alptraum je erleiden müssen. Schließlich waren Töchter ein kostbares Geschenk. Er selber hatte vier. Als er noch jünger gewesen war, hatte er sich nach einem Sohn gesehnt, damit der seinen Namen weitertrug. Er hatte sich damals eingebildet, dass sich dadurch eine gewisse Unsterblichkeit erreichen ließ. Die Zeit und die Erfahrung allerdings hatten ihn eines Besseren belehrt.
Für ihn war die Verbindung zwischen Kind und Vater theoretisch unabhängig vom Geschlecht. Doch die Bindung zwischen ihm und seinen Töchtern war auf ihre eigene Weise wunderbar. Die Liebe in den Augen dieser jungen Frauen zu sehen und zu wissen, dass sie ihm alleine galt, hatte ihn mit einer ungeahnten Befriedigung erfüllt.
Die Tragödie, deren Zeuge er hier war, hatte alle diese jungen Leben ruiniert. Wenn er in die Augen einer seiner eigenen derart zerstörten Töchter hätte blicken müssen, hätte ihn das umgebracht. Bastarde wie Cavanaugh hatten für ihre Sünden die Hölle auf Erden und viel Schlimmeres verdient.
»He, Mike. Das hier dürfte Sie interessieren.« Lieutenant Santiago boxte ihm gegen die Schulter und zeigte auf die beiden Streifenwagen, die ohne Sirenen, dafür aber mit Rotlicht vor der Halle vorgefahren waren. Draper lief mit ihm zu den Fahrzeugen hinüber, blickte auf die Rückbänke und sah dort jeweils einen einzelnen Mann.
»Verdammt. Wer zum Teufel ist der Kerl?« Den Muskelprotz im ersten Wagen hatte er noch nie gesehen. »Wo haben wir die zwei erwischt? Ich hatte schon die Befürchtung, der Big Boss wäre uns vielleicht doch noch entwischt.«
Draper beugte sich hinab und bedachte den Mann, den er verfolgt hatte, mit einem durchdringenden Blick. Hunter Cavanaugh hatte noch nie so gut ausgesehen wie in diesem Augenblick, in dem er in Handschellen auf dem Rücksitz eines Streifenwagens saß. Der Mann in dem anderen Wagen sah verängstigt genug aus, um alle anderen zu verpfeifen, setzte man ihm nur ein wenig zu.
»Der andere Typ heißt Steve McPhee. Er hat ein Vorstrafenregister, das ihn sicherlich zum Reden bringen wird. Wir dachten, es wäre eine gute Idee, die beiden zu trennen. Ich rieche so etwas wie eine Kronzeugenregelung«, erklärte Santiago ihm. »Wir haben Glück, dass uns Cavanaugh nicht durch die Lappen gegangen ist.«
»Nun schießen Sie schon los. Ich könnte ein paar gute Nachrichten gebrauchen.«
»Scheint, als hätte unser SEK den Bereich einer verlassenen Textilfabrik hinter dem Zielgebäude gesichert, in dem sich früher der Fuhrpark befunden hat. Von dort aus hatten sie einen guten Überblick über die Rückseite der Halle«, setzte Santiago grinsend an und sprach extra laut genug, damit Cavanaugh ihn aus dem Inneren des Streifenwagens verstand. Der Alte rollte mit den Augen, lehnte sich gegen den Sitz und knirschte mit den Zähnen, als der Lieutenant weitersprach.
»Einer unserer Jungs hat ein verlassenes Fahrzeug in der Halle entdeckt, einen teuren Lexus. Nur, dass er blitzsauber und anscheinend doch nicht unbedingt verlassen war. Deshalb hat unser Team den Wagen im Auge behalten und gewartet, was passiert. Sie haben einen Volltreffer gelandet, weil ihnen dieser Hurensohn direkt in die Arme gelaufen ist. Er hat sich noch nicht einmal richtig gewehrt.«
»Wie ist er dorthin gekommen?«, wollte Draper wissen.
»Es hat sich herausgestellt, dass diese alten Hallen durch ein Tunnelsystem miteinander verbunden sind. Die meisten dieser Tunnel wurden im Verlauf der Jahre zugemauert, aber in der Halle, in der wir Cavanaugh und McPhee erwischt haben, wurde erst vor Kurzem eine neue Falltür eingebaut. Ich wette, dass wir auch noch rausfinden, wer diese Arbeit ausgeführt hat, und dass uns dieser Mensch bereitwillig erzählt, wer sein Auftraggeber war.« Bevor Draper fragen musste, fügte er hinzu: »Wir haben ein Team losgeschickt, das sich den Tunnel anguckt, aus dem Cavanaugh gelaufen kam. Murphy wird sich bei mir melden, wenn er irgendwas entdeckt.«
Draper lenkte seinen Blick auf Cavanaugh, öffnete die Tür des Streifenwagens und beugte sich zu ihm hinein.
»Sie hatten auch schon bessere Tage, oder?« stellte er spöttisch fest, ohne zu erwarten, dass er eine Antwort von dem Kerl bekam. »Was ist mit Detective Rebecca Montgomery passiert?«
Cavanaugh rutschte auf seinem Sitz herum und wandte ihm den Rücken zu. Draper dachte, dass er weiter schweigen würde, doch der elendige Bastard konnte der Versuchung, das Messer in der Wunde umzudrehen, einfach nicht widerstehen.
»Das ist wirklich tragisch. Ich habe gesehen, wie einer Ihrer eigenen Männer sie niedergeschossen hat. Wenn Sie ihre Leiche finden, wird die Autopsie ergeben, dass es so gewesen ist.«
Draper atmete tief durch und versuchte es noch mal. »Wo ist Diego Galvan?«
»Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, war er noch am Leben. Aber wissen Sie, ich glaube, er leidet an einer Allergie. Er verträgt einfach kein Blei. Wetten Sie also besser nicht darauf, ihn noch mal lebend zu sehen. Die Wette würden Sie nämlich bestimmt verlieren.«
Damit hatte er das Fass zum Überlaufen gebracht. Er hätte sich besser nicht über den Fed lustig gemacht.
»Mach ruhig so weiter, du eingebildeter Hurensohn!« Draper beugte sich in den Streifenwagen und fügte im Flüsterton hinzu: »Wenn Galvan tot ist, bist du es nämlich auch. Ich brauche nicht einmal etwas dafür zu tun. Sein Vater wird dir den Arsch aufreißen, selbst wenn ich dich nicht anrühren darf. Ich werde Rivera persönlich schildern, wie die Sache meiner Meinung nach abgelaufen ist.«
Die Selbstgefälligkeit im Blick des Alten wurde durch einen Ausdruck nackter Angst ersetzt. Dabei fing Draper gerade erst an.
»Es gibt noch etwas, worauf ich Einfluss nehmen kann. Der Staat wird dir für lange Zeit eine Unterkunft gewähren, und ich werde persönlich dafür sorgen, dass du dann das Zimmer mit einem Lebenslangen namens Bruno teilen wirst, der schon anfängt zu geifern, wenn er nur an deinen lilienweißen Hintern denkt. Wer auch immer meint, er hätte einen beeindruckenden Schwanz, hat den von Bruno noch nicht gesehen.« Er schob sich noch dichter an Cavanaugh heran und fügte gehässig hinzu. »Jedes Mal, wenn er ihn dir reinschiebt, wirst du an mich denken. Weil du mir diese Freude zu verdanken hast. Auch wenn das nur ein Bruchteil dessen ist, wie du für diese Mädchen büßen wirst.«
»Schaffen Sie mir diesen Typen aus den Augen«, sagte er zu dem Polizisten, der hinter dem Steuer saß, warf Cavanaugh die Tür vor der Nase zu und blickte dem davonbrausenden Wagen erfüllt von glühend heißem Zorn und mit wild klopfendem Herzen hinterher.
Sein Magen zog sich zusammen, als er daran dachte, dass Diego nicht mehr lebte. Dann drehte er sich wieder um, aber als Santiago etwas sagen wollte, schüttelte er stumm den Kopf. Er wollte nicht darüber reden. Er wollte sich nicht trösten lassen. Und er wollte vor allem nicht daran erinnert werden, dass der Rettungseinsatz auf seinen Befehl hin derart lange hinausgezögert worden war.
Er marschierte zurück in Richtung der alten Lagerhalle und wartete ab. Wieder blickte er in die Gesichter all der Leute, die aus dem Gebäude kamen.
Bis er einen Mann bemerkte, dessen Gang ihm irgendwie bekannt vorkam. Er trug ein junges Mädchen in den Armen. Neben ihm lief eine Frau.
Da er plötzlich aus irgendeinem Grund nur noch verschwommen sah, konnte er nicht sicher sagen, ob sie es tatsächlich waren, doch seine Hoffnung war groß genug, dass er nach Santiago rief.
»He, Arturo. Jetzt habe ich etwas, was Sie sehen sollten.«
Der Lieutenant kam angestürzt und folgte mit den Augen Drapers ausgestrecktem Arm. Blinzelnd starrte er in die Ferne, bis er eindeutig erkannte, dass die junge Frau Rebecca war. Mit einem Mal leuchtete sein Gesicht wie ein Weihnachtsbaum.
Er wandte sich wieder Draper zu, riss verblüfft die Augen auf, stieß ihn dann aber freundschaftlich mit der Schulter an. »Allergien. Meine Augen brennen auch immer um diese Jahreszeit. Vor allem, wenn sich mein Innerstes so anfühlt, als würde es aus lauter Marshmallows bestehen.«
Draper rollte mit den Augen, fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und sah Santiago böse an. »Falls Sie irgendjemandem etwas davon erzählen, schwöre ich Ihnen …«
»Meine Lippen sind versiegelt.« Mit hochgezogener Braue fügte er hinzu: »Wer würde mir schon glauben, dass Sie so zart besaitet sind?«
»Kein Mensch.«
Becca blickte blinzelnd in das grelle Licht der Scheinwerfer und schirmte dann die Augen mit einer ihrer Hände ab. Inmitten all der Cops und Sanitäter, die über das Grundstück liefen, entdeckte sie einen Krankenwagen und steuerte direkt auf ihn zu.
Als sie aus der Dunkelheit ins Licht getreten war, war ihr klar geworden, dass sie sich verändert hatte. Dass nichts je wieder so sein würde, wie es bisher war. Obgleich ihr jede Stelle ihres Körpers wehtat, vollführte ihr Herz eine Reihe riesengroßer Freudensprünge, als sie neben Diego lief, der ihre Schwester trug. Sie atmete tief ein und erinnerte sich daran, dass sie noch vor einer Stunde überzeugt war, keiner von ihnen käme lebend aus dem Verlies heraus. Inzwischen hatte sie gelernt, dass es immer Grund zur Hoffnung gab.
Sie lief neben Diego her, der Dani so vorsichtig in seinen Armen hielt, als wäre sie aus Glas. Gleichzeitig sprach er leise beruhigend auf das Mädchen ein, und auch wenn Becca die Worte nicht verstand, klang sein spanischer Akzent wie eine wunderbare Melodie, die man auch noch in seinem Herzen hört, lange nachdem sie verklungen ist.
»Es ist vorbei. Du bist in Sicherheit, Schätzchen. Was für ein mutiges Mädchen du doch bist«, murmelte er sanft. »Rebecca hat dich niemals aufgegeben, Danielle. Sie hat nie die Hoffnung aufgegeben, dass sie dich noch findet.«
»Momma?«, wimmerte sie derart leiste, dass nur Diego sie verstand, klammerte sich hilfesuchend an ihm fest und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Er legte sein Kinn auf ihren Kopf und schlang ihr die Arme noch ein wenig fester um den dürren Leib.
»Momma kommt zu dir ins Krankenhaus«, versprach er ihr. »Deine Schwester und ich holen sie auf dem Weg dorthin ab, mein Schatz.«
Als sie zum Krankenwagen kamen, legte er Danielle vorsichtig auf eine Trage und hüllte sie von Kopf bis Fuß in warme Decken ein. Die Sanitäter wollten sofort mit ihr los, doch er winkte sie zur Seite, damit Becca einen Augenblick mit ihr alleine sein konnte.
Obwohl die Schwellungen und Schürfwunden in seinem Gesicht im Licht der Lampen schillerten, blickte er über seine Schulter und sah sie lächelnd an. Becca formte mit dem Mund ein stummes ›Danke‹, doch sie wusste, es wäre niemals genug. Dann umfasste sie Danis Gesicht, küsste sie zärtlich auf die Stirn und sog das Gefühl und den Geruch von ihrer Haut tief in ihre Lungen ein.
»Ich werde mich erst mal um dich kümmern, kleine Schwester. Und zwar, solange du es mir erlaubst«, flüsterte sie ihr zu. Dani nickte, während eine Träne über ihre Wange kullerte, und umklammerte dankbar ihre Hand.
Dann wandte sich Becca an den Lieutenant, drückte ihm den Arm, während ihre Augen sich mit Tränen füllten, reckte das Kinn und sah Mike Draper an.
»Mr. Draper? Ich möchte Ihnen eine Überlebende vorstellen. Meine Schwester. Danielle Montgomery.«