11
Becca brauchte fast den ganzen Morgen, bis sie Rudy Marquez fand. Sie wusste, dass er bei der Arbeit war, und wollte alleine mit ihm reden, ohne dass sich sein Bruder, Vater Victor, schützend vor ihn warf. Alles, was sie hatte, war der Name einer Firma, bei der er ein paar Jahre angestellt gewesen war. Nach unzähligen Telefongesprächen fand sie endlich seinen neuen Arbeitgeber und die Baustelle, auf der er heute war.
Das Timing war perfekt. Es war kurz vor zwölf, und die Chancen standen gut, dass er, wenn sie ihn erreichte, gerade in der Mittagspause war.
Auf der Fahrt versuchte Becca, sich an alles zu erinnern, was sie über Rudy wusste. Was nicht viel war.
Infolge ihres Gesprächs mit Rudy auf der Wache gingen ihr noch viele offene Fragen durch den Kopf. Am wichtigsten für sie waren die von ihm erhobenen Anschuldigungen gegen Cavanaugh. Sie würde ihn noch einmal danach fragen, um zu sehen, ob es nicht doch einen Beweis für seine Behauptungen gab. Doch sie konnte auch nicht ignorieren, dass ein Maurerhammer, wie ihn Rudy sicher bei der Arbeit nutzte, die Mordwaffe gewesen war. Auch sein mögliches Motiv für die Ermordung seiner eigenen Schwester und die Tatsache, dass er vor sieben Jahren an der Renovierung des Theaters beteiligt gewesen war, sprachen gegen ihn. Sie durfte also nicht vergessen, dass ein begründeter Verdacht gegen Rudy Marquez bestand, während sie gleichzeitig nicht wusste, ob nicht Hunter Cavanaugh vielleicht von der Liste der Verdächtigen zu streichen war.
Als Becca die Baustelle erreichte – ein kleines, gewerblich genutztes Gebäude unweit der Ringstraße 1604 – blieb sie noch kurz in ihrem Wagen sitzen und sah sich suchend unter den Bauarbeitern um. Die meisten von ihnen saßen um die offene Ladeklappe eines alten blauen Pickups mit einer verschlissenen Plane herum und nahmen ihr Mittagessen ein, während sie sich fröhlich unterhielten. Rudy war jedoch nicht dabei. Während sie noch überlegte, ob die Fahrt vielleicht vergeblich war, entdeckte sie einen Mann, der ganz allein im Schatten einer Eiche saß. Sie erkannte Rudy Marquez und marschierte auf ihn zu.
Seine verwaschenen Jeans, das weiße T-Shirt und das viel zu große blaue Baumwollhemd waren über und über mit Staub und Schweiß bedeckt. Sein dunkles Haar war wild zerzaust und hing ihm in die Augen. Er sah vollkommen verloren aus, wie ein echter Einzelgänger.
Sie wusste, was für ein Gefühl es war, in einem Vakuum zu leben. Es war, als hätte man sich selber im Gefängnis eingesperrt. Doch auch wenn sie regelrecht vor Mitgefühl verging, musste sie ihre persönlichen Gefühle in diesem Fall verdrängen. Sie hatte schon einmal den Fehler gemacht, ihre eigene Trauer auf einen jungen Mann zu übertragen, der vielleicht ein Mörder war. Sie musste ihre Arbeit machen. Vor allem hatte Isabel Gerechtigkeit verdient, selbst, wenn sie darin bestand, dass ihr Bruder hinter Gitter kam.
»Ich soll nicht mit Ihnen reden«, sagte Rudy statt einer Begrüßung, als sie vor ihn trat.
Er saß auf dem Boden, hatte sich mit dem Rücken gegen den Baum gelehnt, blickte in die Ferne und nahm ihr Erscheinen nur am Rande wahr. Aber obwohl er sie nicht mit offenen Armen empfangen hatte, hatte er ihr auch nicht rundheraus erklärt, dass er nur in Anwesenheit von einem Anwalt mit ihr spräche. Was Becca als gutes Zeichen nahm.
»Warum nicht? Ich versuche schließlich nur herauszufinden, was mit Isabel passiert ist.« Sie kniete sich neben ihn und sah ihm ins Gesicht. »Wollen Sie nicht wissen, was mit ihrer Schwester geschehen ist?«
Sie hob einen Klumpen Caliche auf und knetete ihn zwischen ihren Fingern, während sie ihm weiter in die Augen sah. Das Stück kalkhaltiger, weißer Erde verlieh dem Boden eine zementartige Qualität, ihre Jeans und ihre Wanderstiefel wären sicherlich mit einer Schicht von weißem Staub bedeckt, wenn sie die Baustelle nachher wieder verließ. Auf seine Art erinnerte Rudy sie an diese Erde – außen hart, unter Druck jedoch formbar und weich. Zumindest in der Theorie. Becca warf den Klumpen Erde wieder fort, wischte sich die Hände ab und verdrängte die poetische Analogie.
Wie erwartet blickte Rudy weiter schweigend geradeaus. Einzige Reaktion auf ihr Erscheinen war, dass er die Zähne aufeinanderbiss. Ein Zeichen dafür, dass ihm ihr Erscheinen nicht gleichgültig war.
»Ich möchte mit Ihnen über Isabel sprechen, sonst nichts«, setzte sie mit ruhiger Stimme an. »Seit ich in diesem Fall ermittle, geht mir Ihre Schwester nicht mehr aus dem Kopf. Ich kann noch nicht einmal erahnen, was Sie durchmachen müssen, seit sie damals verschwunden ist.«
Natürlich hoffte sie, sein Vertrauen zu gewinnen. Vor allem aber waren diese Sätze Ausdruck ehrlichen Mitgefühls. Nach einer halben Ewigkeit bedachte Rudy sie mit einem unglücklichen Blick. Er sah aus wie ein verletztes Kind, das eine viel zu schwere Last auf seinen Schultern trug.
»Vielleicht wissen Sie es ja.« Er blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne, die direkt hinter ihrem Rücken stand. »Victor hat mir von Ihrer Schwester erzählt.«
Als das Gespräch plötzlich in diese Richtung ging, war Becca sich nicht sicher, wie sie weitermachen sollte. Dann aber beschloss sie, das Wagnis einzugehen und ehrlich zu sein. »Ja. Ich habe immer alles in mich reingefressen, aber das ist keine Lösung. Manchmal … manchmal kann ich nicht einmal mehr richtig atmen. Es ist, als ob die Schuldgefühle mich ersticken. Sie verstehen, was ich damit sagen will. Ich weiß, dass Sie es verstehen.«
»Schuldgefühle?«, fragte er und wandte sich ihr wieder zu. »Was für Schuldgefühle?«
»Schuldgefühle, weil ich es nicht verhindern konnte. Schuldgefühle, weil ich ihren Mörder nie gefunden habe. Schuldgefühle, weil ich keine Chance mehr hatte, ihr zu sagen, wie sehr ich sie geliebt habe. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?« Sie kämpfte gegen den dicken Kloß in ihrem Hals. Sie durfte jetzt nicht weinen. Sie musste sich weiter auf die Arbeit konzentrieren. »Sagen Sie, haben Sie Isabel wegen ihrer Fahrt zu dem Anwesen an der I-10 jemals zur Rede gestellt? Ich meine, nachdem Victor nicht mehr da war, waren Sie der Mann im Haus. Hat sie Ihnen je erzählt, was dort geschehen ist?«
Rudys Lippen zitterten, und er kniff die Augen zu. Schließlich aber machte er sie wieder auf und setzte mit unsicherer Stimme an. »Sie hat es gehasst, von mir rumkommandiert zu werden. Aber wissen Sie, ich wollte immer nur ihr Bestes. Nur hat sie das nicht so gesehen. Isabel wollte erwachsen sein, wollte ihre eigenen Entscheidungen treffen. Als ich sie zur Rede stellen wollte, hat sie mir erklärt, ich benähme mich …« Unglücklich brach er ab.
»Wie ein Vater?«, fragte sie.
»Nein, wie Victor. Wir haben unseren Vater nie gekannt, aber den hätten wir auch nicht gebraucht, schließlich hatten wir ja Vater Victor. Als er aus dem Haus ging und ins Seminar nach Houston zog, dachten Isabel und ich, jetzt würde alles anders.«
Rudy setzte sich in den Schneidersitz, spielte mit seinem Lunchpaket und wippte mit einem Knie. Ob aus Nervosität oder aus Schuldgefühlen, wusste Becca nicht. Obwohl er direkt vor ihr saß, war nur noch seine äußere Hülle in der Gegenwart.
»Isabel fing an, sich zu verändern, und brachte immer mehr Zeit woanders zu. An dem Tag, an dem ich gesehen habe, wie sie in den Mercedes stieg, bin ich ausgeflippt. Wir haben uns gestritten, wie so oft. Als ich von ihr wissen wollte, mit wem sie in der Nobelkutsche unterwegs war, hat sie mir deutlich zu verstehen gegeben, das ginge mich nichts an.«
»Sie haben gesagt, Hunter Cavanaugh hätte am Steuer des Wagens gesessen. Aber gleichzeitig haben Sie zugegeben, dass es dunkel war. Erinnern Sie sich noch?«, bedrängte Becca ihn. »Ich muss die Wahrheit wissen, Rudy. Wenn Sie und ich rausfinden wollen, was mit Isabel passiert ist, müssen Sie mir die Wahrheit sagen, nicht, was Ihrer Meinung nach vielleicht geschehen ist. Haben Sie tatsächlich gesehen, dass er den Mercedes gefahren hat?«
Rudys Augen fingen zornig an zu blitzen, aber er sagte nichts, sondern zog eine Grimasse, während er versuchte, sich daran zu erinnern, was an jenem Abend wirklich geschehen war. Schließlich gab er zu: »Nein, ich habe ihn nicht hinter dem Steuer gesehen.« Er ließ die Schultern sinken und legte sein Kinn auf seine Brust. »Ich habe nur den Wagen erkannt, sonst nichts.«
Rudy knüllte seine Lunchtüte zusammen und warf sie zornig fort. In seinen Augen stiegen Tränen auf, und Becca bewunderte ihn für seine Ehrlichkeit, doch sie musste dafür sorgen, dass er sich konzentrierte und weiter mit ihr sprach.
»Noch einmal zu der Kette. Sie haben gesagt, Cavanaugh hätte sie ihr gekauft. Haben Sie das ebenfalls lediglich vermutet, oder wissen Sie das mit Sicherheit?«
Eine Träne rollte über seine Wange, doch sie konnte ihm den Trost nicht geben, den er suchte, als er ihr beinahe flehend in die Augen sah. Er musste diese Sache ganz allein durchstehen. Becca sah, wie er sich seinen Dämonen stellte, und wusste, was das hieß. Cavanaugh von seiner Schuld an Isabels Verschwinden zu entbinden hieß für Rudy, eingestehen zu müssen, welche Rolle ihm in diesem Drama selber zugefallen war, und das musste furchtbar schmerzlich für ihn sein.
»Sie hat sie einmal auf einem Klassenfoto getragen. Hat das hochwohlgeborene Dämchen rausgekehrt. Ich habe sie deshalb angeschnauzt und sie verhört wie ein verdammter Cop.« Er brach ab und zuckte mit den Schultern. »Damit wollte ich Ihnen nicht zu nahetreten.«
»Kein Problem. Erzählen Sie bitte weiter.«
»Sie hat mir gesagt, eine Freundin hätte sie ihr gegeben, aber das habe ich ihr nicht geglaubt. Etwas so Teures gibt man nicht einfach her, habe ich zu ihr gesagt. Also hat sie die Geschichte abgewandelt und behauptet, jemand hätte sie ihr geliehen. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben soll.« Er wischte sich das Gesicht mit einem Ärmel seines Hemdes ab. »Nach einer Weile hat sich Isabel geweigert, überhaupt noch darüber zu reden. Sie meinte, ich würde ihr ja sowieso nicht zuhören. Sie müssen das verstehen. Dort, wo wir herkommen, bekommt ein anständiges Mädchen keine solchen Geschenke. Zumindest nicht, ohne dafür irgendeine Gegenleistung zu erbringen.«
Becca wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie konnte seine Gedankengänge durchaus verstehen, spürte aber noch viel mehr, wie leid ihm alles tat. Vielleicht wäre sie mit Danielle genauso umgegangen. Zumindest die alte Becca hätte das getan. Wenn Rudy erst erführe, was wirklich mit Isabel geschehen war, würde er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt sehen, doch das wäre vollkommen egal. Innerlich bliebe er trotzdem völlig leer. Die letzten Worte, die er mit Isabel gewechselt hatte, hatte er im Zorn gesprochen, diese Wunde würde auch dadurch, dass seine Angst gerechtfertigt gewesen war, ganz sicher nicht geheilt. Damit müsste er ganz einfach leben.
»Dann hatte Cavanaugh, soweit Sie wissen, also nichts mit der Kette zu tun? Ist das richtig?«
Sie musste ihn dazu bewegen, dass er völlig ehrlich war. Falls Rudy ihn nicht mit der Kette in Verbindung bringen konnte, fiele dadurch ein weiteres Teil des Puzzles weg. Dann hätte sie nichts Konkretes mehr gegen den wohlhabenden Unternehmer in der Hand.
»Ich schätze, ja. Ich habe nie herausgefunden, von wem sie die Kette hatte.« Rudy wandte sich ab und fuhr sich abermals mit seinem Ärmel über das Gesicht, als seine Version der Wirklichkeit in sich zusammenbrach. »Sie hat es mir nie erzählt.«
Hunter Cavanaugh schien also bezüglich der nicht bestätigten Fahrt in dem Mercedes und auch hinsichtlich der Kette blitzsauber zu sein. Zumindest nach Aussage von Rudy. Becca musste die Taktik wechseln, auch wenn ihr das zutiefst zuwider war. Sie musste ein paar Schritte rückwärts gehen und alles, was sie bisher herausgefunden hatte, noch einmal überprüfen. Sie hatte keine andere Wahl. Irgendetwas hatte sie eindeutig übersehen.
»Ich habe die Rechnungen des Renovierungsprojekts am Imperial Theater durchgesehen. Wie oft hat Victor dort gearbeitet? Sein Name tauchte auf den Rechnungen nicht so oft wie Ihrer auf.«
Becca formulierte ihre Frage so, als wüsste sie bereits, dass Victor im Imperial beschäftigt gewesen war. Diesen Trick hatte ihr ihr Ausbilder, Arturo Santiago, beigebracht. Vielleicht gäbe Rudy ihr ja eine Antwort, ohne vorher nachzudenken. Dann wäre sie schon mal ein Stückchen weiter, dachte sie.
»Victor hat dort nur gearbeitet, wenn er in den Ferien zu Hause war. Mein Boss hat ihm hin und wieder einen Knochen zugeworfen, indem er ihn beschäftigt hat. Das war alles.«
»Es sieht so aus, als hätte er ihn schwarz bezahlt. Ich wette, dass das Ihrer Familie ziemlich geholfen hat. Ich finde das ganz schön großzügig von Ihrem Boss.«
»Ja. Er war nett zu Victor und zu mir. Schätze, er dachte, dass mein Bruder dafür oben ein gutes Wort für ihn einlegt.« Rudy zwang sich zu einem Lächeln, das jedoch nicht lange hielt. »Aber wenn Victor einen derart guten Draht zum Himmel hat, warum ist dann das mit Isabel passiert?«
Becca hob ein paar Steine von der Erde auf, rollte sie in ihrer Hand und dachte über eine Antwort nach. Leider fiel ihr nichts Tröstliches ein.
»Ich kann nicht glauben, dass Gott etwas mit dem zu tun hatte, was mit meiner Schwester Danielle geschehen ist. Wenn ich das denken würde, wäre die Welt ein trüber, hoffnungsloser Ort.« Sie schluckte und lauschte auf ihr Herz. »Ich will es nicht glauben. Ich weigere mich. Vielleicht sind Sie versucht, Ihre Frustration und Ihren Zorn über die Dinge, die geschehen sind, an Ihrem Bruder auszulassen. Aber ich kann Ihnen nur raten, diesen Fehler nicht zu machen. Gerade jetzt sollten Sie beide zusammenhalten. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Es ist einfach zu schwer, so etwas alleine durchzustehen.«
Jetzt stiegen auch in ihren Augen Tränen auf, doch das war ihr egal.
»Ich weiß, das wird bestimmt nicht leicht, aber können Sie mir erzählen, wie es war, als Sie Isabel zum letzten Mal gesehen haben, Rudy?« Sie sah und spürte seinen Schmerz. »Glauben Sie mir, ich weiß, wie schwer das für Sie ist. Genau wie ich haben Sie eine offene Wunde in Ihrem Herzen, die nicht heilen wird, solange Sie sie immer weiterschwären lassen. Vielleicht tut Ihnen das Reden ja gut.«
Becca war eine gute Polizistin, sie wusste ganz genau, wie man einen schuldigen Verdächtigen dazu bewegte, dass er eine Tat gestand. Falls Rudy nichts mit dem Mord an Isabel zu tun hatte, würde sie seine Trauer nutzen, um von ihm zu erfahren, was für ihre Ermittlungen wichtig war. Gerechtigkeit war nicht umsonst zu haben, und bisher war sie bereit gewesen, diesen Preis zu zahlen … bis sie Rudy Marquez begegnet war. Einen gebrochenen jungen Menschen zu benutzen, um herauszufinden, was geschehen war, stellte eine große Herausforderung an ihr moralisches Empfinden dar.
»Ich muss mich bewegen. Ich kann nicht mehr stillsitzen.« Damit stand Rudy auf und lief über den asphaltierten Parkplatz auf das mit Mesquitebäumen und niedrigen Büschen zugewachsene, leere Nachbargrundstück zu. Er drehte sich nicht zu ihr um, um zu sehen, ob sie ihm folgte. Vielleicht hatte er ja die Hoffnung, sie täte es nicht.
Doch als Becca loslief, um ihn einzuholen, kam ihr ein Gedanke. Rudy war ein möglicher Verdächtiger, und sie lief ihm allein in Richtung eines leeren Grundstücks hinterher. Aus Gewohnheit tastete sie nach der Waffe, die in ihrem Rückenhalfter steckte, und blickte zu den Männern bei dem Truck zurück. Keiner von ihnen achtete auf sie. Würden sie sich überhaupt daran erinnern, dass sie hier war? Becca drehte sich wieder um und starrte nachdenklich auf Rudys Rücken. Wie mutig sollte sie sein?
Schließlich entschied ihre Neun-Millimeter-Glock.
»Rudy. Bleiben Sie sofort stehen«, rief sie ihm hinterher. »Ich bin nicht in der Stimmung für einen längeren Spaziergang.«
Er verlangsamte sein Tempo und marschierte ziellos auf dem Grundstück hin und her. Selbst in seiner kleinen Welt sah Rudy niedergeschlagen und verloren aus. Bevor er es bis zu den Büschen schaffte, drehte er sich wieder zu ihr um.
»Isabel kam zum Theater, um mich von der Arbeit abzuholen. Mein Wagen war an dem Tag in der Werkstatt. Dieses Mädchen, Sonja Garza, war dabei.« Rudy knabberte an einem Daumennagel und lief weiter hin und her. Dann blieb er plötzlich stehen und stopfte die Hände in die Taschen, doch die Ruhe hielt nicht lange an. »Sie war total aufgebrezelt. Trug ein blaues Glitzerkleid, wie eine erwachsene Frau. Sie sah unglaublich hübsch … aber zugleich viel älter aus.«
»Hatte sie eine Verabredung?«
»Eine Verabredung?« Er stieß ein hohles Lachen aus, rollte mit den Augen und wich den Dingen, die er wirklich dachte, aus. »Ich habe keine Ahnung, Sonja war genauso aufgedonnert. Sie trug irgendein enges schwarzes Kleid. Sie sah billig darin aus. Isabel erzählte mir, sie hätte noch was vor. Sie meinte, ich sollte mich beeilen, aber ich war noch nicht fertig. Ich meine, mein Gott, mit meiner Arbeit habe ich die Familie ernährt. Aber das wusste sie nie zu schätzen.«
»Lassen Sie mich raten. Sie haben sich mit ihr gestritten.«
Er nickte und kaute an seinem Mundwinkel. »Es war wirklich schlimm. Alle anderen haben sich verzogen. Ich nehme an, wir wurden ziemlich laut.«
»Ich muss Ihnen diese Frage stellen, Rudy. Haben Sie Isabel wehgetan?« Sie sah ihn abwartend an.
Er blieb abrupt stehen, riss die Augen auf und meinte mit sich überschlagender Stimme. »Nein, ich schwöre bei Gott, ich hätte ihr niemals etwas angetan. Das müssen Sie mir glauben. Zumindest hätte ich ihr nie so wehgetan, dass sie hinterher blaue Flecken gehabt hätte oder so.«
»Was soll das heißen?«, fragte Becca ihn.
Er zuckte unglücklich mit den Schultern, denn er hoffte offensichtlich, er müsse es ihr nicht erklären, aber sie blieb hart.
»Ich habe sie mit allen möglichen Schimpfwörtern belegt. Darauf bin ich bestimmt nicht stolz, okay? Inzwischen hatte ich sieben Jahre Zeit, um mir dafür in den Arsch zu treten.« Er raufte sich die Haare, biss die Zähne aufeinander und trat mit seinem Stiefel gegen einen Stein. »Dann habe ich sie einfach stehen lassen. Schließlich hatte sie noch etwas vor, und ich war ihr dabei nur im Weg. Ich habe mich nicht einmal mehr nach ihr umgedreht, sondern bin einfach alleine heimgegangen. Was für ein Arschloch ich war!«
Rudy ballte die Fäuste, brach in Schluchzen aus und fügte erstickt hinzu:
»A-an dem T-tag ist ihr etwas passiert, weil ich ein solches Arschloch war. Und d-das k-kann ich einfach nicht vergessen. E-es geht mir immer wieder durch den Kopf. Isabel kam nie mehr heim. S-sie …«
Bevor Becca die Bedeutung seiner Worte überdenken konnte, wandte Rudy sich ihr zu und streckte einen Finger in ihre Richtung aus. »I-ich m-muss Sie etwas fragen. Und Sie m-müssen mir eine Antwort geben, ja?« Ohne auf ihr Kopfnicken zu warten, fuhr er fort. »S-sie haben Victors und meine DNA genommen. Das war nicht nur für die Akten, oder? S-sie haben Sie gefunden, stimmt's? Sie haben Isabel gefunden.«
Ein dichter Strom von Tränen rann ihm über das Gesicht, und eine andere Art von Ärger wogte in ihm auf. Aggressiver als zuvor. Becca verlieh ihrer Stimme einen möglichst ruhigen Klang. Wenn sie sich jetzt nicht vorsah, flippte er wahrscheinlich völlig aus.
»Ich habe den offiziellen Bericht noch nicht bekommen. Ich brauchte Ihre DNA für einen Vergleich.«
»Was für einen Vergleich?«, fragte er sie rau und ballte abermals frustriert die Faust.
Aber Becca hatte keinen Zweifel daran, dass er bereits wusste, was die Antwort darauf war.
»Wo haben Sie sie gefunden?«, fragte er. »Bitte … ich muss es wissen. Sagen Sie mir, wo Sie Isabel gefunden haben. Und wie sie … g-gestorben ist.«
»Sie werden es bald erfahren. Versprochen.«
Seine Fragen überraschten sie. Falls er Isabel ermordet hatte, wüsste er, wie sie gestorben und wo ihre Leiche all die Zeit versteckt war. Die beinahe wahnsinnige Verzweiflung in seinem Gesicht und ihr eigener zusammengezogener Magen überzeugten sie davon, dass Rudy Marquez entweder ein begnadeter Schauspieler war oder sie woanders suchen musste, damit sie den Mörder seiner Schwester fand.
Seine Verwirrung warf noch eine andere Frage auf. Falls Rudy keine Ahnung davon hatte, wo die Polizei Isabels Leiche gefunden hatte, musste es Victor gewesen sein, der am Morgen nach dem Brand vor dem Theater gestanden hatte. Aber woher hatte er gewusst, dass die Leiche seiner Schwester dort versteckt gewesen war? Plötzlich hatte sie es eilig. Sie musste Vater Victor finden.
Doch sie hatte das Gefühl, dass die Kooperationsbereitschaft seines kleinen Bruders nicht familientypisch war.
»Bitte treten Sie näher, Diego.« Hunter Cavanaugh saß hinter seinem Schreibtisch und winkte ihn herein. »Ich habe Sie schon eine ganze Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen. Unser letztes Treffen liegt bereits mehrere Tage zurück.«
»Ich hatte zu tun. Mr. Rivera hat mich in einer privaten Angelegenheit um Hilfe gebeten.«
Diego betrat den Raum und bemerkte erst, als er vor dem Schreibtisch stand, dass auch Brogan zugegen war. Der Mann stand an einem Fenster, hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und warf einen verächtlichen Blick über seine Schulter. Typisch Brogan, ging es Diego durch den Kopf. Ein selbstgefälliger, schwerfälliger Pit Bull, der seine Aggressivität und Dummheit hinter teurem Tuch verbarg.
»Eine private Angelegenheit. Klingt wichtig.« Lächelnd bedeutete Cavanaugh ihm, Platz zu nehmen. »Kann ich vielleicht irgendetwas tun? Ich helfe meinem Partner schließlich, wo ich kann.«
»Nein, aber danke für das Angebot. Ich werde Mr. Rivera Ihre Grüße ausrichten.« Diego knöpfte seine Anzugjacke auf, nahm vor dem Schreibtisch Platz und zwang sich zu einem nonchalanten Lächeln. Es kostete ihn Mühe, den höflichen Schein zu wahren, und durch die sich ausbreitende Stille wurde seine Anspannung verstärkt. »Sie sehen aus, als hätten Sie noch etwas zu sagen. Was geht Ihnen durch den Kopf, Mr. Cavanaugh?«
»Ah, Sie enttäuschen mich einfach nie, Diego. Stets direkt und auf den Punkt. Das gefällt mir.« Cavanaugh zog eine Braue hoch und faltete die Hände vor dem Bauch. »Wegen des Detectives, der mich gestern besucht hat …«
Diegos Herzschlag setzte aus. Das Letzte, was er wollte, war, dass Cavanaugh ein auch nur irgendwie geartetes Interesse an Rebecca entwickelte. »Was soll mit ihr sein?«
»Nun, was halten Sie von Ihr?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, gab er eilig zurück. »Haben Sie noch mal etwas von ihr gehört … wegen der Brandstiftung?«
»Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, war sie eines Mordfalls wegen hier. Haben Sie diese Kleinigkeit vielleicht vergessen?«
»Wahrscheinlich haben Sie recht.« Diego zuckte mit den Schultern und spitzte die Lippen. »Warum ist es Ihnen so wichtig, was ich für eine Meinung von dem Detective habe? Falls sie nicht noch mal zurückgekommen ist, um Sie weiterzubefragen, hat sie bei ihren Ermittlungen ja vielleicht inzwischen andere Wege eingeschlagen. Wahrscheinlich brauchen Sie sich gar keine Gedanken mehr über sie zu machen.«
»Mein lieber Junge, das brauche ich so oder so nicht zu tun.« Cavanaugh lehnte sich lächelnd in seinem Ledersessel zurück. »Vielleicht haben Sie recht. Dieser Detective spielt nicht die geringste Rolle … mehr.«
Diego kniff die Augen zusammen, denn ihm war nicht klar, was diese Worte zu bedeuten hatten, egal durch welche Reaktion, er sandte vielleicht die falschen Signale aus.
»Ist das alles, Mr. Cavanaugh?« Er stand wieder auf und knöpfte seine Jacke zu.
Sofort kam Brogan näher und baute sich direkt hinter dem Sessel seines Bosses auf.
»Auch wenn es Ihnen vielleicht schwer fällt, das zu glauben, Diego, habe ich trotz der Differenzen, die wir beide immer einmal wieder in den letzten Jahren hatten, im Verlauf unserer Zusammenarbeit Ihre Loyalität durchaus zu schätzen gelernt. Außerdem sind Sie bewundernswert diskret, und die Art, wie Sie sich um die Belange Ihres Arbeitgebers kümmern, ist geradezu beneidenswert. Sie haben sich meinen Respekt verdient.«
Brogan fuhr zusammen und lenkte seinen Blick auf Cavanaugh. Er hatte keine Ahnung, was sein Boss als Nächstes sagen würde. Beinahe hätte Diego laut gelacht. Bei einem Pokerspiel war es nicht schlecht, wenn man unergründlich war. Ein unwillkürliches Zucken oder auch ein leichtes Blinzeln war etwas, wodurch ein Spieler sich verriet. Cavanaugh verriet sich durch Matt Brogan. Diego fragte sich, ob ihm diese Schwäche bereits aufgefallen war.
»Sie dachten, ich hätte einen Todeswunsch. Wenn ich mich recht entsinne, wären Sie eventuell bereit, ihn mir zu erfüllen. Das klingt für mich nicht gerade nach Bewunderung«, gab er geschickt zurück.
»Da … sehen Sie, Mr. Brogan? Er sagt immer, was er denkt. Ebenfalls eine bewundernswerte Eigenschaft.« Cavanaugh lachte begeistert auf. »Nein, Sie sind viel zu unterhaltsam, Diego. Wenn ich Sie umbringen würde, wäre die Kugel hoffnungslos vergeudet. Es gibt nicht viele Leute, über die ich so was sagen kann.«
»Verstehe«, antwortete Diego. Ihm war klar, dass Brogan keinen Ton von den letzten Sätzen des Gesprächs verstanden hatte. Er wirkte immer noch verwirrt. Cavanaugh hingegen grinste wie das personifizierte Selbstvertrauen.
»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, Diego. Ich werde Ihnen die Sache heute beim Abendessen erklären, falls Ihnen das zeitlich passt. Aber glauben Sie mir, es wird sich durchaus für Sie lohnen. Ich schicke Ihnen um acht eine Limousine. Erwarten Sie sie bitte vor dem Haus.«
»Ehrlich gesagt würde ich lieber selber fahren. Wo geht es denn hin?«
»Ich fürchte, dass das Ziel ein Teil der Überraschung ist.« Cavanaughs Gesicht blieb hart und unergründlich, er fügte noch hinzu: »Ich gehe keine Kompromisse ein.«
»Wir fahren nicht zusammen?«
»Nein, tut mir leid. Ich habe vor unserer kleinen Verabredung noch einen anderen geschäftlichen Termin.« Er beugte sich in seinem Ledersessel vor und sah Diego aus seinen kalten blauen Augen an. »Kommen Sie. Finden Sie heraus, was all diese Geheimniskrämerei zu bedeuten hat.«
Diego starrte sein Gegenüber an. Er suchte in seinem Gesicht etwas, was er dort niemals finden würde – einen Hauch von Ehrlichkeit. Doch um der verschwundenen Mädchen willen blieb ihm keine andere Wahl. »Mit Vergnügen. Sie können auf mich zählen.«
Endlich setzte auch Matt Brogan ein zufriedenes Lächeln auf.