3
Becca fuhr in Richtung Westen über den General McMullen Drive, eine verkehrsreiche, sechsspurige Durchgangsstraße, auf der noch Männer an belebten Straßenecken standen und bei dem Versuch, Zeitungen voll schlechter Nachrichten zu verkaufen, ihr Leben aufs Spiel setzten. Die Geschäfte links und rechts der Straße waren größtenteils in alten Wohnhäusern angesiedelt, deren leuchtend roter, kanariengelber oder knallblauer Anstrich einem regelrecht ins Auge stach. Bei Tageslicht hätten die Farben einem gesunden Auge ernsthaften Schaden zufügen können, hätte man sie zu lange angestarrt. Nun aber, da die Sonne am Horizont versank, würde der Boulevard bald in grellem Neonlicht erstrahlen und das nachtaktive Gesindel käme aus seinen Verstecken hervorgekrochen wie eine Horde Kakerlaken, um auf Partypatrouille zu gehen.
Wie auf einem surrealen Gemälde quetschten sich Kirchen zwischen Bars, Bordellen, Tätowierungs- und Wahrsagestudios – eine eklektische Mischung aus Sünde und Vergebung an einem einzigen Ort. Trotz der rauen Art der Nachbarschaft pulsierte das Leben in dem Distrikt.
Bevor sie die Kreuzung Castroville Road erreichte, bog Becca in ihrem Crown Victoria in eine kleine Seitenstraße nahe der Taquería Vallaría ein, einem ihrer Lieblingsrestaurants, in dem es eine mörderische Barbacoa in frischen Maistortillas gab, die sie sich traditionell zum Wochenende gönnte. Wenn Jose Cuervo sie am Abend zuvor schamlos ausgenutzt hatte, brachte eine Riesenschale scharf gewürzter Menudo-Suppe – das Frühstück der Champions – sie garantiert wieder in Schwung. Die verführerischen Düfte wehten durch das offene Fenster ihres Wagens, außerdem war Abendessenszeit, und ihr Magen stieß ein lautes Knurren aus. Doch so hungrig sie auch war, ging ihr augenblich einfach zu viel durch den Kopf, um anzuhalten und eine der Köstlichkeiten zu erstehen.
Sie bog in die San Bernardo Street ein, entdeckte Rudy Marquez' roten Lieferwagen und hielt direkt dahinter an. Wie in vielen Fahrzeugen in San Antonio hing auch am Rückspiegel des Tracks ein Rosenkranz, der im Licht der Abendsonne glitzerte, der Mann selbst war nirgendwo zu sehen.
Becca blieb noch kurz in ihrem eigenen Wagen sitzen und sah sich erst einmal um. Auf einen rostigen, weißen Briefkasten, der aus der Verankerung gerissen worden war, hatte jemand eine Hausnummer geklebt. Sie verglich sie mit der Nummer, die sie aufgeschrieben hatte, und wusste, sie hatte ihr Ziel erreicht.
Die Familie Marquez lebte in einem schäbigen, weißen, mit Schindeln verkleideten Haus. Die Fensterrahmen und die Haustür waren leuchtend blau gestrichen, doch die Farbe blätterte bereits an vielen Stellen ab. Ein jämmerliches Loch in der Größe eines Schuhkartons. Obwohl sämtliche Fenster und Türen des Hauses – zweifellos zum Schutz vor Einbrechern – mit eisernen Gittern gesichert waren, hätte wahrscheinlich schon der halb verfallene Zustand des Gebäudes jeden Kriminellen auf der Suche nach dem schnellen Dollar abgeschreckt. Was könnten diese Leute schon besitzen, was einen Einbruch lohnenswert erscheinen ließ? Doch sie wusste, dass man auch als armer Mensch nicht sicher war. Kriminelle fielen häufig über arme Menschen her, einfach, weil sie wehrlos waren. Nur selten wandte ein Opfer sich anschließend an die Polizei.
Seufzend stieg Becca aus ihrem Wagen und lenkte ihre Gedanken auf das bevorstehende Gespräch. Sie musste ihre Karten richtig spielen, solange sie nicht wusste, welche Rudys Rolle bei der ganzen Sache war.
Ein Maschendrahtzaun trennte die grünen Flecken vor dem Haus von der Straße ab. Die Überreste eines Rasens kämpften kraftlos gegen Löwenzahn und Unkraut an. Gartenarbeit und Hausreparaturen hatten offensichtlich keinen allzu hohen Stellenwert für die Familie. Aber sie hatten schließlich auch genügend andere Sorgen, dachte Becca, trat mit Stift und Notizbuch in der Hand durch das klapprige Gartentor und machte es wieder hinter sich zu.
Gelbe Plastikbänder flatterten an einem dürren Mesquitebaum und erinnerten an den Verlust, den die Familie erlitten hatte. Genau wie der steinerne Schrein neben der zementierten Veranda, in dem eine Keramikstatue der Jungfrau Maria mit gesenktem Haupt und ausgestreckten Armen stand.
Zu Füßen der Skulptur lagen von Steinen festgehaltene, verwitterte, laminierte Aufnahmen von Isabel.
Einen Augenblick starrte Becca das traurige Mahnmal an. Sie hätte gern gebetet, doch sie brachte die Worte einfach nicht heraus.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte eine Stimme mit einem ausgeprägten spanischen Akzent.
Sie machte auf dem Absatz kehrt, und das grell orangefarbene Licht der untergehenden Sonne schien ihr direkt ins Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, schirmte sie zusätzlich mit einer Hand gegen die Sonne ab und entdeckte die Silhouette eines Mannes, der hinter der Fliegentür im Schatten des Hausflurs stand.
Sie zog ihre Dienstmarke hervor und hielt sie ihm hin.
»Ich bin Detective Rebecca Montgomery. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
»Geht es um Isabel?« Jetzt fiel Licht auf sein Gesicht, und Becca holte erst einmal tief Luft.
Es war nicht zu übersehen, dass er ein Verwandter des verschwundenen Mädchens war. Womit sie jedoch nicht gerechnet hatte, war der weiße Kragen, den er trug. Dieser Kragen wies ihn als Priester aus.
»Sind Sie ein Mitglied der Familie, Vater?«
Er hatte durchdringende dunkle Augen, volles, schwarzes Haar, einen dunklen Teint, war mittelgroß und von mittlerer Statur. Obwohl die Ähnlichkeit mit der Familie nicht zu übersehen war, wirkte der Mann aufgrund seines strengen Gesichtsausdrucks wie eine härtere, kantigere Version der jungen Frau, auf deren Bild sie bei ihren Ermittlungen gestoßen war.
»Ich bin Victor Marquez. Isabel … ist … meine Schwester.«
Der Priester wusste offenkundig nicht, ob er die Gegenwart verwenden sollte, wenn er von dem Mädchen sprach. Sie kannte das Gefühl. Statt die Fliegentür zu öffnen, starrte er weiter durch den Draht, als böte der ihm Schutz.
Becca kannte diesen Blick, hatte ihn schon oft gesehen, wenn sie mit schlechten Nachrichten zu den Menschen gekommen war. Nach dem, was ihrer eigenen Schwester widerfahren war, wusste sie aus persönlicher Erfahrung, wie sich die Angst mit einem seltsamen Gefühl von Erleichterung mischte, weil das Hoffen und Bangen endlich vorüber war. Ein herzzerreißender Widerspruch. Obwohl der Priester die Zähne zusammenbiss und sich für ihre nächsten Worte wappnete, konnten seine Augen nicht verbergen, wie schmerzlich ihr Erscheinen für ihn war. Becca hob den Kopf, atmete tief durch und stieg die paar Stufen zur Eingangstür hinauf. Jetzt musste sie die Polizistin sein und nicht das Opfer. Interpretier nicht zu viel in seinen Blick hinein. Er ist nicht dein persönliches Spiegelbild. Bleib objektiv.
Das war leichter gesagt als getan.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich hereinkomme?«
Einen Augenblick war sie nicht sicher, ob er sie über die Schwelle treten lassen würde. Dann aber ließ er sie ein.
Die Einrichtung des Hauses war spartanisch, aber alles sah sehr sauber aus. Es roch leicht nach Scheuermittel, vor allem aber nach gerösteten Jalapeños und Paprika, offenkundig rührte gerade jemand eine scharfe Salsasauce an. Im Flur brannten ein paar Duftkerzen, und das winzig kleine Wohnzimmer wurde von einem zweiten Schrein für Isabel beherrscht. Das fahle Licht flackernder, roter Votivkerzen fiel auf Erinnerungsstücke und Fotos der verschwundenen jungen Frau.
Die Familie hatte Isabel in den Stand einer Heiligen erhoben. Das konnte Becca gut verstehen. Im Tod waren die Fehler des Opfers vergeben und vergessen, das wusste sie.
Der Priester merkte, dass ihr Blick auf den Schrein gefallen war.
»Meine Mutter sagt, dass die ständige Erinnerung ihr hilft.« Er stieß einen leisen Seufzer aus.
»Aber Sie glauben das nicht.«
Er zuckte mit den Schultern. »Weshalb sind Sie hier, Detective?«
Bevor Becca ihm eine Antwort geben konnte, betrat eine ältere Frau den Raum. Sie trug ein blaues Hauskleid und eine verblichene grüne Schürze und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Hortense Marquez war klein und gertenschlank, sie sah aus, als hätte sie geweint. In ihren Augen lag ein feuchter Glanz, und unter dem gelben Tuch, das sie sich um den Kopf geschlungen hatte, lugten ein paar graue Haarsträhnen hervor. Die Trauer hatte sich ihr ins Gesicht gegraben, sie sah deutlich älter aus, als sie tatsächlich war.
Trotz des Hoffnungszeichens, das sie in ihrem Wohnzimmer errichtet hatte, drückte ihr Blick Verzweiflung aus.
Becca kannte diesen Blick nur allzu gut.
»Dies ist meine Mutter. Bitte entschuldigen Sie uns.«
Nachdem sie ein paar Worte auf Spanisch mit dem Priester gewechselt hatte, zwang sich die Frau zu einem Lächeln und einem kurzen Nicken und zog sich wieder aus dem Wohnzimmer zurück. Nicht aber, bevor sie Becca mit einem letzten Blick bedacht hatte, demselben Blick wie ihre eigene Mutter, als die Polizei zu ihr gekommen war. Becca konnte kaum Spanisch, doch Worte waren auch nicht erforderlich. Für die Dinge, die im Leben wirklich wichtig waren, galten Sprachbarrieren nicht.
Als sie wieder alleine waren, bedeutete der Priester ihr schweigend, sich zu setzen, und sie nahm auf einem grünen, geblümten Zweisitzer mit ausgefransten Lehnen Platz.
»Gibt es einen Grund dafür, dass Sie ihr nicht gesagt haben, dass ich Polizistin bin?«
»Ihr Englisch ist nicht besonders gut, und es hätte keinen Sinn gemacht, sie zu erschrecken, solange ich nicht irgendetwas … sicher weiß.« Vater Victor nahm ihr gegenüber auf einem altersschwachen Holzstuhl Platz.
»Ich stelle Nachforschungen über das Verschwinden Ihrer Schwester an.«
Bevor sie weitersprechen konnte, fiel der Priester ihr ins Wort. »Nachforschungen? Sie ist seit beinahe sieben Jahren weg. Warum hat die Polizei plötzlich wieder Interesse an dem Fall?«
Seine argwöhnisch zusammengekniffenen Augen machten deutlich, dass er jetzt nicht mehr der Priester, sondern vor allem der Bruder war und deshalb die Geduld und Großmut, die für seinen Berufsstand typisch waren, kurzfristig vergaß.
»Ich weiß, wie schwer das für Sie ist, aber …«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fauchte er sie an, als er ihr jedoch wieder in die Augen blickte, brach er plötzlich ab. »Ich nehme an, Sie haben oft mit Familien wie der unseren zu tun.«
»Das ist leider wahr, aber es ist nicht dasselbe, wenn man es selbst durchmachen muss.« Becca sah ihn an. Sie wollte aufhören, wollte nicht weitersprechen. Vielleicht lag es an seinem weißen Kragen. Oder vielleicht daran, dass sie sich selbst in ihm wie in einem Spiegel sah. »Meine kleine Schwester Danielle. Sie wurde entführt … und umgebracht. Ihre Leiche wurde nie gefunden.«
Der Priester starrte sie ungläubig an.
Schweigend saßen sie einander gegenüber, wobei die Stille seltsam tröstlich für sie war. Becca wandte sich ab, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich von seinem Schrecken zu erholen. Vielleicht brauchte auch sie selbst die Zeit.
Schließlich sah sie wieder auf und nahm Tränen in den Augen des Priesters war. Sein plötzliches Mitgefühl kam völlig überraschend, sie zuckte zusammen, als er ihre Hand ergriff.
Schon lange hatte sie niemand mehr berührt.
»Aber wenn ihre Leiche nie gefunden wurde, wie können Sie dann sicher sein, dass sie nicht mehr lebt?«
Wie können Sie dann sicher sein? Seine Worte riefen die alte Flut von Zweifeln in ihr wach. Sie hatte Danis Tod nie wirklich akzeptiert. Auch wenn sie es behauptete, hatte sie nie wirklich daran geglaubt. Nicht, solange der Leichnam nicht gefunden war. Trotzdem richtete sie sofort die alte Mauer um sich auf. Sie hatte das Gefühl, als ob sich das winzig kleine Wohnzimmer um sie herum zusammenzog, und zog zähneknirschend ihre Hand zurück. Mit dem Mitleid dieses Mannes kam sie einfach nicht zurecht.
»Wir … ich weiß es eben, Vater.«
Sie drückte das Notizbuch in ihrer Hand zusammen. Obwohl es der Familie Marquez endlich Gewissheit verschaffen würde, wollte sie nicht diejenige sein, die der Familie die letzte Hoffnung nahm. Trotzdem musste sie ihre Arbeit machen.
Das sagte sie sich jedes Mal.
Doch als die flackernden roten Votivkerzen vor Isabels Schrein sie abermals verhöhnten, kam ihr plötzlich ein erschreckender Gedanke. Hatte sie Dani wirklich so schnell aufgegeben? Ein leerer Sarg. Ein Grabstein. Bisher hatte sie sich eingebildet, sie hätte das Richtige getan, indem sie dem Bangen und Hoffen ihrer Mutter ein endgültiges Ende machte, jetzt aber erschien es ihr mit einem Mal wie ein unglaublicher Verrat.
Sie wich dem Blick des Priesters aus und atmete tief ein.
»Alles in Ordnung, Detective?«
»Ja, alles okay.« Sie räusperte sich leise und kämpfte gegen ihre Gefühle an. Es hätte keinen Sinn, schöbe sie es noch länger vor sich her. »Wir haben die Überreste einer jungen Frau gefunden, die vielleicht Ihre Schwester ist. Allerdings brauche ich, um sie eindeutig identifizieren zu können, eine DNA-Probe von jemandem aus der Familie.«
Vater Victor schloss die Augen, senkte den Kopf und murmelte ein Gebet. Wenigstens hatte er seinen Glauben, der ihm Stärke gab. Um ihm einen Moment Zeit zu lassen, sah sie sich im Zimmer um und entdeckte an einer Wand ein Foto, auf dem Victor in seinem Priesterhabit hinter seiner Mutter, seinem Bruder und der kleinen Schwester stand. Ein Bild aus glücklicheren Zeiten. Das sie an ein anderes Bild erinnerte. Das Bild, das in der Kiste mit Beweismitteln gewesen war.
»Es tut mir furchtbar leid, was Ihre Familie durchmachen musste«, erklärte sie in ruhigem Ton und fügte nach einem Augenblick hinzu: »Vater Victor, können Sie mir etwas über die Kette sagen, die Ihre Schwester hier trägt?«
Sie zeigte ihm die Aufnahme aus dem Archiv, die jetzt in ihrem Notizbuch lag. Der Goldschmuck, den das Mädchen auf dem Foto trug, war derselbe wie der, der zwischen den Knochen im Theater aufgefunden worden war.
»Ich kann mich daran erinnern. Die Isabel, die ich kannte, hätte sich eine solche Kette niemals leisten können.« Er presste die Lippen aufeinander, blickte auf das Bild in seiner Hand, und seine Augen wurden trüb. »Sie hat mir erzählt, sie hätte sie sich selbst gekauft, aber das habe ich ihr nicht geglaubt. Ich hatte gehört, sie würde ab und zu mit einem älteren Mann ausgehen, jemandem mit Geld. Aber sie hat nie darüber gesprochen. Zumindest nicht mit mir.«
»Wenn Sie nicht mit Ihnen darüber gesprochen hat, Vater, mit wem dann? Woher haben Sie etwas von dem älteren Mann gewusst, wenn sie es Ihnen nicht erzählt hat?«
»Das habe ich vergessen. Schließlich ist das alles furchtbar lange her.«
Seine Miene machte deutlich, dass er von der Frage überrascht war und dass seine Antwort viel zu schnell gekommen war. Es war eindeutig, dass er eine Geschichte zusammenbastelte, denn er blickte unruhig hin und her, drückte ihr das Foto wieder in die Hand und rutschte nervös auf seinem Stuhl herum.
Becca versuchte es auf einem anderen Weg.
»Sieht aus, als wäre es ein Einzelstück. Können Sie mir sonst noch irgendetwas über diesen Herz-Anhänger sagen?«
»Ich fürchte, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.« Vater Victor kratzte mit dem Fingernagel einen Span aus der Lehne seines Stuhls und wich ihrem Blick aus.
»Wer könnte mir weiterhelfen?«
Als er ihr nicht sofort eine Antwort gab, versuchte sie es aus einer anderen Richtung, denn sie musste ihn dazu bringen, dass er wieder mit ihr sprach. »Sind Sie alle in diesem Haus aufgewachsen, Vater?«
»Ja.« Er sah sie mit einem schwachen Lächeln an. »Meine Mutter hat ihr Möglichstes getan, um uns nach dem Tod von meinem Vater alleine großzuziehen.«
»Ziemlich eng. Sie haben nur ein Bad?« Als er nickte, fuhr sie lächelnd fort: »Das stellt eine Familie bestimmt auf eine ziemlich harte Probe.«
»Es war nicht mehr so schlimm, nachdem ich ausgezogen war. Ins St.-Marien-Seminar in Houston. Die Erzdiözese hat mir ein Stipendium gewährt.«
»Damit waren Sie natürlich aus dem Schneider, aber ich wette, Isabel und Rudy haben sich auch weiterhin gestritten, wer jeweils zuerst ins Badezimmer durfte. So ist es unter Geschwistern schließlich meistens, oder nicht?«
»O nein. So war es nicht. Isabel und Rudy haben sich hervorragend verstanden. Die beiden waren unzertrennlich. Sie haben immer alles …« Plötzlich brach er ab.
»Dann standen Isabel und Rudy einander also nahe?«, fragte sie.
Die Erinnerung riss frische Wunden bei dem Priester auf, und Becca sah, wie ein dunkler Schatten seine Miene überzog.
»Vielleicht hat Isabel Rudy ja anvertraut, von wem sie die Kette hatte. Wissen Sie, was sie ihm erzählt hat, Vater?«
»Woher sollte ich das bitte wissen? Ich habe damals schließlich nicht einmal mehr hier gelebt. Ich kann Ihnen nicht helfen, Detective. Ich habe keine Ahnung, worüber die beiden gesprochen haben.«
»Vielleicht kann mir Rudy weiterhelfen. Können Sie mir sagen, wo er ist?«
»Er ist auf der Arbeit, und ich habe keine Ahnung, wann er nach Hause kommt. Ist es wirklich nötig, dass Sie auch mit meinem Bruder reden? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Ihnen etwas Wichtiges erzählen kann.«
»Wie kommt er zur Arbeit, Vater?«, fragte sie in der Hoffnung, den Priester abzulenken. Sie sprach ihn absichtlich ein ums andere Mal mit seinem Titel an, um ihn daran zu erinnern, dass er ein Mann Gottes und deshalb zu Ehrlichkeit verpflichtet war.
»Normalerweise fährt er mit dem Wagen.«
Was ganz sicher nicht gelogen war. Normalerweise hätte sie die kluge Einschränkung sicher einfach überhört. Da sie allerdings den roten Lieferwagen vor der Tür gesehen hatte, wusste sie, dass Rudy heute nicht mit seinem Wagen auf der Arbeit war.
»Warum stellen Sie mir alle diese Fragen nach meinem Bruder?«
Warum weichen Sie mir ständig aus, hätte sie gern zurückgefragt. Doch wenn sie das getan hätte, hätte er den Mund bestimmt gar nicht mehr aufgemacht. Denn auch so war Vater Victors Kooperationsbereitschaft bestenfalls begrenzt.
»Verzeihung, Vater, aber könnten Sie mir vielleicht sagen, was für ein Fahrzeug Ihr Bruder fährt?«
Sie wollte einfach sehen, ob sie vielleicht doch von ihm belogen worden war. Er dachte gründlich nach. Dies war für ihn der Augenblick der Wahrheit – oder doch der Lüge –, dachte sie. Sein unglücklicher Blick verriet ihr, dass es völlig sinnlos wäre, führe sie in dieser Richtung fort.
»Wissen Sie, Vater, ich könnte auch problemlos eine Halteranfrage bezüglich des roten F-150 durchführen, der vor Ihrer Haustür steht. Aber vielleicht sind Sie ja so nett und ersparen mir die Zeit.«
»Warum denken Sie, dass das der Wagen meines Bruders ist?«
Er bedachte sie mit einem argwöhnischen Blick, doch sein zerknirschter Ton machte ihr deutlich, dass er weiter in der Defensive war. Sie hielt das Heft noch immer in der Hand. Wenn sie ihm erzählte, dass sie wusste, dass der Truck auf Rudy zugelassen war, müsste sie ihm vielleicht ebenfalls erzählen, dass Rudy nach dem Brand vor dem Imperial gesehen worden war. Doch dazu war sie noch nicht bereit.
»Es ist einfach eine Vermutung. Ihre Mutter sieht nicht wie eine Frau aus, die einen roten Lieferwagen fährt. Aber vielleicht gehört er ja auch Ihnen?« Sie hatte keine Ahnung, ob römisch-katholische Priester eigene Fahrzeuge besaßen oder nicht.
»Nein. Ich bin erst vor ein paar Tagen aus meiner Gemeinde St. John's in Houston heimgekommen. Wenn ich in der Stadt bin, leiht mir Rudy immer seinen Truck.«
»Wie ist Rudy heute zur Arbeit gekommen, wenn nicht mit seinem Truck?«
Es dauerte einen Moment, bis er ihr eine Antwort gab. Er wusste, Becca hatte ihn schon wieder ausgetrickst.
»Ich habe ihn gefahren«, räumte er schließlich widerstrebend ein, fuhr aber, bevor sie ihm die nächste Frage stellen konnte, mit Nachdruck fort: »Detective, worauf wollen Sie hinaus? Falls Sie nur über diese Kette sprechen und eine DNA-Probe von einem von uns beiden wollen, kann ich Ihnen behilflich sein. Es besteht keine Veranlassung, auch meinen Bruder noch einmal mit Dingen zu belasten, die vor Jahren geschehen sind.«
Er war ein wirklich zäher Bursche. Ein Priester, der nicht nur gewieft, sondern obendrein ein sturer Hund war. Er machte es ihr alles andere als leicht. Aber schließlich hatte er jahrelang nicht nur die Rolle des älteren Bruders, sondern die des Familienoberhaupts gespielt und nahm Rudy deshalb auch jetzt, so gut es ging, in Schutz.
Dann aber holte er tief Luft, seine Miene wurde weich, und er fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Hören Sie. Ich verspreche Ihnen, morgen komme ich mit meinem Bruder zu Ihnen aufs Revier. Wir werden bei den DNA-Tests mit Ihnen kooperieren, aber wenn Sie mit Rudy sprechen, wäre ich gern dabei. Als Kinder standen er und Isabel sich unglaublich nahe, und ich fürchte, wenn Sie ihm erzählen, was Sie vielleicht herausgefunden haben, bricht ihm das das Herz. Können Sie das verstehen, Detective Montgomery? Ich versuche lediglich meine Familie zu beschützen. Das, was von ihr übrig ist.«
Becca hielt ihm eine ihrer Visitenkarten hin.
»Wann wäre ein günstiger Zeitpunkt, um mit Ihrem Bruder zu sprechen?«
»Ich bringe ihn nach der Arbeit auf die Wache. Gegen sechs, falls das nicht zu spät ist.«
»Sechs ist gut. Fragen Sie sich einfach zu mir durch.« Becca wollte ihn auf ihrer Seite haben, deshalb fügte sie hinzu: »Sie möchten doch, dass diese Sache endlich für Ihre Familie abgeschlossen wird, nicht wahr, Vater?«
Er nickte, ohne aufzusehen.
»Dann helfen Sie mir bitte.« Sie beugte sich ein wenig zu dem Priester vor und hätte ihn am liebsten sanft am Arm berührt, hielt sich aber zurück. »Es ist sicher hart für Sie, nicht hier zu leben.«
Er verzog schmerzlich das Gesicht. Noch einmal hatte sich das Gespräch persönlichen Themen zugewandt.
»Gestern war der Geburtstag meiner Schwester. Deshalb bin ich hier.« Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, sondern starrte stattdessen wie gebannt auf die flackernden Kerzen vor dem Schrein. »Wir feiern ihren Geburtstag immer noch. Meine Mutter packt sogar Geschenke ein und hebt sie alle für den Tag auf, an dem Isabel …« Er legte die Finger beider Hände gegeneinander, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und machte die Augen zu. »Es war für uns alle hart. Deshalb habe ich heute Morgen meinen Bruder zur Arbeit gefahren und bin dann hierher zurückgekehrt, damit meine Mutter nicht alleine ist.«
Danielles Geburtstag wäre erst in ein paar Monaten. Becca fragte sich, wie sie und ihre Mutter diesen besonderen Tag begehen würden, und hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Dann aber ging sie noch einmal in Gedanken Vater Victors Worte durch, und sie wollte von ihm wissen: »Nur aus Neugier, Vater, was für einer Arbeit geht Ihr Bruder nach?«
»Er ist Maurer und arbeitet für verschiedene kleine Unternehmen. Die Bauindustrie in San Antonio ist ziemlich gesund. Er kommt also zurecht.«
»Diese Typen arbeiten ganz schön hart, außerdem hat er doch sicher einen ziemlich langen Tag. Wie sehen denn seine normalen Arbeitszeiten aus?«
»Um diese Jahreszeit arbeitet er von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.«
Wenn Rudy den ganzen Tag, und dann noch ohne seinen Truck, auf einer Baustelle verbracht hatte, wen hatte sie dann am späten Vormittag vor dem Imperial gesehen? Hatte Victor in Bezug auf Rudys Arbeitszeiten die Wahrheit gesagt, oder hatte er den kleinen Bruder wieder mal beschützt?
Die beiden Brüder sahen sich so ähnlich, dass der Mann vor dem Theater vielleicht gar nicht Rudy gewesen war. Vielleicht hatten ja die Angaben der Kraftfahrzeugbehörde einen falschen Verdacht in ihr geweckt. Sie erinnerte sich daran, dass der Mann, der neben dem Truck gestanden hatte, mit einer abgewetzten Jeans, einem Sweatshirt und einer Jacke bekleidet gewesen war. Einen weißen Priesterkragen hatte er eindeutig nicht gehabt.
Wieder wogten Zweifel in ihr auf.
Welchen der beiden Brüder hatte sie vor dem Imperial gesehen?
»Nun, ich will Sie nicht länger aufhalten, Vater.« Sie stand entschlossen auf. »Je eher wir die Dinge klären können, umso besser. Vielleicht finden Sie und ich ja die Antworten auf unsere Fragen und bringen Ihre Schwester endlich heim.«
»Vielleicht bleiben ein paar Fragen besser unbeantwortet.« Bevor sie etwas erwidern konnte, geleitete er sie schon an die Tür. »Bis morgen, Detective.«
Becca ging den kurzen Weg zum Tor. Sie spürte Victors Blick in ihrem Rücken, widerstand aber dem Drang, sich noch einmal umzudrehen.
Ihr ging es einzig darum, ein abscheuliches Verbrechen aufzuklären, aber das Gespräch mit Vater Victor hatte ihr gezeigt, dass sie dazu mehr über Isabel und Rudy in Erfahrung bringen musste – was jedoch, da deren Bruder ihr nicht alles sagte, was er wusste, alles andere als einfach war.
Die Begegnung mit dem Priester hatte jede Menge neuer Fragen aufgeworfen und ihre Ermittlungen in eine völlig neue Bahn gelenkt.
Passeo del Rio (Riverwalk)
Innenstadt San Antonio
Ohne auf den abgestandenen Geschmack zu achten, trank Becca einen Schluck lauwarmes Bier und starrte auf den Riverwalk, den hübschen Weg am Fluss, der direkt gegenüber ihrer kleinen Wohnung lag. Ihre Augen sahen jede Einzelheit, ihr Hirn aber nahm nicht das Geringste wahr. Der Besuch bei der Familie von Isabel Marquez hatte sie unglaublich deprimiert. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihr dunkles Haar und zog an den Ärmeln ihres Polizeisweatshirts.
Obwohl Vater Victor alles andere als glücklich ausgesehen hatte, hatte er wenigstens noch seine Familie, die es zu beschützen galt. Er stellte sich vor seine Mutter und vor seinen Bruder Rudy, denen er beiden offenkundig eng verbunden war.
Im Gegensatz zu ihm hatte Becca sich in ihrem Schmerz völlig in sich zurückgezogen und ließ – vor allem, da Momma es genauso machte – niemanden mehr an sich heran. Vor der Entführung und Ermordung ihrer Schwester hätte sie gutes Geld auf die Stärke ihrer Familie gesetzt. Am Ende aber hatte die Verbindung zu ihrer trauernden Mutter sich als zerbrechlich wie dünnes Glas herausgestellt.
Vielleicht waren sie sich einfach viel zu ähnlich. Sie erinnerte sich an ihren letzten Besuch bei Momma und hörte abermals die Worte, die ihr das Herz gebrochen hatten:
»Verschwinde. Verdammt noch mal, lass mich in Ruhe!«, hatte ihre Mutter sie mit vor Zorn hochrotem, verquollenem Gesicht und vom Alkohol bitterem Atem angeschrien. »Was bildest du dir ein, dass ausgerechnet du mir Vorhaltungen machst, weil ich niemanden brauche außer mir selbst? Mein Baby ist tot. Ich habe nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt.«
Mommas Worte trafen sie auch jetzt, als sie aus dem Fenster starrte, wie ein Fausthieb in den Unterleib.
»Du hast mich, Momma«, wisperte sie rau. »Auch wenn dir das vielleicht nicht viel bedeutet, hast du immer noch mich.«
Sie wollte ihre Mutter an jenem Tag dazu bewegen, zu einem Psychologen oder – besser noch – in eine Rehaklinik zu gehen. Sie hatte ihren Alkoholkonsum nicht mehr unter Kontrolle, mit einer Therapie hätten sie dieses Problem vielleicht gemeinsam in den Griff bekommen. Aber Momma hatte keinerlei Interesse an dem Angebot.
Wenn ihre Mutter trank, gewann ihr Zorn die Oberhand. Anfangs hatte sie sich einfach über irgendwelche Kleinigkeiten aufgeregt. Doch im Verlauf der Zeit hatte sie in ihrer anhaltenden Trauer ihre Wut zuerst auf Danis Mörder, dann auf die sinnlosen Ermittlungen der Polizei und schließlich auf sich selbst gelenkt. Weil sie sich als schlechte Mutter erwiesen hatte. Weil sie versagt hatte und ihre Tochter deswegen ermordet worden war.
Schließlich hatte sich in ihren Zorn Verbitterung gemischt, die ausschließlich gegen Becca gerichtet war. Und das hatte am meisten wehgetan.
Natürlich konnte sie sich sagen, dass die grausamen Worte ihrer Mutter nicht wirklich so gemeint waren, ein Körnchen Wahrheit aber enthielten sie bestimmt. Tatsächlich musste sie sich eingestehen, dass sie niemandem wirklich vertraute, dass es keinen Menschen gab, mit dem sie über ihre Gefühle sprach. Was einfach erschreckend war. Momma hatte durchaus recht gehabt. Bisher hatte es ihr stets gereicht, ein guter, ehrgeiziger Cop zu sein. Alles andere war egal.
»Gott, wie ich das hasse. Hört das wohl jemals wieder auf?«
Becca schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals herunter und atmete tief ein. Der unendliche Schmerz hatte sie total erschöpft. Unbewusst war sie in Tränen ausgebrochen, jetzt fuhr sie sich mit zitternden Fingern durchs Gesicht.
Sie blickte über ihre Schulter auf die an der Wand zum Flur hängende Uhr. Es war beinahe Mitternacht. Durch das Fenster drangen die gedämpften Klänge einer Jazzband, die eine Zugabe in einer Kneipe gab, und das leise Rauschen des nächtlichen Verkehrs in der Crockett und der Presa Street, das vertraut und selbst, wenn sie so aufgewühlt wie im Augenblick war, seltsam tröstlich für sie war.
Ihr Heim war nichts Besonderes, doch auch wenn sie sicher keinem Menschen Tipps in Haushaltsführung hätte geben können, hatte sie es so gestaltet, dass es ihr die Möglichkeit zum Rückzug vor den Schrecknissen des Lebens bot. Von ihrem Gehalt als Polizistin hätte sie sich niemals eine eigene Wohnung leisten können, doch sie hatte ein wenig Geld von ihrer Großmutter geerbt, und es in den Kauf dieses Apartments investiert.
Die meisten Menschen hätten bei dem Lärm, der auch nachts noch durch die Fenster drang, sicher kaum ein Auge zugemacht, Becca aber hatten die Geräusche immer in den Schlaf gewiegt – bis Danielle verschwunden war. Seither lag sie allnächtlich stundenlang hellwach in ihrem Bett.
Becca fuhr sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts durchs Gesicht und bog den Rücken durch. Infolge des frühmorgendlichen Trainings, das eher eine Selbstbestrafung als eine Fitnessübung gewesen war, taten ihr die Muskeln zwischen ihren Schulterblättern und die Oberschenkel weh. Sie holte sich ein frisches Bier, öffnete, wie jeden Abend vor dem Schlafengehen, das Fenster, hinter dem die Feuerleiter lag, kletterte mit der kalten Flasche in der Hand hinaus und bekam, wie jedes Mal, wenn ihre Füße auf den kalten Boden trafen, eine Gänsehaut.
Eilig stieg sie die paar Stufen der Feuerleiter hinauf und schwang sich über die Brüstung ihres Dachgartens, einer Oase, die sie pflegte, damit sie nicht vollends den Verstand verlor. Statt jedoch wie sonst die festlich weiße Lichterkette anzuschalten, die in ihrem kleinen Garten hing, zog sie sich im Schutz der Dunkelheit einen Liegestuhl heran, stützte sich mit beiden Ellenbogen auf der Mauer ab und blickte auf den Fluss hinunter.
Schließlich trank sie einen Schluck von ihrem Bier, spürte der Kälte des Getränkes nach, als es durch ihre Kehle rann, klappte die Augen zu und horchte auf die Geräusche der Stadt.
Mit der kühlen Brise wehten die Aromen des Flusses, der erdige Geruch abgestandenen Wassers und die Düfte der Fajitas aus dem Casa Rio Restaurant zu ihr herauf. Sie schlug die Augen wieder auf und blickte abermals auf den gewundenen Fluss hinab. Um diese Zeit schimmerten unzählige Lichter auf dem Wasser und warfen die dramatischen Silhouetten der Zypressen am Flussufer zurück.
In einem nahe gelegenen Club verkündete eine Stimme über Mikrophon, dass man die letzte Runde bestellen konnte, die Jazzband stimmte die letzte kurze Weise an. Sie hatte das Stück bereits des Öfteren gehört und lauschte versonnen, während sie die Zeit wie Sand durch ihre Finger rinnen ließ.
Als sie jedoch ihren Blick in die Richtung wandern ließ, aus der die Musik erklang, riss sie verblüfft die Augen auf. Ein einsamer Mann stand auf einer Steinbrücke über dem Fluss, die Silhouette seines Körpers hob sich überdeutlich von dem Licht einer Laterne ab. Becca reckte den Kopf und kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen.
Sicher spielte ihr Gehirn ihr einen Streich.
Sie bildete sich allen Ernstes ein, sie hätte Diego Galvans hübsches Gesicht erkannt.
»Also bitte, Beck. Das ist er nie im Leben«, murmelte sie erbost.
Wenn sie mitten in der Nacht auf ihrem Aussichtsposten saß, konzentrierte sie sich meistens auf die Fußgänger, die man um diese Zeit noch sah. Dieser Mann jedoch stand völlig reglos, beinahe wie eine Statue. Er schien mit der Brücke zu verschmelzen, als wäre er ein Teil des Steins. Fast hätte sie ihn übersehen.
Plötzlich trat er einen Schritt nach vorn.
Er hielt etwas in der Hand, hob es schwungvoll vor sein Gesicht, und obwohl seine Züge immer noch im Dunkeln lagen, sah sie, dass er einen Gegenstand ins Wasser warf.
In der Hoffnung zu erkennen, was er fortgeworfen hatte, beugte sie sich ein wenig weiter vor. Es schien ein leichter Gegenstand zu sein, denn er wippte auf der Wasseroberfläche, statt dass er im Fluss versank. Irgendetwas Weißes, das die langsame Strömung des Flusses mit sich zog. Als es im Licht einer Lampe an ihrem Aussichtsposten vorübertrieb, erkannte sie endlich, was es war.
Eine einzelne weiße Rose.
Die Blume wippte auf dem Wasser. Schwache Wellen bildeten sich auf der Oberfläche und dehnten sich mit jeder Bewegung der Rose kräuselnd weiter aus. Becca runzelte die Stirn und blickte durch die Dunkelheit dorthin, wo der Mann gestanden hatte.
Nichts.
Sie stand auf, beugte sich über die Mauer und starrte angestrengt zwischen den Bäumen hindurch.
Flussaufwärts und flussabwärts.
Er war nirgendwo zu sehen. Er war nicht mehr da.
Wie konnte er so schnell verschwinden? Mist!
Beccas Herz fing an zu rasen, und ihr wurde siedend heiß. Sie starrte weiter in die Dunkelheit, gab am Ende aber zähneknirschend auf und schlang sich zum Schutz vor der kühlen, nächtlichen Brise die Arme um den Bauch. Während der Wind die Blätter der Bäume in ihrem Garten rascheln ließ, dachte sie an Diegos straffe Lippen, seinen ausgeprägten Kiefer, die sanfte Berührung seiner großen Hände, als er ihr den Fleck vom Kinn gewischt hatte, und vor allem an die dunklen Augen, in denen sie regelrecht versunken war.
»Vergiss ihn, Beck«, schalt sie sich streng. »Der Mann macht dir nur Scherereien.«
Sie hatte sich ganz bestimmt nur eingebildet, dass er der Fremde auf der Steinbrücke war. Woran neben den beiden Corona, die sie getrunken hatte, bestimmt auch eine übergroße Dosis Wunschdenken beteiligt war.
»Letzte Runde.« Sie trank den letzten Rest von ihrem Bier, schwang sich, die leere Flasche in der Hand, wieder über die Brüstung auf die Feuertreppe, und während sie zu ihrer Wohnung zurückkletterte, dachte sie weiter an den Mann, der ihr auf der Brücke aufgefallen war.
»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«, stieß sie plötzlich mit erstickter Stimme aus.
Eine zweite weiße Rose lag auf dem Podest vor dem offenen Fenster, durch das sie vorhin gestiegen war.
Um nicht wie eine lebende Zielscheibe im Licht des Wohnzimmers zu stehen, drückte sie sich instinktiv mit dem Rücken gegen die Wand. Sie kniff die Augen zusammen, um besser in der Dunkelheit zu sehen, als sich nirgends etwas rührte, kam sie zu dem Schluss, dass der geheimnisvolle Fremde offenbar erneut einfach verschwunden war.
Vorsichtig schob sie sich in Richtung Fenster und spähte hinein. Alles war genauso, wie sie es verlassen hatte, hatte er sich vielleicht trotzdem in dem Zimmer umgesehen? Sie war nicht lange fort gewesen, doch der Kerl war wie ein Geist. Ein gottverdammter Geist.
Er besaß die Dreistigkeit, eine Visitenkarte hier auf ihrem Fenstersims zu hinterlassen, an die sie sich auf jeden Fall erinnern würde, wenn sie in den nächsten Nächten wach in ihrer Wohnung lag.
Entweder er kannte ihre nächtliche Routine oder er hatte gewartet, bis sich die Gelegenheit zu dem Besuch ergab.
Aber warum? All das ergab nicht den geringsten Sinn.
Statt unbemerkt zu kommen und zu gehen, hatte er absichtlich eine weiße Rose auf der Feuertreppe hinterlegt und dadurch erst ihr Augenmerk auf sich gelenkt. Eine Geste, die romantisch, aber auch gefährlich war. Er verfolgte offenkundig irgendeinen Plan, in den sie einbezogen war, doch sie hatte keinen blassen Schimmer, was für eine Art von Plan das war.
Becca wusste, dass sie Diego morgen wiedersehen würde, wenn sie Hunter Cavanaugh vernahm. Vielleicht regte der Gedanke sie ja einfach stärker auf, als ihr bisher bewusst war. Oder vielleicht hatte ihre Einsamkeit die Illusion von Romantik heraufbeschworen – der unbewusste Wunsch, endlich nicht mehr völlig allein zu sein.
So oder so musste sie Vorsicht gegenüber diesem Mann walten lassen. Sie wusste praktisch nichts von ihm, außer dass er sich in gefährlichen Kreisen bewegte und Beziehungen zum organisierten Verbrechen unterhielt.
Ihrer beider Welten könnten verschiedener nicht sein.
Sie war ein Cop und er ein Krimineller, die verbotene Frucht, von der sie besser niemals etwas aß.
Sie wusste ganz genau, sie dürfte niemals zulassen, dass sich zwischen ihnen beiden irgendwas ergab.
Becca krabbelte durchs Fenster in ihr Wohnzimmer zurück und sah sich mit gezückter Waffe eilig in der Wohnung um. Als sie nichts Ungewöhnliches entdeckte, schloss sie Tür und Fenster ab, schaltete die Lichter aus, stellte sich ein letztes Mal ans Fenster und sah sich suchend zwischen den Schatten am Ufer des Flusses um.
»Wer zum Teufel bist du, Diego?«, flüsterte sie leise. »Und was willst du von mir?«