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Barfuß, in Jeans und schwarzem T-Shirt saß Diego bereits vor Tagesanbruch in der Küche, so wie er es, seit er zu Cavanaugh gezogen war, beinahe jeden Morgen tat. Er wollte mit seiner Zeitung und der ersten Tasse Kaffee allein sein, bevor der Koch mit seiner Mannschaft kam. Obwohl er sich verhätscheln lassen könnte, hielt er Cavanaugh und seine Leute weitestgehend auf Distanz und versorgte sich selbst, damit niemand sein Kommen und Gehen kontrollierte.

Obwohl Diego wie jeden Morgen die Zeitung in der Hand hielt, nahm er kein einziges der Worte auf, die er las. Stattdessen erschien vor seinem geistigen Auge immer wieder ein und dasselbe Bild.

Letzte Nacht hatte er im Dunkeln auf dem Riverwalk gestanden und sie beobachtet. Mehr hatte er nicht vorgehabt. Dann aber hatte er gebannt verfolgt, wie Rebecca mit tränennassen Augen aus dem Fenster ihres Wohnzimmers gesehen hatte und wie ihr liebliches Gesicht von Trauer überschattet worden war.

Das übermächtige Verlangen, sie tröstend in den Arm zu nehmen, hatte ihn beinahe um den Verstand gebracht.

Dabei war sie ganz eindeutig eine starke Frau, weshalb also wollte er sie in die Arme nehmen wie ein kleines Kind? Er kannte die Antwort auf die Frage, auch wenn er ihr bisher ausgewichen war.

Er war schon so lange allein, dass er sie vielleicht gar nicht trösten, sondern sich von ihr trösten lassen wollte. Was für ein erschreckender Gedanke. Die Isolation, in der er arbeitete und lebte, erfüllte ihn mit einer gewissen Ruhelosigkeit. Er akzeptierte die Dinge nicht länger, wie sie waren, wenn er sich nicht vorsah, brächte er dadurch alles in Gefahr.

Die weißen Rosen hatte er spontan an einem Blumenstand gekauft. Sie waren die einzige Möglichkeit gewesen, Rebecca zu berühren, während er auch weiter Abstand zu ihr hielt. Doch angesichts ihrer Reaktion – sie hatte furchtsam ihren Rücken an die Wand gepresst – hatte er sich Vorwürfe gemacht. Er hätte dem Verlangen, mit ihr in Kontakt zu treten, widerstehen sollen. Denn mit seiner Geste hatte er ihr gegen seinen Willen Angst gemacht.

Was zum Teufel hatte er damit auch bezweckt? Es war bereits ein Riesenfehler von ihm gewesen, den Kontakt zu ihr zu suchen, als er ihr vor dem Imperial begegnet war. Er benahm sich wie ein Idiot. Er hatte nicht das Recht, sich in ihr Privatleben zu mischen. Jemand wie Rebecca würde nie …

Plötzlich trat eine massige Gestalt ins Licht der Deckenlampe und warf einen dunklen Schatten nicht nur auf den Sportteil seiner Zeitung, sondern auf seinen gesamten Tag.

Matt Brogans hässliche Visage tauchte vor ihm auf.

»Wo bist du letzte Nacht gewesen?«

»Weg.« Diego hatte festgestellt, dass Brogan kurze Sätze noch am ehesten verstand.

»Die Antwort reicht mir nicht.«

Brogan, der Tyrann. Er hatte einen fleischigen, kahl rasierten Kopf, der offenkundig ohne Hals direkt auf seinen breiten Schultern saß, und trug einen teuren Maßanzug, obwohl es früh am Morgen war. Diego hatte ihn noch nie in etwas anderem gesehen. Soweit er wusste, hatte dieser Kerl selbst im Bett noch einen Anzug und Krawatte an. Doch ganz egal, wie teuer die Klamotten waren, sahen sie an ihm wie Lumpen aus. Mehr gab es über diesen Typen nicht zu sagen. Außer man zählte neben seinen positiven auch die unzähligen negativen Seiten auf.

Da es ihm nicht gefiel, dass der Kerl auf ihn heruntersah, stand er auf, vorgeblich, um sich frischen Kaffee nachzuschenken. Trotzdem überragte Brogan ihn weiterhin um Haupteslänge, und da er obendrein mindestens fünfundzwanzig Kilo schwerer war, baute sich Diego vorsichtshalber hinter der Kochinsel auf und hob seinen Becher an den Mund. Ein weiterer Vorteil dieser Position war der, dass er die Fratze seines Gegenübers hinter den von der Decke hängenden Töpfen und Pfannen nicht mehr sah.

»Ist vielleicht irgendwer gestorben und hat dich vorher noch zum Aufseher gemacht, Brogan? Du bist doch nur sauer, weil ich dir entwischt bin. Du solltest dich mir besser gar nicht erst an die Fersen heften, wenn du dich sowieso abschütteln lässt.«

Brogan war als kleines Kind auf den Kopf gefallen. Zumindest glaubte Diego das. Denn Hirnschäden erklärten viel.

»Ich verfolge dich, so oft ich will«, stieß Brogan kampflustig wie immer aus. »Für mich bist du ein Außenseiter hier. Du bist doch nichts weiter als ein verdammter Wachhund mit einer tollen Abstammung, der uns von Rivera und Global Enterprises aufgezwungen worden ist. Diese Typen in New York haben doch keine Ahnung von unseren Operationen hier in Texas, wenn der alte Herr ihnen nichts davon erzählt. Wie ich es sehe, braucht Rivera uns viel mehr als wir ihn oder dich. Also geh lieber nicht zu weit.«

»Bisher läuft die Fusion mit Global, wie sie laufen sollte. Ich bin hier, um darauf zu achten, dass sich beide Seiten an die Abmachungen halten. Sobald du auf Castengras Radar erscheinst, wirst du ja sehen, wie sehr irgendwer dich braucht. Tja, und ich wollte auch nicht der Typ sein, der dieses Kartenhaus für Cavanaugh zum Einsturz bringt. Aber vielleicht bist du ja Manns genug und nimmst es gleich mit beiden auf.«

»Willst du mir etwa drohen?«

Diego zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, führe ich gerade eine Studie über den Zusammenhang zwischen ungewöhnlich ausgeprägtem Männlichkeitswahn und Dummheit durch. Ich glaube, du wärst die ideale Testperson.«

Brogan biss die Zähne aufeinander und ballte die Fäuste, nach einem endlos langen Augenblick wich jedoch die Arroganz aus seinem Blick und er stellte fest: »He, ich wahre nur die Interessen unseres Bosses, selbst wenn der alte Herr so blind ist, dass er deine Einsamer-Wolf-Masche anscheinend nicht durchschaut. Du hast zu viel Zeit außerhalb des Reservats verbracht. Bilde dir ja nicht ein, dass mir das nicht aufgefallen ist.«

In dem Bemühen, die ganze Sache herunterzuspielen, legte sich Diego lachend die Hand aufs Herz. Er konnte es wahrlich nicht gebrauchen, dass Brogan ihn zu gründlich unter die Lupe nahm.

»Kann ein Mann kein Liebesleben haben, ohne dass du etwas davon erfährst?« Er zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Aber ich bin ehrlich gerührt. Ich hatte ja keine Ahnung, dass dir das Wohlergehen anderer derart am Herzen liegt. Ich habe die ganze Zeit gedacht, dass es dir ausschließlich um die numero uno geht. Aber jetzt sehe ich, dass ich im Irrtum war. Kannst du mir verzeihen, mi amigo

»Red doch keinen Schwachsinn, Galvan. Ich traue dir einfach nicht über den Weg.«

Der Mann kniff die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen und baute sich drohend vor ihm auf. Diego hatte diesen Blick bereits des Öfteren gesehen, auch wenn er bisher noch keinem derart großen Nagetier begegnet war.

»Du hast etwas zu verbergen, Mex. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich dich dabei erwische, wie du den Alten hintergehst. Und dann gehörst du mir.«

Diego senkte seine Stimme auf ein Flüstern und sah Brogan reglos an. »Ein kluger Mann würde jetzt kehrtmachen und gehen.«

Brogan schnaubte auf. »Ja, aber wer von uns beiden ist so klug?«

»Wenn du mich so fragst.« Diego zuckte mit den Schultern, machte überraschend auf dem Absatz kehrt und nahm aus den Augenwinkeln Brogans überraschte Miene wahr.

»He! Wag es nicht, mich einfach stehen zu lassen, du verdammter Hurensohn.«

Brogan mahlte mit den Kiefern, senkte dann den Kopf, schoss um die Kochinsel herum, machte einen Satz auf Diego zu, riss in dem Bemühen, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, hart an seinem Hemd und verpasste ihm zugleich den ersten Schlag.

Mehr brauchte Diego nicht. Dies war der Tropfen, der das Fass bei ihm zum Überlaufen brachte. All die angestaute Frustration der letzten Monate brach mit einem Mal aus ihm heraus.

Jeden Augenblick würde Brogans Faust ein zweites Mal auf seinen Kiefer krachen, doch er konnte nicht zulassen, dass dieser Kerl die Oberhand gewann. Er spannte seine Muskeln an, entwand sich Brogans Griff und duckte sich geschickt unter dem zweiten Schlag hindurch. Brogan wurde durch die Wucht des eigenen Hiebs nach vorn gerissen und bekam noch einen Stoß und einen gut platzierten Tritt in den Allerwertesten von ihm verpasst, der ihn unsanft auf den Boden krachen ließ.

»Uumpphh.«

Kochend vor Zorn und mit aufgerissener Lippe rappelte sich Brogan wieder auf.

»Es ist noch nicht zu spät, um sich bei mir zu entschuldigen.« Diego wusste ganz genau, mit dieser spöttischen Bemerkung läutete er Runde zwei des Kampfes ein. Er wurde nicht enttäuscht.

Mit gesenkten Schultern stürmte Brogan wieder auf ihn zu, klemmte ihn gewaltsam zwischen seinem Körper und dem Küchentresen ein und schlang ihm beide Arme um den Leib.

Vor Diegos Augen tanzten Sterne. Die Kante der Arbeitsplatte schnitt ihm in den Rücken, wenn er nicht sofort etwas unternähme, wäre es um ihn geschehen.

Er ließ sich von seinen Instinkten leiten, drückte den Kopf des Kerls nach hinten und schlug ihm kraftvoll auf die Nase. Einmal. Zweimal. Dreimal. Bis er endlich spürte, wie der Knorpel brach.

Brogan schrie vor Schmerzen auf, ließ von Diego ab, beugte sich mit Tränen in den Augen vor und betastete vorsichtig sein Gesicht.

»Scheiße, du hast mir die …«

Bevor er wieder zu sich kam und irgendetwas anderes probierte, stieß Diego ihn zurück und zog ihm gleichzeitig die Beine weg, sodass er rückwärts auf die Fliesen fiel. Dann hielt er ihn am Boden fest und drückte ihm mit einem Arm die Kehle zu.

Brogan hatte Diego bereits des Öfteren auf die Probe gestellt, ohne dass bisher etwas dabei herausgekommen war. Er lernte einfach nicht aus seinen Fehlern, trotzdem musste Diego weiterhin ständig wachsam sein. Darüber hinaus hatte er den Verdacht, dass Brogan eigene Pläne mit ihm hatte. Er wusste ganz genau, der Kerl würde nicht zögern, ihn zu töten, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Weshalb er ausnehmend gefährlich für ihn war.

In der Cavanaughschen Organisation hatte sich Matt Brogan auf den ersten Platz gedient.

Daran dachte Diego, als er sah, wie das Gesicht des Mannes lila anlief, weil er kaum noch Luft bekam. Noch immer drückte er dem Kerl die Kehle zu, schließlich lockerte er gnädig seinen Griff, worauf Brogan auf dem Fußboden zusammenbrach und zischend Luft in seine Lungen sog.

Wodurch Diego Zeit bekam, einen Schritt zurückzutreten und den Schaden zu begutachten, der von ihm angerichtet worden war. Die Krawatte und das weiße Hemd des Typen waren blutverspritzt, ein rotes Rinnsal lief aus seiner Nase und mischte sich mit dem Schweiß auf seiner Haut, seine Unterlippe war gerissen und deswegen noch geschwollener als sonst.

»Ich hoffe, du hast ein für alle Mal genug davon, mein Territorium zu markieren. Komm mir in Zukunft nicht mehr ins Gehege, ja?«

Brogan knirschte mit den Zähnen, sagte aber nichts. Er atmete noch einmal keuchend ein und rappelte sich auf, ohne seinen Gegner anzusehen.

In der Annahme, der Kampf wäre vorbei, wandte Diego sich zum Gehen, kam aber noch nicht einmal bis zur Tür, bevor er das Klirren von Metall vernahm. Eilig drehte er sich wieder um.

Brogan hielt ein Schlachtermesser in der Hand und stieß drohend aus: »Komm schon. Wir sind noch nicht fertig.«

Diego hatte keine andere Wahl, als dem Bastard zu beweisen, dass er abermals im Irrtum war. Er streckte seine Hand nach dem zehnteiligen Messerset neben dem Hackblock aus, zog das zehn Zentimeter lange Schäl- und das zwölfeinhalb Zentimeter lange, gezackte Universalmesser heraus, drehte sie in seinen Händen um und hielt sie jeweils an der Klinge fest.

Hartstahl mit einer guten Balance. Damit käme er bestimmt zurecht.

Er nahm Brogan ins Visier und holte ohne zu zögern aus.

Das alles ging so schnell, dass Brogan keine Zeit fand, um zu reagieren. Sein Unterkiefer klappte herunter, und er riss die Augen auf, als das Schälmesser haarscharf an seinem Kopf vorbei in die Tür des Küchenschrankes flog.

Für den Fall, dass er die Botschaft nicht verstanden hatte, holte Diego auch noch mit dem zweiten Messer aus und traf ihn dieses Mal am Ohr.

»Aaarrrggghh. Verdammt. Okay, okay, vergiss es.« Brogan presste eine seiner Hände an sein Ohr und streckte die andere nach einem Handtuch aus. Bevor die Küchencrew nachher den Grill anwerfen und die ersten Eier braten könnte, hätte sie bereits mit der Beseitigung des Chaos, das die beiden Kämpfer angerichtet hatten, alle Hände voll zu tun.

»Ich habe für heute genug mit dir geredet. Diese Unterhaltung will ich nicht noch einmal führen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

Obwohl Brogan nickte, wusste Diego ganz genau, dass es noch lange nicht vorüber war. Als er über die Hintertreppe in seine Wohnung zurückging, während der Fiesling seine Wunden leckte, wusste er genau, dass er sich bestimmt keinen Gefallen mit diesem Sieg getan hatte.

Denn es war klar, dass Brogan kochte und auf Rache sann.

Die Erinnerung an Cavanaughs verführerischen Handlanger hatte Becca noch die ganze Nacht verfolgt. Die Nachricht, dass sie diesen Kerl auf Abstand halten wollte, hatte ihre Libido anscheinend nicht erreicht, und so hatte sie die ganze Nacht kein Auge zugemacht.

Allzu früh hatte ihr Wecker sein dämonisches Schrillen ausgestoßen. Sie hatte ihn so gestellt, dass sie wie gewöhnlich noch vor Dienstbeginn trainieren könnte, hatte ihn dann aber ausnahmsweise einfach wieder ausgeschaltet, sich die Decke über den Kopf gezogen und noch einmal umgedreht. Es war einer dieser Tage, an dem sie, wenn man eine positive Einstellung wie die Füllung eines Tankes messen würde, auf Reserve lief.

Im grellen Tageslicht fuhr sie in Richtung des Anwesens von Hunter Cavanaugh. Sie war mit Koffein vollgepumpt und, obwohl sie keine Vorbereitung für diesen Termin getroffen hatte, mehr als bereit, Hunter Cavanaugh und Diego Galvan zu sehen.

Mehr als bereit? Wem zum Teufel versuchte sie etwas vorzumachen? Wenn sie ehrlich war, hätte sie am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht.

Sie bog vom Citadel Drive in das Grundstück ein und hielt ihren Ausweis vor die Kamera neben dem Tor. Da sie von Cavanaugh erwartet wurde, glitt das Tor sofort geräuschlos an die Seite, sie fuhr weiter über das gepflegte Anwesen in Richtung Haus. Allerdings ging ihr zu viel durch den Kopf, als dass sie die Umgebung wirklich wahrgenommen hätte, und je näher sie der Haustür kam, um so mehr überdimensionale Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch.

Das Haupthaus, ein massives, ausladendes Gebäude im mediterranen Stil, ragte vor ihr auf. Ein gepflasterter Weg führte kreisförmig um einen imposanten Brunnen, der von farbenfrohen Blumenbeeten umgeben war. Die reich verzierte Eingangstür und ein mit Terracottaziegeln gedecktes Dach betonten die gegipsten Wände und das dazu passende importierte Mauerwerk, das eindeutig aus Italien kam.

Becca parkte ihren Crown Victoria ein Stück neben dem Eingang, da ihr Wagen nicht würdig genug war, um direkt vor der Tür zu stehen. Mit einem letzten Blick in ihren Rückspiegel prüfte sie ihr Haar und ihr Makeup und schnupperte an der weißen Rose, die sie an der Jacke ihres dunkelgrauen Hosenanzugs trug. Normalerweise war sie keine Frau, die Blumenschmuck im Knopfloch trug, doch sie wollte Galvan deutlich zu verstehen geben, dass sie durch seinen mitternächtlichen Fleurop-Dienst nicht im Mindesten erschüttert war.

Wenn man außer Acht ließ, dass sie bis zum frühen Morgen kaum ein Auge zubekommen hatte und deswegen völlig übermüdet war.

Ein strenggesichtiger Butler, der aussah wie ein Mitglied der Addams-Family, öffnete die Tür. Der Mann hatte sich ein paar dünne graue Haare quer über den Kopf frisiert und sah sie reglos aus zinngrauen Augen an. Als wäre das nicht bereits schlimm genug, sah sein Anzug aus, als hätte er mehr gekostet, als sie monatlich an Gehalt bezahlt bekam.

Der Tag wurde wirklich immer besser, dachte sie.

»Hier entlang, Detective. Mr. Cavanaugh erwartet Sie bereits.«

Während Becca ihm durch eine prachtvolle Rotunde folgte, drangen leise Violinenklänge an ihr Ohr. Ihre Schuhe hallten auf dem Marmorboden des Foyers, und während der Butler reglos vor sich hin sah, schaute sie sich verstohlen um und prägte sich möglichst viele Einzelheiten ein. Einen derartigen Luxus wie in diesem Haus hatte sie nie zuvor gesehen.

Dezente Einbauleuchten erhellten Wände in gedämpftem Grün, und schwarz-gold geäderte Marmorsäulen stützten Bogentüren aus geschnitztem Elfenbein. Am Ende des diskret erleuchteten Foyers markierte eine Tür aus Mahagoni und geschliffenem Glas den Eingang zum Salon, in dessen Mitte ein massiver, von vergoldeten Löwen getragener Tisch unter einem kristallenen Leuchter stand. Hunter Cavanaugh hatte einen extravaganten Geschmack. Es war sicher angenehm, König zu sein.

Nachdem Becca über die Schwelle getreten war, hörte sie die Stimme eines Mannes vom anderen Ende des Raums.

»Bitte gesellen Sie sich doch zu mir, Detective Montgomery.«

In einem luxuriösen, mit Leopardenfell bezogenen Sessel mit einem geschwungenen, schwarz-bronzefarbenen Gestell saß ein Mann von vielleicht Mitte fünfzig, der dort hoch erhobenen Hauptes Hof zu halten schien. Sie erkannte Hunter Cavanaugh von den Aufnahmen, auf die sie bei ihrer Recherche gestoßen war. Mit seiner blassen Haut, dem weißblonden Haar und den blassblauen, durchdringenden Augen hob er sich wie eine Statue von der vergoldeten Tapete hinter seinem Rücken ab. Zu seinem gestärkten weißen Hemd und seiner schwarzen Hose hatte er eine blutrote Smokingjacke ausgewählt. Entweder hatte dieser Typ eine Vorliebe für das Dramatische oder er war ein Fan des Aristokraten des Horrorfilmes, Vincent Price.

Diego stand an seiner Seite, und sie brauchte ihre ganze Selbstbeherrschung, um statt seiner weiter seinen Gönner anzusehen.

Cavanaugh wies lässig mit der Hand auf seinen Untergebenen. »Dies ist einer meiner Mitarbeiter, Mr. Diego Galvan.«

»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Detective.«

Was zum Teufel sollte das? Diego tat, als hätten sie sich nie zuvor gesehen. Er verhielt sich völlig anders als noch einen Tag zuvor. Seinem Arbeitgeber hatte er anscheinend nicht erzählt, dass er ihr vor dem Imperial begegnet war. Seltsam, dachte sie. Genauso seltsam wie sein leicht geschwollener Kiefer. Doch an diesem Mann sah selbst ein Hämatom noch sexy aus.

Diego blickte sie mit einem warmen Lächeln an. Er war nicht mehr der kesse Draufgänger, dem sie erst gestern auf den Leim gegangen war, doch seine Augen sandten eine eindeutige Botschaft an sie aus – Gott, Rebecca, spiel um Himmels willen mit.

War sie so großmütig gestimmt? Weshalb in aller Welt ging er davon aus, dass sie ihn nicht verriet? Doch als sie sein Lächeln erwiderte, zwinkerte er leicht, und ihr Lächeln löste sich in einem kühlen Nicken auf, das ihn zu amüsieren schien.

Trotz der verstohlenen Begrüßung, trotz des subtilen Flirts und trotz seines geschwollenen Kiefers wirkte er in seinem grauen Anzug und dem schwarzen Kaschmirrollkragenpullover ungeheuer selbstbewusst und elegant. Verdammt, warum muss er so gut aussehen und riechen, ging es ihr missmutig durch den Kopf.

»Das hier ist Mr. Matt Brogan«, riss Cavanaughs sanfte Stimme sie aus ihren Grübeleien.

Wenn Diego der charmante, kluge Dr. Jekyll war, war Matt Brogan Mr. Hyde. Das Gesicht des Kerls sah aus, als hätte er es über mehrere Minuten auf einen George-Foreman-Grill gepresst. Es wies mehrere geschwollene, rote Streifen auf, und in seinem Ohr klaffte ein breiter Riss. Brogan nickte knapp, vermied dabei aber jeden Blickkontakt.

Ein Streit unter Halunken? Aus dem anscheinend Diego als Sieger hervorgegangen war. Eine leise Stimme flüsterte ihr zu, ja nichts über Brogans Aussehen zu sagen, doch Cavanaugh hatte ihre Reaktion auf seinen Anblick längst bemerkt.

Ein amüsiertes Blitzen trat in seine Augen, er zog eine Braue hoch und stellte lächelnd fest: »Anscheinend hat der gute Mr. Brogan heute Morgen Streit mit dem Küchenchef gehabt.« Er beugte sich ein wenig zu ihr vor und wisperte, als ob der Mann, um den es ging, nicht direkt neben ihm stünde: »Ich fürchte, seine Sonderrechte in der Küche hat er erst einmal verspielt.«

Damit stand er auf und trat vor einen Konsolentisch. »Darf ich Ihnen einen Kaffee einschenken?«

Jemand hatte auf dem Tisch ein silbernes Service bereitgestellt. Man hatte alles bestens durchorganisiert.

»Danke, Sir. Sehr gern.«

Cavanaugh füllte zwei Tassen, winkte in Richtung eines mit dunkelblauem Samt mit goldenen Bordüren bezogenen Divans, folgte ihr dorthin und hielt ihr eine Tasse hin.

Sie musste dafür sorgen, dass er sich entspannte und freiwillig mit ihr sprach. Das war für gewöhnlich ziemlich leicht. Heute allerdings, vor allem gegenüber diesem Mann, fiel ihr das zwanglose Geplauder schwer.

»Sie sind eine eindrucksvolle Person, Detective Montgomery. Aber ich nehme an, das hören Sie jeden Tag.«

»Oh, ich weiß nicht. Ich habe die Feststellung gemacht, dass ein Mann zu einer Frau, die eine Waffe trägt, so gut wie alles sagt, was sie von ihm hören will«, gab sie lächelnd zurück. »Aber in meinem Metier ist es ziemlich schwierig, ohne Lügendetektor herauszufinden, wann ein Mann die Wahrheit sagt.«

»Unglücklicherweise ist Ehrlichkeit in unserer Zeit ein seltenes Gut. Meinen Sie nicht auch?«

Sein Gesicht blieb unergründlich, aber ihr zuliebe setzte er ein neuerliches, wenn auch leicht gezwungenes Lächeln auf. Entweder hatte er ihre angestrengte Herzlichkeit durchschaut, oder er hatte sie darüber informiert, dass er kaum je die Wahrheit sprach.

»Ich muss sagen, Ihr gestriger Anruf war ein wenig rätselhaft. Was führt Sie zu mir, Detective?«

»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mich so kurzfristig empfangen, Mr. Cavanaugh. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen über das Imperial Theater stellen.«

»Es hat mich sehr betrübt, als ich erfuhr, dass es niedergebrannt ist. Wirklich bedauerlich. Aber ich fürchte, dass mir das Gebäude schon seit Längerem nicht mehr gehört. Ich habe es vor einer Weile einer gemeinnützigen Gesellschaft vermacht.« Lächelnd hob er seine Kaffeetasse an den Mund.

»Ich erinnere mich daran, dass ich davon vor circa einem Jahr in der Zeitung gelesen habe. Als junges Mädchen habe ich das Theater ab und zu besucht. Eine wahrhaft prachtvolle Architektur. Wer hat die letzte Renovierung durchgeführt?«

Sie warf einen kurzen Blick auf Diego. Sie hatte es nicht vorgehabt, aber der Mann zog sie einfach an wie ein Magnet. Seine zusammengekniffenen Augen machten deutlich – er hatte sie durchschaut. Aber schließlich hatte sie noch nie besonderes Talent für banale Plaudereien gehabt.

»Hans Muller, ein ortsansässiger Architekt. Ich darf voller Stolz hinzufügen, dass er mit dem Projekt landesweite Anerkennung gefunden hat.« Mit einem Zwinkern schob er nach: »Für besondere Arbeiten heure ich immer Spezialisten an.«

Vielleicht auch für Mord?

Becca hatte das deutliche Gefühl, dass er mit ihr spielte. Er fühlte sich vollkommen sicher und war eindeutig in seinem Element. Deutete er vielleicht eine Wahrheit an, die nur er selber kannte, und forderte sie auf diese Art heraus? Waren Diego und der ›Junge ohne Hals‹ vielleicht nichts weiter als gedungene Schlägertypen, denen er die Drecksarbeiten überließ? Beccas Eingeweide zogen sich zusammen, ihr Instinkt als Cop riet ihr, sich noch stärker vorzusehen als bisher.

Sie trank einen Schluck Kaffee und fragte Cavanaugh: »Hat dieser Muller alle Renovierungsarbeiten persönlich überwacht?«

»Selbstverständlich hat er das.« Er beugte sich ein wenig vor. »Woher kommt dieses Interesse an Architektur, Detective?«

»Ich habe dieses alte Gebäude ganz einfach geliebt. Wann genau haben Sie es dem Verein vermacht?«

Er nannte ihr ein Datum, das sie bereits kannte, und Becca sah ihn auf der Suche nach einer Veränderung in seiner Körpersprache weiter forschend an. Bisher hatte sie einfach nett mit ihm geplaudert, um herauszufinden, wie er sich normal verhielt, um seine Eigenheiten, seine Stimme, seine Gedankengänge zu durchschauen.

Nun war es an der Zeit, ihm zu enthüllen, was der wahre Grund ihres Besuches war.

»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es bei unseren Ermittlungen nicht nur um das Feuer in dem Theater geht. Es sieht so aus, als ob vor circa sieben Jahren bei der letzten Renovierung ein Mensch in einer der Wände eingemauert worden ist.«

»Was? Ich verstehe nicht.«

»Nach dem Brand wurden die Überreste eines Skeletts gefunden, Mr. Cavanaugh. Sie wollen der Sache bestimmt genauso auf den Grund gehen wie ich.«

Der Mann versuchte, jede Reaktion zu unterdrücken, aber seine Augen sprangen hektisch hin und her. Einem Mann wie Cavanaugh könnte sie bestenfalls einen kurzen Ausrutscher entlocken, ein verräterisches Wort, das ihr irgendeinen Hinweis gab. Doch der Kerl hatte sich in weniger als zwei Sekunden bereits wieder völlig in der Gewalt.

»Wie schrecklich«, sagte er. »Kennen Sie die Identität dieses armen Individuums schon?«

»Wir arbeiten noch daran. Aber vielleicht könnten Sie mir sagen, wann Sie diese junge Frau zum letzten Mal gesehen haben?«

Becca reichte Cavanaugh das Bild von Isabel. So, wie sie die Frage stellte, machte es den Eindruck, als wäre bereits klar, dass er wusste, wer das Mädchen war.

Trotzdem meinte er: »Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich kenne dieses Mädchen nicht.«

Er winkte seine beiden Handlanger zu sich heran. Der ›Junge ohne Hals‹ schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Eine eiskalte Reaktion. Er hatte sich das Bild von Isabel höchstens zwei Sekunden angesehen. Wahrscheinlich würde er genauso reagieren, falls ihn jemand fragte, ob er gegen Laktose allergisch war. Ein echtes Pokerface. Eine tote junge Frau hatte für diesen Kerl wahrscheinlich keine größere Bedeutung als ein geblähter Bauch infolge des Genusses eines Milchprodukts.

Bei Diego sah es anders aus. Er starrte sie aus zusammengekniffenen Augen fragend an, wobei in seinem Blick ein Hauch von Mitgefühl und Sorge lag. Vielleicht spielte er das ja auch nur. Becca atmete tief ein und widerstand dem Drang, allzu viel in seinen Blick hineinzuinterpretieren. Nachdem ihr Leben bereits völlig aus dem Gleichgewicht geraten war, käme sie mit einer potenziellen weiteren Enttäuschung namens Diego ganz bestimmt nicht mehr zurecht.

»Glauben Sie, das ist die junge Frau, deren Leiche in dem Theater gefunden worden ist, Detective?«

»Das kann ich noch nicht sicher sagen, Sir.«

»Nun, natürlich tut die junge Frau mir leid, aber was hat all das mit mir zu tun?«, fragte Cavanaugh.

Becca hasste diese Frage. Hatte sie schon allzu oft gehört. Sie holte noch einmal tief Luft und kämpfte gegen ihren Widerwillen an. Mord war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein verderbter Akt, der die Menschheit in ihrer Gesamtheit traf. Cavanaugh jedoch sah die Welt aus einer anderen Perspektive. Sie drehte sich ausschließlich um ihn. Schluss, aus. Bei einem Mann wie ihm würde sie nichts erreichen, wenn sie ihm erläuterte, wie sie selber diese Dinge sah.

»Ich muss allen Spuren nachgehen. Und Ihnen hat das Gebäude damals noch gehört.« Sie stellte ihre Kaffeetasse auf der Untertasse ab. »Was für ein Motiv könnte jemand haben, ausgerechnet dort einen Menschen verschwinden zu lassen?«

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte er viel zu schnell.

Er war weder empört noch stellte er ihr irgendwelche Fragen. Er schien noch nicht mal neugierig zu sein. Ihrer Erfahrung nach hätte ein unschuldiger Mensch über die Frage gegrübelt und erst einmal über eine mögliche Antwort nachgedacht. Wohingegen jemand, der etwas zu verbergen hatte, ihr eine Antwort geben würde, ohne vorher nachzudenken. Und genau das hatte Cavanaugh getan.

Sie beschloss, es mit einer anderen Taktik zu versuchen.

»Spielen Sie bitte trotzdem noch ein bisschen mit, Mr. Cavanaugh. Weil ich, ehrlich gesagt, jede Hilfe brauche, die ich bei einem alten Fall wie diesem kriegen kann. Weshalb sollte jemand einen Menschen hinter einer Wand Ihres Theaters verschwinden lassen?«, fragte sie ihn noch einmal.

Wenn sie ihn richtig durchschaute, war Cavanaugh ein Mann, der es genoss, immer Herr der Lage zu sein. Deshalb erschien es ihr nur natürlich, seinem Intellekt zu schmeicheln. Bei dem Ego, das er hatte, war er vielleicht so kühn, ihr ein paar Elemente der Wahrheit zu enthüllen. Weil er wahrscheinlich glaubte, er stünde über dem Gesetz und wäre vor allem gewiefter als die Polizei. Und es war nicht ihre Aufgabe, ihm zu beweisen, dass diese Einschätzung ein Irrtum war. Ihr einziges Ziel war im Augenblick, ihn dazu zu bewegen, dass er weiter mit ihr sprach. Wenn sie auch nur einen Hauch von Menschenkenntnis hatte, würde sein Ego dafür sorgen, dass er ihr so weit entgegenkam.

Sie nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass Diego sein Gewicht verlagerte, widerstand jedoch dem Drang, den Kopf zu drehen und ihn anzusehen. Sein Verhalten rief ihr seine Warnung über seinen ›Gönner‹ in Erinnerung, ihr gingen seine Worte durch den Kopf: Sie sollten darauf achten, dass Sie ihm gegenüber mit einem Spitzenteam auflaufen. Ich kann Ihnen nämlich gar nicht sagen, wie mächtig und gemein er ist. Plötzlich kam ihr die billige Columbo-Masche nicht mehr ausreichend für diese Herausforderung vor.

Sie wandte sich wieder an Cavanaugh, und als sie sein einnehmendes, perverses Lächeln sah, bekam sie eine Gänsehaut.

»Sie meinen, ich soll eine Hypothese aufstellen?«, wollte er von ihr wissen. Als sie wortlos nickte, ließ er seinen Blick nachdenklich in die Ferne schweifen und tat, als spiele er mit. »Nun, nehmen wir an, dass diese namenlose Leiche die wunderhübsche junge Frau von dem Foto ist …«

Er wartete, bis sie seine clevere Schlussfolgerung bestätigte, und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Dann könnte es ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen sein, wie in den Romanen von Edgar Allan Poe. Ein Freund, dem sie den Laufpass gegeben hat, hätte sie lebend begraben und dabei noch den Klang ihres schlagenden Herzens im Ohr gehabt. Was für einen dramatischeren Ort für einen solchen Akt könnte es da geben als ein altes Theater?«

»Bei allem gebührenden Respekt, Mr. Cavanaugh, ich habe nicht gesagt, dass das Opfer lebendig begraben worden ist. Aber bitte fahren Sie fort. Ihre Gedanken sind wirklich interessant.«

Er verstummte kurz und dachte über ihren Einwurf nach.

»Nein, ich nehme an, das haben Sie wirklich nicht erwähnt.« Er verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. »Aber so hätte es Poe auf jeden Fall gemacht.«

Dann hob er den Kopf und fuhr mit krächzender Stimme fort. »Ich habe dieses Mädchen nicht gekannt, vielleicht war sie ja nicht völlig unschuldig. Vielleicht hat sie ja ein geheimes Leben geführt, von dem niemand etwas wusste. Ist das die Art von Spekulation, die Sie meinen?«

Einen unangenehmen Augenblick lang lenkte er seinen Blick auf sie zurück, und sie blinzelte nervös. Er sah sie derart durchdringend aus seinen eisblauen Augen an, dass ihr der Atem stockte. Obwohl er seine Sätze als Fragen formulierte, kamen sie wie die nüchterne Feststellung von Fakten bei ihr an.

Dann beugte sich Cavanaugh ein wenig vor, verringerte den Abstand zwischen ihnen weit genug, dass ihr unbehaglich wurde, strich mit einem Finger über die weiße Rose am Aufschlag ihrer Jacke und fuhr mit leiser, vertraulicher Stimme fort.

»Ein älterer Mann kann einer jüngeren Frau sehr viele Dinge bieten. Vielleicht hat sie sich unwissentlich wie eine Motte allzu nah an eine sehr gefährliche Flamme herangewagt.«

Becca wich nicht vor ihm zurück. Atme, verdammt noch mal. Statt aufzuspringen und Distanz zu diesem Widerling zu schaffen, erwiderte sie seinen reglosen Blick. Trotzdem hatte ihr Grusel-Barometer die rote Zone erreicht.

Vater Victor hatte gestern angedeutet, Isabel hätte eine Beziehung zu einem älteren Mann mit Geld gehabt.

Starrte Becca vielleicht in die Augen eines Mörders? Auch wenn sie mühsam schluckte, setzte sie ein Lächeln auf.

»Sehr gut. Wenn Sie sich mal verändern wollen, lege ich bei Ihren Fähigkeiten gern ein Wort bei meinen Vorgesetzten für Sie ein.« Um Ihre Fassung wiederzuerlangen, trank Becca einen Schluck Kaffee und fuhr dann ruhiger fort. »Das Feuer gestern könnte Brandstiftung gewesen sein. Haben Sie auch diesbezüglich irgendwelche Theorien?«

»Brandstiftung? Tja, dann haben Sie ja schon die Antworten auf Ihre Fragen«, stellte er gelassen fest.

»Inwiefern?«

»Wer auch immer das Feuer gelegt hat, wusste ohne Zweifel über die Leiche Bescheid. Das ist doch wohl sonnenklar. Sonst wäre es schließlich ein allzu großer Zufall. Ihr Brandstifter könnte der Mörder sein.«

»Eine interessante Theorie.«

Cavanaugh sah so selbstzufrieden aus wie ein Komparse, dem sein einziger Satz in einem Bühnenstück gelungen war. Sicher hatte Diego ihm erzählt, dass das Feuer im Imperial möglicherweise Brandstiftung gewesen war. Wenn ja, hatte er jede Menge Zeit gehabt, um sich seine phänomenalen Theorien auszudenken, mit deren Hilfe sich die Schuld dem unbekannten Pyromanen in die Schuhe schieben ließ.

Auch Becca hatte bereits darüber nachgedacht. Aber weshalb hätte jemand sieben Jahre warten sollen, um Cavanaugh als Mörder zu entlarven? Sollte die Leiche vielleicht als Zeitbombe dienen, die im für diesen Typen denkbar ungünstigsten Augenblick explodierte? Aber weshalb dann gerade jetzt? Allzu viele Fragen, auf die es keine Antwort gab.

»Fällt Ihnen irgendjemand ein, der Ihnen diesen Mord anlasten wollen könnte, Sir? Jemand, der Sie ruinieren will?«

»Ein Mann in meiner Position hat natürlich Feinde, aber mir fällt niemand ein, der so etwas täte, nein.«

Oh nein, natürlich nicht. Nach allem, was sie bisher wusste, hatte Cavanaugh sein Familienunternehmen mit Hilfe von Geldern des organisierten Verbrechens auf die Beine gestellt. Er hatte Muskelmänner zu seinem Schutz um sich geschart. Trotzdem saß er vor ihr wie die Unschuld in Person. Allerhöchste Zeit, dafür zu sorgen, dass er etwas aus dem Gleichgewicht geriet.

»Ihr Reiseunternehmen hat vor ein paar Jahren mit Global Enterprises fusioniert. Seither florieren die Geschäfte. Besteht vielleicht die Möglichkeit …«

Cavanaugh fiel ihr ins Wort. »Was hat Sie veranlasst, sich mit meinem Unternehmen zu beschäftigen?« Eines seiner Augenlider zuckte. Eine unmerkliche Geste. Er biss auch die Zähne aufeinander. Was hieß, dass sie auf einen wunden Punkt gestoßen war.

Bisher musste sie darum kämpfen, die Kontrolle zu behalten, während Cavanaugh die Rolle des Großmeisters bei ihrem geistigen Tauziehen zugefallen war. Seit jedoch das Thema Global Enterprises auf den Tisch gekommen war, spielte er die beleidigte Leberwurst und beendete abrupt die Kooperation. Sie hatte offenbar seine Achillesferse entdeckt. Erster Punkt für die Gastmannschaft.

»In diesem Stadium der Ermittlungen muss ich allen Spuren nachgehen, Mr. Cavanaugh.«

Er hatte seine Fassung noch immer nicht zurückerlangt. »Falls Sie wissen wollen, ob jemand innerhalb meines Unternehmens so etwas tun würde, ist die Antwort nein, Detective«, schnauzte er, stellte seine Kaffeetasse ab und stand entschlossen auf. »Die Unterhaltung ist beendet. Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?«

Becca war entlassen.

»Nein, Sir. Das ist für heute alles. Sie waren mir eine große Hilfe.« Sie erhob sich ebenfalls, zog eine Visitenkarte aus ihrem Notizbuch und hielt sie ihm hin. »Falls Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.«

Obwohl Cavanaugh die Karte entgegennahm, warf er noch nicht einmal einen Blick darauf. Er hatte ganz sicher nicht die Absicht, die Unterhaltung fortzusetzen, die von ihm beendet worden war. Deshalb wäre es an ihr, den nächsten Schritt zu tun.

»Diego wird Sie hinausbegleiten.« Mit einem kurzen Nicken wies er seinen Chargen dazu an.

Als Cavanaugh den Raum verließ und Brogan bedeutete, ihm zu folgen, fiel Becca die Reaktion von Diego auf. Cavanaughs Direktive hatte ihn eindeutig überrascht. Es schien ihm gar nicht zu gefallen, dass er ihn nicht begleiten konnte.

»Ich finde auch alleine bis zur Tür. Schließlich bin ich ein Detective«, scherzte sie. Und fügte mit ihrem besten spanischen Akzent hinzu: »Ich spüre solche Dinge auf.«

Diego wirkte abgelenkt und schien gar nicht zu bemerken, dass er von ihr nachgeahmt worden war. Er verfolgte, wie Cavanaugh mit Brogan, dessen reglosen Blick wahrscheinlich nur eine Klapperschlange hätte ergründen können, den Salon verließ.

»Warum sind Sie nicht …«

Bevor sie ihren Gedankengang beenden konnte, bedachte Diego sie mit einem durchdringenden Blick und schüttelte unmerklich den Kopf.

»Kein Problem, Detective. Es ist mir ein Vergnügen, Sie noch bis zur Haustür zu begleiten.«

Er legte eine Hand auf ihren Rücken, und sie liefen schweigend nebeneinander her. Obwohl sie versuchte, die Geste zu ignorieren, löste die Berührung seiner Finger einen unkontrollierbaren Adrenalinschub bei ihr aus. Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen, doch sie biss die Zähne aufeinander und betete zu Gott, dass ihm ihre Reaktion verborgen blieb.

»Dieses Anwesen hat Augen und Ohren«, wisperte er aus dem Mundwinkel, ohne sie dabei anzusehen.

Becca wusste, dass das Klappern ihrer Absätze auf dem gefliesten Boden die Audioüberwachung schwierig machte, doch bei der Videoüberwachung sah es anders aus. Deshalb blickte sie weiter geradeaus und gab im Flüsterton zurück: »Trotzdem müssen wir miteinander reden.«

»Nicht hier«, flüsterte er.

Als sie an die Haustür kamen, zog Diego sie eilig auf, entließ sie mit einem lauten »Guten Tag, Detective« und trat eilig einen Schritt zurück.

Er wirkte nervös und angespannt. Der gelassene Charmeur, der er noch einen Tag zuvor gewesen war, war nur noch eine ferne Erinnerung. Er blickte eilig zurück in Richtung des Salons. Irgendetwas hatte ihn eindeutig aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie musste zugeben, dass es sie ernüchterte, ihn nervös zu sehen. Ihr Körper allerdings war noch immer wie berauscht.

Diego stand dicht genug neben ihr, dass sie die Wärme seines Körpers spürte und ihr der subtile Duft seines Rasierwassers entgegenschlug. Obwohl er sich bemühte, Distanz zu ihr zu wahren, drückten seine Augen etwas völlig anderes aus. Ein Gefühl der Gefahr gemischt mit unverbrüchlicher Menschlichkeit, eine faszinierende Mixtur, die es zu erforschen galt.

Becca kniff die Augen zusammen und widerstand dem Drang zu fragen, wie und wann er sie kontaktieren würde. Stattdessen trat sie durch die Tür und ging damit den ersten Schritt Richtung Vertrauen. Außerdem würde ihr Tag durch ein kleines Versteckspiel mit einem Mann mit solchen Augen ganz bestimmt nicht ruiniert.

Diego machte den Eindruck, als ob er mit ihr reden wollte.

Wunderbar.

Sie wollte hören, was er ihr zu sagen hatte … bis zu einem bestimmten Punkt.

Auf der Rückfahrt in die Stadt gingen Becca unzählige Dinge durch den Kopf. Diego hatte mit seiner Warnung vor Cavanaugh eindeutig recht. Der Mann war ihr unheimlich, sie hatte das deutliche Gefühl, dass diese wohlhabende Stütze der Gesellschaft etwas zu verbergen hatte, dass irgendwas an seinem Unternehmen Global Enterprises nicht in Ordnung war. Während sie noch das Gespräch mit Cavanaugh Revue passieren ließ, unterbrach das Klingeln ihres Handys ihren Gedankengang.

»Montgomery.«

»Wo stecken Sie, Becca?«

Sie erkannte die Stimme von Lieutenant Arturo Santiago.

»Ich bin gerade auf der I-10, auf dem Weg in die Stadt zurück. Warum?«

»Ich wollte, dass Sie es von mir erfahren, bevor die Medien Wind davon bekommen.«

Ihr Herzschlag setzte aus. Seine Stimme hatte einen ernsten Klang. Er erinnerte sie an den Tag, an dem sie zum ersten Mal von dem blutigen Motelzimmer erfahren hatte. Es verhieß also bestimmt nichts Gutes, wenn er mit dieser Stimme sprach.

»Klingt bedrohlich. Worum geht's?«

»Vor ein paar Tagen gab es eine weitere Entführung, in Austin, in der Nähe des Campus der U.T.«

Ein weiteres ruiniertes junges Leben, eine weitere zerrissene Familie. Bei diesem Gedanken zog sich alles in ihr zusammen, und Danielles liebliches Gesicht tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Becca biss die Zähne aufeinander und umklammerte das Lenkrad ihres Wagens, während sie um Fassung rang.

»Dieselbe Vorgehensweise?« Sie hörte das Krächzen ihrer Stimme. Die Verzweiflung, die sich dahinter verbarg. »Gibt es eine Verbindung zu den anderen Fällen, Art?«

»Diesmal sind sie anders vorgegangen. Sie haben das Mädchen am helllichten Tag entführt und nicht abends zu irgendeinem Club gelockt. Außerdem ist das Mädchen eine Austauschstudentin aus Japan, die an der U.T. am College war. Das FBI hat Murphy über die Sache informiert. Wir hätten gar keine Verbindung zu den anderen Fällen gesehen, hätte uns nicht eine Sache stutzig gemacht.«

»Was für eine Sache?«

Ihr Vorgesetzter hatte sie anscheinend nicht gehört, denn er fuhr einfach fort.

»Wir werden dieses Detail nicht an die Presse weitergeben, Becca. Das behalten wir für uns.«

»Bitte, Art, nun spucken Sie es endlich aus. Was für ein Detail?«

»Der Abschlussklassenring von Ihrer Schwester wurde in einem Lieferwagen gefunden, den die Täter stehen gelassen haben. Er steckte in einem Spalt.«

Die Nachricht raubte ihr den Atem, und plötzlich stiegen hinter ihren Augen heiße Tränen auf. Sie brauchte ihre gesamte Konzentration, damit sie ihren Wagen zwischen den gemalten Linien hielt. Nie im Leben hielte sie sich aus den Ermittlungen aus diesem Fall heraus. Dafür stand für sie einfach zu viel auf dem Spiel.

»Für sich genommen hat das nicht viel zu bedeuten. Schließlich ist es nur ihr Ring, wie den Initialen auf der Innenseite zu entnehmen ist. Wir haben keinen anderen Zusammenhang und auch keinen zeitlichen Rahmen, der die beiden Fälle in Verbindung bringt. Nur der Ring bringt dieses Fahrzeug mit dem Fall ihrer Schwester in Verbindung, weiter nichts.«

»Es ist zumindest eine Spur. Es ist etwas von Dani. Bisher haben wir nichts von ihr entdeckt.«

»Hören Sie, ich weiß, was Sie jetzt denken, aber ich muss Sie warnen«, fügte Santiago eindringlich hinzu. »Heute ist ein neuer Typ vom FBI hier aufgetaucht. Er gibt sich total zugeknöpft. Sie werden also nicht …«

Bevor er seinen Satz beenden konnte, fiel sie ihm ins Wort.

»Ich will an den Ermittlungen beteiligt werden, Art. Ich will daran beteiligt werden, ganz egal auf welche Art.«

Ohne Lieutenant Santiagos Antwort abzuwarten, beendete Becca das Gespräch, warf ihr Handy auf den Beifahrersitz des Wagens und trat aufs Gaspedal. Nie im Leben hielte sie sich jetzt noch aus der Sache raus.